Strategie & Management

Unternehmenskultur

Querdenker-Strategien als nachhaltige Innovationstreiber

Viele Firmen nennen sich «innovativ». In etlichen Unternehmen dürfte Innovation sogar als Markenkernwert definiert sein. Kaum eine Führungskraft wird bestreiten, dass Innovation nicht nur eine hohe Priorität hat, sondern überlebenswichtig ist. Entscheidend ist langfristig allerdings die Kultur einer Firma. Und der Weg zu einer innovativen Kultur ist nicht eben.
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Aktuelle Untersuchungen weisen aus, dass mindestens 80 Prozent des BIP-Wachstums auf Innovationen zurückgeführt werden können. Deutlicher könnten Wichtigkeit und Notwendigkeit kaum belegt werden. Noch im Jahr 2012 führte das Innovationsranking Schweiz der Hochschule St.Gallen fast ausschliesslich langjährige SMI-Unternehmen in den Top Ten der innovativsten Schweizer Unternehmen auf.  In neueren globalen Studien tauchen neben einigen Medtechfirmen und Pharmariesen die inzwischen üblichen Verdächtigen Apple, Google und Samsung auf. Danach folgen mit Tesla, Facebook oder Amazon eher neuere Firmen mit eher neueren Technologien. Eine Rangliste mit den 50 «smartesten» Unternehmen der Welt von Bizblock, gerade keinem traditionellen Medium, führt auf dem Podest Tesla, Xiaomi und Illumina, danach folgen Alibaba und Counsyl – also eher Firmen, die der breiten Öffentlichkeit weniger bekannt sein dürften.

Notwendigkeit der Erneuerung

Nimmt man zusätzlich für nachhaltig erfolgreiche Innovation auf Firmenebene den Massstab von 50 Prozent des Umsatzes für Produkte, die es vor fünf Jahren noch nicht gab, wird es bei vielen gestandenen Unternehmen ernst.

Es gibt vermutlich auch ganze Industrien, die kurz vor einer disruptiven Entwicklung stehen. Beispiele wie Uber (Transporte) oder Airbnb (Beherbergung) zeigen nicht nur, wie schnell das gehen kann, sondern auch, wie nationale Behörden mit den neuen globalisierten Geschäfts-, Steuer- und Abrechnungsmodellen kaum Schritt halten können.

Betrachtet man nur schon Grösse und Marktmacht einiger dieser Firmen, sollte das zum Nachdenken anregen: Airbnb als inzwischen weltgrösster Beherbergungsanbieter hat kein Grundeigentum. Der grösste Medienanbieter der Welt, Facebook, kreiert keine Inhalte. Uber, das grösste globale Taxiunternehmen, hat keine eigenen Fahrzeuge. Der universell führende Händler Alibaba hat kein eigenes Lager. Die Liste liesse sich fortsetzen.

Berücksichtigt man weiter die Tatsache, dass noch vor 50 Jahren die grossen Firmen bis zu drei Mal länger in den Börsenindizes gelistet waren, wird es für einige Firmen und Branchen recht bald akut werden, umzudenken.

Nicht nur Digitalisierung

Das soll nicht heissen, dass traditionelle Firmen keine oder wenig Innovationen hervorbringen oder in bestimmten Bereichen nicht auch sehr innovativ agieren. Doch bei sinkenden Produktlebenszyklen, globalisierten und zunehmend digitalisierten Märkten und täglich neuen Applikationen reicht das vielfach nicht mehr. Selbstverständlich heisst Innovation nicht nur Digitalisierung. Gerade wer schlechte Dienstleistungen oder Prozesse digitalisiert, kriegt zunächst einmal nur schlechte digitalisierte Dienstleistungen oder Prozesse.

Allerdings wird aber Innovation offenbar grundsätzlich eher neuen, frischen Firmen zugeschrieben, die meist einen Bezug zur Digitalisierung haben. Diese haben natürlich den Vorteil neuer Produkte und/oder neuer Technologien, welche grundsätzlich spannend(er) wirken. Zudem können diese Firmen Prozesse und Kulturen neu erfinden und müssen keine langwierigen und schmerzhaften Veränderungsprozesse durch ihre Konzerne pauken. Und auch wenn viele dieser neuen Ideen durchaus ihren Reiz haben: Es gibt kein Gesetz, dass alle diese Start-ups nachhaltig erfolgreich sein werden.

Zudem werden einige traditionelle Konzerne über kurz oder lang (mit kleineren oder auch grösseren Kraftanstrengungen) in der Lage sein, zurückzuschlagen. So mochte es zunächst überraschen, dass einer BCG-Studie von Ende 2016 zufolge bei den innovativsten Unternehmen der Welt mit Daimler und BMW zwei deutsche Autobauer unter den ersten 20 genannt wurden. Kaum vorstellbar, dass bei einer Befragung von 15- bis 35-Jährigen zum Thema Innovation diese Firmen überhaupt signifikant erscheinen würden. Betrachtet man allerdings das Tempo, die Marketingmacht, die relativen Erfolge sowie die Zukunftsvision ihrer neuen E-Fahrzeug-Serien, muss man mittelfristig wohl keine Angst um diese beiden Firmen haben.

Vielfalt und Führungsstil

Wodurch sich die neuen und trendigen Firmen von den traditionellen Unternehmen allerdings am meisten unterscheiden, ist in Kultur und Führungsstil. Die Schwierigkeit daran ist, dass sich das Führungskräfte nur selten eingestehen würden. Ausserdem ist es erfahrungsgemäss schwieriger, aus gewohnten Bahnen auszubrechen, wenn alle beteiligten Personen bereits seit Jahrzehnten in einer gleichen oder ähnlichen Kultur mit den gleichen oder ähnlichen Annahmen agieren. Soziale Gemeinschaften neigen zu Gruppendenken.

Eine Möglichkeit zum Ausbruch aus dieser Branchen- und Betriebsblindheit heisst Vielfalt («Diversity» im originellen, im deutschsprachigen Raum aber oftmals falsch umgesetzten Sinn). Bereits mehrfach konnte ein Zusammenhang zwischen Vielfalt und überdurchschnittlichem Wachstum, Wandel und Innovation belegt werden. Eine Vielfalt führt direkt zu mehr und fundierteren Meinungen sowie präziserer Arbeit, was wiederum zu mehr Erfolg führt.

Optimale Vielfalt kann allerdings nicht verordnet oder durch Quoten erreicht werden. Erstens gibt das der Markt nicht in jedem Fall und zeitgerecht her und zweitens würde eine klare Regelung die Vielfalt einschränken und wäre somit ein Widerspruch in sich selber. Zudem möchte kaum jemand der «junge Quoten-Asiat» in einem internationalen Team sein.

Bei Facebook beispielsweise gibt es Anstellungen, bei denen das genaue Aufgabenprofil erst nach Vertragsunterschrift definiert wird. Wichtig sind die Persönlichkeit und Vielfalt – so wie eben Kunden auch vielfältig sind.

Eine andere, ergänzende Strategie würde durch Zulassung einer konstruktiven Nichtkonformität umgesetzt: «Let your workers rebel!», hat Harvard-Professorin Francesca Gino in der Harvard Business Review kürzlich gefordert. Dieser interessante Aufsatz soll im Folgenden kurz vorgestellt sowie auf Neuigkeit, Anwendbarkeit und Zweckmässigkeit in der Schweiz diskutiert werden.

Francesca Gino bedient sich bekannter Studien, wonach Gruppendenken die Herausforderung ist und dass Gruppendruck natürlich Konformität auslöst. Daraus folgt dann direkt das noch grössere Problem, dass Menschen in dieser Umgebung bequem werden sowie Entscheidungen bevorzugen, welche den Fortgang des Bekannten und Bestehenden sichern. Automatisch werden auch Informationen priorisiert, die dem vertrauten Weltbild entsprechen. Das alles wirkt sich verheerend auf Innovation und Anpassungsnotwendigkeit aus.

Sechs Querdenker-Strategien

Was sind denn die Stellhebel, welche Gino zufolge den modernen Führungskräften helfen, konstruktive Nichtkonformität in ihren Verantwortungsbereichen und bei ihnen selber zu erreichen?

Authentisch bleiben

Erstens fordert sie, den Mitarbeitenden zu ermöglichen, sich selber zu sein. Das klingt einfach und selbstverständlich, ist es jedoch nicht. Studien bei Einstellungen haben gezeigt, dass Personen, die authentisch sagen mussten, wer sie sind, was sie können und wie sie sich einbringen würden, und das dann beispielsweise im Kundenservice auch umsetzen konnten (ohne auf die strikten Firmenleitlinien zu schauen), viel engagierter zu Werk gingen. Sie agierten erfolgreicher als Kollegen, die durch die üblichen Schemas und Prozesse «gejagt» wurden.

Es geht darum, zu sagen, was gemacht werden muss, und nicht wie es gemacht werden muss. Mitarbeitende sollen Probleme wenn immer möglich selber und auf ihre Art lösen. Dies erinnert stark an die Führungsphilosophien des vermutlich erfolgreichsten deutschen Wirtschaftsautors Reinhold Sprenger: «Führung durch Vertrauen».

Es handelt sich dabei um eine Herausforderung, mit welcher man zum Beispiel in der Kindererziehung tagtäglich konfrontiert ist, die im Berufsleben aber so viel Mühe macht. Weshalb nur? Mitarbeitende, die Häuser und Autos kaufen, heiraten, Kinder auf die Welt setzen und fünf Mal im Jahr wählen und über teilweise sehr komplexe Themen abstimmen, sollen in der Firma nicht in der Lage sein, kleinste Entscheidungen alleine zu treffen?

Stärken selbst identifizieren

Zweitens geht es Gino darum, dass Mitarbeitende ihre unverkennbaren Stärken selbst identifizieren. Das alleine löst einen psychologischen Schub aus. Wenn es gelingt, diese Stärken auch im Berufsleben anwenden zu können, starten entsprechende Leute durch. Facebook arbeitet bereits nach diesem Prinzip: Jobs werden anhand der Stärken von guten Leuten definiert. Im deutschsprachigen Raum ist es eher verpönt, eine Organisation um eine Person herum zu bauen. Das ist damit auch nicht gemeint. Es geht um die Stärken dieser Person, nicht um die Person selber.

Laufend hinterfragen

Drittens soll der Status quo laufend hinterfragt werden, durch sich selber und durch die Mitarbeitenden. Fragen wie z.B. «weshalb?» oder «was wäre, wenn?» helfen, engagiert zu bleiben sowie das bestehende Geschäftsmodell zumindest inhaltlich laufend zu verjüngen. Keine Firma ist perfekt. Das muss und darf sich auch ein Geschäftsführer eingestehen und zulassen. Selbstverständlich muss man die Firma und die Abläufe immer besser kennenlernen. Das ist die Basis, um Verbesserung anzustreben. Doch nichts ist für ewig.

Erfahrungen kreieren

Viertens ist Gino der Ansicht, dass herausfordernde Erfahrungen kreiert werden sollten. Stichworte wie Job-Rotation oder maximale Vielfalt der Aufgaben sind damit gemeint. Untersuchungen zeigen, dass dadurch die Produktivität steigt. Zudem nimmt auch das Verständnis für andere zu, die Sicht auf das Gesamte wird grösser und man wird kreativer. Selbstverständlich mögen das nicht alle Mitarbeitenden. Mag es bei dem einen Bequemlichkeit sein, ist es bei der nächsten eventuell die Angst vor Transparenz der eigenen Leistung.

Der Zugewinn ist allerdings für alle Beteiligten viel grösser als die möglichen Nachteile. Neuheiten sind grundsätzlich attraktiv. Inzwischen gibt es sogar Vorgesetzte, die Aufgaben für den Arbeitstag erst am Morgen zuteilen. Andere ändern regelmässig Prozesse fast nur der Änderung wegen, zum Beispiel Zielzeiten oder auch -mengen.

Zudem müssen Mitarbeitende für ihre Arbeiten – und hoffentlich vielen Entscheidungen – verantwortlich und rechenschaftspflichtig sein. Bei Morningstar, einem Finanzinformations-Institut, sind die Hierarchien so flach, dass jeder Mitarbeiter das Recht hat, Material für seine Bedürfnisse direkt selber zu beschaffen, auch wenn es Tausende von Dollars kostet. Man stelle sich das in einer typischen Schweizer Firma vor, mit Anträgen über Vorgesetzte, die Einkaufsabteilung und die Buchhaltung, mit mehreren Kontrollen sowie Unterschriften bei Bestellung, Lieferung und Verbuchung.

Verschiedene Perspektiven zulassen

Fünftens sollen breitere Perspektiven gefördert werden. Es ist wichtig, dass Mitarbeitende Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Dazu ist es hilfreich, wenn vielfältig rekrutiert wird, damit Teams immer mit verschiedenen Perspektiven bestückt sind. Das bezieht sich auf Fähigkeiten, Fertigkeiten, Branchenkenntnisse und soziale Merkmale.

Lustigerweise wagen das in der Schweiz einige wenige SMI-Firmen in Top-Management und Verwaltungsrat. Schaut man genauer hin, sind dann allerdings Parteizugehörigkeit, politscher Nutzen oder vor allem eine persönliche Bekanntschaft die ausschlaggebenden Motive, sicher nicht die Vielfalt oder zusätzliche Perspektiven. Und wie sieht es im Mittelbau aus? Da sind Einstellungen von branchenfremden Fach- oder Führungskräften beinahe undenkbar. Dabei könnten Unternehmen nur schon mit diesem kleinen Schritt mindestens die Hälfte der Kosten ihrer teuren Diversity-Programme auf sinnvollere Tätigkeiten – wie zum Beispiel Innovationen – umlenken.

Abweichungen fördern und fordern

Sechstens sollen abweichende Stimmen gefördert sowie eingefordert werden. Francesco Gino zufolge sollten Vorgesetzte nicht danach fragen, wer mit einer bestimmten Anweisung oder Aussage einverstanden ist. Eher, was im bestehenden Setting noch fehle oder ob jemand das Gefühl habe, der eingeschlagene Weg sei nicht der richtige. Dies kann auch bewusst gesteuert geschehen, indem vorgängig jemandem die Aufgabe zugetragen wird, gegenteilige Ansichten zu suchen und zu vertreten. Dazu müssen mutige Freiwillige gefunden werden. Der Mensch ist ein Herdentier: Einer nach dem anderen wird sich diesen Mut ebenfalls aneignen. Ginos Ansätze sind weder neu, noch bahnbrechend. Eher hält man auf den ersten Blick einiges für selbstverständlich.

Langfristig und nachhaltig

Doch umgesetzt oder in der Firmenkultur eingebunden sind diese Ideen bei den wenigsten Unternehmen. Es geht auch nicht darum, alle sechs Strategien per sofort und radikal umzusetzen. Hingegen könnten Überlegungen und Diskussionen zum einen oder anderen Punkt schon erste Schritte hin zu einer innovativeren Kultur sein. Wie die Chinesen so schön sagen: Jede Reise beginnt mit einem ersten Schritt.  Die Schweizer Kultur ist eher auf Konsens und Sicherheitsdenken, also auf Risikoaversion, ausgerichtet. Doch gerade die exportorientierten Unternehmen (und hier vor allem die KMU) haben es immer verstanden, sich schnell an wechselnde Bedingungen anzupassen. Die zunehmende Globalisierung und Digitalisierung verlangen innovativere Vorgehensweisen. Das mag kurzfristig mit tollen neuen Produkten und Dienstleistungen zu befriedigen sein, langfristig und nachhaltig hingegen nur mit der entsprechenden Firmenkultur.

 

Quellenhinweise

Brownstone, Doug (2016). Creativity. Seminar Slides. New Brunswick: Rutgers Executive Education.

Frik, Silvan (2017). «Erfolgreiche Implementierung und Steuerung von Vielfalt», in: KMU-Magazin, Ausgabe März 2017, S. 18–21.

Gino, Francesca (2016). Let Your Workers Rebel, in: Harvard Business Review, Nr. 10/16.

Philipps, Katherine W. (2014). How Diversity Makes Us Smarter, in: Scientific American.

Sprenger, Reinhold (2012). Radikal führen. Frankfurt: Campus.