Die Aussagen «Wir sind so speziell» oder auch «Unsere Branche, Herr Quelle, ist ja so speziell» habe ich unzählige Male gehört. Gerne auch verbunden mit der Frage: «Welche Expertise haben Sie denn in unserer speziellen Branche?» Natürlich ist jedes Unternehmen auf seine Art besonders und natürlich hat jede Branche ihre Besonderheiten, Eigenheiten, Gepflogenheiten. Die Besonderheiten eines Unternehmens gilt es ja auch herauszustellen, aber gegenüber der Kundschaft, nicht anderen Dritten. Und es müssen die Produkt- und Dienstleistungsvorteile herausgearbeitet werden, nicht die vermeintlichen Besonderheiten der internen Art und Weise der Leistungserstellung sowie der Beziehungen im unternehmensweiten Netzwerk der Stakeholder. Nein, die Annahme, das Unternehmen oder die Branche sei so «speziell», ist eher ein Wachstumshindernis als ein wachstumsförderndes Element. Wir können in diesem Beitrag nicht alle Gründe für das Vorbringen dieser Annahme herausfinden, wollen aber einigen vermuteten Ursachen nachgehen.
Die Betonung des Besonderen vermittelt Komplexität und Kompliziertheit
Zunächst ist die Betonung des Besonderen zu bemerken. Man will nicht im Einerlei versinken und macht dem unbedarften Dritten klar, dass das Unternehmen eben kein Mitglied der grauen Masse ist, sondern sich sehr wohl durch zahlreiche Besonderheiten hervorhebt.
Unglücklicherweise geschieht dieses Hervorheben oftmals durch Betonung von Kompliziertheit: Bestimmte Abläufe sind besonders kompliziert, bestimmte Produktionsverfahren sind besonders kompliziert, bestimmte Beziehungen zu Lieferanten, Genehmigungsbehörden, dem Gesetzgeber oder sonst wem sind besonders kompliziert. Der unbedarfte Dritte aber fragt sich: «Na und?» Warum also wird dies so betont? Will sich derjenige, der das Spezielle so hervorhebt, selbst erhöhen, weil er trotz all der Spezialitäten der Branche und des Unternehmens erfolgreich ist?
Sicher gibt es einige Menschen mit diesem Beweggrund, aber ich glaube, dass die meisten derjenigen, die das Spezielle derart betonen, wirklich daran glauben, was wiederum daran liegen mag, dass sie die ganzen Einzelheiten sehen, weil sie – vielleicht schon sehr, sehr lange – Teil des Systems sind. Viele von uns wissen aus eigener Erfahrung, dass sich mit zunehmender Zugehörigkeit zu einem Unternehmen immer mehr Einzelheiten, immer mehr Facetten auftun, welche geeignet sind, die Komplexität – oder besser: die Kompliziertheit – des Systems scheinbar grösser werden zu lassen.
Wenn ganze Branchen «speziell» sind
Es wird auch nicht besser, wenn gleich die gesamte Branche als besonders «speziell» betrachtet wird. Natürlich ist die Arzneimittelbranche, beispielsweise, «speziell», weil sie einer Vielzahl von regulatorischen und gesetzlichen Verpflichtungen nachkommen muss, aber warum muss das betont werden? Wie ist es mit der Rüstungsindustrie? Ist sie nicht auch speziell, da sie vom Gesetzgeber kontrolliert wird und erheblichen Handelseinschränkungen unterliegt? Oder wie steht es um Anlagenbauer?
Einmal ganz abgesehen von den komplizierten planerischen und baulichen Abläufen und von der Vielzahl der Abstimmungen, die stattgefunden haben müssen, bis eine Anlage steht, ist auch diese Branche von internationalen Gesetzgebungen betroffen, die sämtlich berücksichtigt werden müssen. Wie steht es um den technischen Handel, der Hunderttausend Artikel bevorratet oder beschaffbar halten muss? Oder – um einmal in der Dienstleistung zu verweilen – die Branche der Versicherungsmakler, welche nicht nur durch sich ständig ändernde rechtliche Gegebenheiten, sondern auch durch die enorme Zunahme von Versicherungsprodukten und Versicherungstarifen sowie die steigende Haftung und exponentiell zunehmende Weiterbildungsbedarfe gefordert ist? Der Einzelhandel, der sich den Konsumentenbedürfnissen im immer härter werdenden Wettbewerb stellen muss und stets mit der Industrie um das wettbewerbsfähigste Sortiment im Markt ringen muss, könnte ebenso bemüht werden, wie alle weiteren Branchen.