Den guten Rat, vor dem Durst zu trinken, könnte man noch ergänzen: Und stets genügend Wasser dabeihaben. So erinnere ich mich noch gut an eine Watzmannüberschreitung, bei der wir Hobby-Bergwanderer auf der Südspitze, dem dritten und letzten Gipfel, am heissesten Tag des Jahres frohen Mutes unsere Wasservorräte leerten, denn es war nun ja nur noch der Abstieg zu bewältigen. «Nur noch» war eine Unterschätzung der Lage und wir waren am Ende froh, den äusserst langen Abstieg in der sengenden Hitze gesund hinbekommen zu haben.
Es geht bei Prävention also auch um Puffer. Doch dazu später mehr. Wir können so vieles aus dem Sport (oder der Musikbranche) lernen. Warum tun wir das nicht? Vielleicht, weil im Sport zwischen Training und Wettkampf unterschieden wird und wir in unseren mittelständischen Unternehmen permanent auf «Wettkampf» stehen und uns gar keine Zeit mehr nehmen, zu trainieren? Das könnte eine Begründung sein. Als echter Grund geht das aber noch lange nicht durch.
Sich mit Strategie zu beschäftigen, ist keine Frage des Zeitbudgets
Vor dem Durst zu trinken, also, im auf die Wirtschaft übertragenen Sinne, vor der Not zu agieren, hat etwas mit Strategie zu tun, und die erfolgreichsten Unternehmen dieser Welt – gänzlich unabhängig von Grösse, Herkunft, Struktur, Branche – tun genau das: Sie trinken (erarbeiten und feilen an ihrer Strategie), bevor sie Durst (Handlungsnot durch wirtschaftliche Zwänge) haben. Prävention schlägt Reaktion. Handlung schlägt Ausrede.
Ausrede? Ja selbstverständlich, denn die meistgehörte Ausrede, sich nicht mit der Strategie des eigenen Unternehmens zu beschäftigen, ist «Wir haben keine Zeit». Falsch. Jeder von uns hat Zeit, nämlich 24 Stunden am Tag. Wir entscheiden, wie wir diese Zeit einsetzen. Sie wird nicht fremdbestimmt. Wir lassen zu, dass sie fremdbestimmt wird. Auch die verbesserte Version von «Wir haben keine Zeit» – sie lautet «Wir haben keine Zeit dafür» – bedeutet nichts anderes, als dass man sich entschieden hat, die Zeit für andere Dinge einzusetzen als für das Angehen strategischer Fragen.
Warum dies so ist, mag man sich fragen, und wie immer im unternehmerischen Zusammenhang ist die Antwort vielschichtig. Wenn wir einen kurzen Erklärungsansatz wagen, kommen wir rasch zum Faktor «Belohnung»: Wenn ich mich mit dem operativen Geschäft beschäftige, mit dem Gewinnen neuer Kunden, mit dem Beheben eines Störfalls in der Produktion, mit der Verbesserung der Einkaufsbedingungen, mit der Abarbeitung der auf dem Schreibtisch liegenden oder im E-Mail-Postfach befindlichen Bewerbungen, werde ich belohnt.
Ich erhalte unmittelbares Feedback. Der Kunde kauft oder er kauft nicht, der Störfall wird behoben, oder es tut sich ein neues Problem auf, der Lieferant gibt noch ein paar Punkte oder Naturalrabatt obendrauf, vielleicht finde ich sogar einen neuen Mitarbeiter in den Bewerbungen. Egal, ob die Antwort positiv oder negativ ist: Ich erhalte eine Antwort. Das ist bei der Erarbeitung einer Strategie nicht der Fall. Die Antwort kommt viel später und sie ist meist nicht zurückzuverfolgen auf eine singuläre Massnahme. Ein weiterer Grund: Das Wort «Strategie» ist im Mittelstand immer noch verbrannt. Zwar wird es Schritt für Schritt salonfähiger, dass man sich mit strategisch-konzeptionellen Fragen beschäftigt, aber so richtig hat sich «Strategie» noch nicht durchgesetzt.
Insbesondere in patriarchalisch geführten Unternehmen gilt: Ärmel hoch und los. «Wir brauchen keine Strategie, wir brauchen neue Kunden und mehr Umsatz.» – «Jawohl, Chef.» Wenn dann noch externe Berater ins Spiel kommen sollen, ist es noch schwieriger, ist diese meine Branche doch auch nicht ganz unverantwortlich dafür, dass «Strategie» noch mit dem Malen bunter Bilder und dem buchstäblichen Herauswerfen sauer verdienten Geldes verbunden wird. Wer Berater beauftragt, hat es allein nicht geschafft, eine klare Schwäche. Schade, eigentlich. Insbesondere ist es deswegen schade, weil es ja gänzlich anders geht.