Strategie & Management

Digital Leadership

Personalentwicklung und -führung im digitalen Zeitalter

Traditionelle Personal- und Führungskräfteentwicklungskonzepte entsprechen nicht mehr den Erfordernissen der digitalen Welt. Eine strategische, also langfristig orientierte Personalplanung und -entwicklung ist kaum noch möglich, zudem brauchen Mitarbeiter im digitalen Zeitalter neue Kompetenzen.
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«Digital Leadership», «Digital Leader» – seit zwei, drei Jahren geistern diese Begriffe durch die Managementdiskussion. Und immer mehr Seminare und Trainings zu diesem Thema werden angeboten; auch die Zahl der Bücher und Artikel steigt.

Am Scheideweg

Als Gründe, warum die tradierten Personalentwicklungskonzepte zunehmend auf dem Prüfstand stehen, werden oft genannt:

  • Eine so langfristig orientierte Personalentwicklung (und -planung) wie in der Vergangenheit ist in der Vuca-Welt (kurz für volatility, uncertainty, complexity, ambiguity) nicht mehr möglich, weil sich – aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung und rasanten Änderung der Kundenwünsche – neben den Strategien der Unternehmen auch deren Art, Aufgaben anzugehen und zu lösen, immer rascher ändert. Deshalb wissen die Unternehmen heute noch nicht, welche Kompetenzen sie und ihre Mitarbeiter in den nächsten Jahren brauchen.
  • Der Veränderungsbedarf und somit Lernbedarf ist in den Unternehmen heute oft so gross und dringlich, dass er zentral, also z. B. von den Personalabteilungen, nicht mehr erfasst und in der erforderlichen kurzen Zeit mit zentral organisierten Personalentwicklungsmassnahmen befriedigt werden kann.

Der Qualifizierungsbedarf der Mitarbeiter ist in der digitalen Welt – unter anderem aufgrund ihrer unterschiedlichen Funktion in den Unternehmen, ihrer beruflichen Biografie und der Herausforderungen, vor denen sie im Arbeitsalltag stehen – so verschieden, dass er mit zentral und top-down organisierten Entwicklungsmassnahmen immer weniger befriedigt werden kann.

Personaler werden Dienstleister

Daraus zogen viele Unternehmen bereits folgende Schlüsse:

  • Die Verantwortung für die Personal-entwicklung muss sich stärker auf die operative Ebene (also Bereichs-, Abteilungs-, Teamebene) verlagern.
  • Die Personalentwicklung muss sich stärker am individuellen Bedarf der Mitarbeiter und den Herausforderungen, vor denen sie aktuell bei ihrer Arbeit stehen, orientieren.
  • Die Mitarbeiter müssen mehr Eigen-verantwortung für ihre persönliche Weiterentwicklung und dafür, dass sie kurz-, mittel- und langfristig über die benötigte Kompetenz verfügen, zeigen (Stichwort: Employability). Und:
  • Die Führungskräfte müssen ihre Mit-arbeiter beim Entwickeln ihrer Kompetenz unterstützen und begleiten.

Dadurch verändert sich auch die Funktion der Personalentwicklungsabteilungen in den Unternehmen. In der Vergangenheit war eine ihrer Kernaufgaben, ausgehend von den strategischen Zielen des Unternehmens den kurz-, mittel- und langfristigen Qualifikationsbedarf in der Organisation zu erfassen und über zentral geplante und gesteuerte Massnahmen das Gap zwischen benötigter und vorhandener Qualifikation zu schliessen.

In der Vuca-Welt verschiebt sich ihre Funktion zunehmend in die Richtung, sozusagen ein Kompetenzentwicklungs-Dienstleister für die Führungskräfte und Mitarbeiter zu sein und diese bei der weitgehend selbst geplanten und gesteuerten Kompetenzentwicklung zu unterstützen.

Ausserdem ist und bleibt es ihre Aufgabe, bei der Kompetenzentwicklung in der Organisation für ein gewisses Alignment zu sorgen, damit kein Wildwuchs entsteht – also die Kompetenzentwicklung so weit zu koordinieren, dass z. B. die Führungskräfte weitgehend dasselbe Führungsverständnis haben. Oder die Projektmanager und Mitarbeiter bei ihrer Arbeit, soweit nötig, dieselben Methoden und Tools verwenden, damit eine effektive Zusammenarbeit möglich ist.

Diese Dienstleister-Rolle zu akzeptieren, fällt mancher Personalentwicklungsabteilung, die sich in der Vergangenheit primär als strategischer Partner der Unternehmensleitung verstand, schwer – auch weil damit nach Auffassung vieler Personalentwickler ein Bedeutungsverlust einhergeht. Zudem bedeutet dieser Funktionswandel: Die Personalentwickler müssen sich stärker als früher auf die Shopfloor-Ebene, also an den Ort des Geschehens, begeben und sich mit den operativen Prozessen auf der Bereichs-, Abteilungs- und Teamebene befassen.

Zum (Digital) Leader werden

Doch auch die Funktion von Führung wandelt sich – unter anderem, weil heute in den meisten Unternehmen zumindest deren Kernleistungen in bereichs- sowie hierarchie- und oft sogar unternehmensübergreifender Team- und Projektarbeit erbracht werden. Das heisst: Die Bereichs- und Abteilungsgrenzen werden zumindest in den Grossunternehmen zwar nicht aufgelöst, sie werden aber durchlässiger und verlieren an Bedeutung (ähnlich wie die nationalen Grenzen der EU-Staaten im Schengen-Raum). Für die Führungskräfte heisst dies: Sie müssen zunehmend in vernetzten Strukturen denken; sie müssen zudem gute Netzwerker sein – unter anderem damit sie bereichsübergreifend im Dialog mit ihren Kollegen die Arbeitsstrukturen und -beziehungen so gestalten können, dass die (Bereichs-)Ziele erreicht werden.

Der zentrale Treiber dieser Entwicklung ist die Informationstechnologie. Sie ermöglicht nicht nur neue Formen der Zusammenarbeit und Problemlösung, sondern durchzieht heute auch die meisten Unternehmen ähnlich wie das Nervensystem den menschlichen Körper. Das bedeutet für die Führungskräfte: Sie müssen künftig stärker in digitalen Zusammenhängen denken und einschätzen können, was aktuell und in naher Zukunft technologisch möglich und sinnvoll ist. Zugleich wird es verstärkt ihre Aufgabe, ihren Mitarbeitern vor Augen zu führen, welche Herausforderungen und Chancen sich hieraus ergeben; des Weiteren sie dazu zu ermutigen, diese aktiv anzugehen beziehungsweise zu nutzen.

Das setzt voraus, dass die Führungskräfte selbst für Neues offen sind und auch bereit sind, ihre eigenen Denk- und Verhaltensgewohnheiten zu hinterfragen. Aus­serdem müssen sie sich eingestehen, dass sie in der Vuca-Welt (allein) oft nicht über das erforderliche Wissen, Können und Know-how verfügen, um eine adäquate Lösung zu entwerfen. Also müssen sie offen sein für Rat und Unterstützung – sei es von Kollegen aus anderen Bereichen, externen Beratern oder Experten im eigenen Bereich, die bezogen auf die gerade aktuelle Herausforderung einen Know-how- oder Erfahrungs-Vorsprung haben.

Eine entsprechende Unterstützung müssen sie ihrerseits wiederum ihren Mitarbeitern gewähren – beim Lösen ihrer Aufgaben und beim Entwickeln ihrer Kompetenz. Verabschieden müssen sich die Digital Leader von morgen zudem von der Fiktion: Veränderungen sind in der Vuca-Welt langfristig und im Detail planbar.

In ihr gilt es, wenn grosse oder weitreichende Veränderungen anstehen oder langfristige (Entwicklungs-)Ziele erreicht werden sollen, vielmehr ähnlich wie beim klassischen Lean Management vorzugehen, das auf eine kontinuierliche Verbesserung abzielt: Also ausgehend von einer vorläufigen Planung die ersten Schritte tun. Danach evaluieren: «Erzielen wir durch die Massnahmen die gewünschte Wirkung, bewegen wir uns in die angestrebte Richtung?» Und dann abhängig vom Ergebnis den Kurs entweder korrigieren oder den eingeschlagenen Weg weitergehen.

Das setzt voraus, dass die Führungskräfte in einem regelmässigen, von wechselseitigem Vertrauen geprägten Meinungs- und Informationsaustausch mit ihren Mitarbeitern stehen und sie und ihre Mitarbeiter bereit sind, sich Fehlversuche einzugestehen.

Digital Leader sind Lean Leader

Einen solchen, von wechselseitigem Vertrauen, Kooperation auf Augenhöhe und regelmässiger (Selbst-)Reflexion geprägten Führungsstil praktizieren noch wenige Führungskräfte. Deshalb stellen zurzeit viele Unternehmen ihre Führungskräfteentwicklungskonzepte infrage und feilen an neuen Konzepten, wie ihre Führungs(nachwuchs)kräfte die Kompetenzen erwerben oder ausbauen können, die sie im digitalen Zeitalter brauchen. Dabei orientieren sie sich häufig am Lean- Leadership-Development-Modell.

Dieses Modell unterscheidet in der Kompetenzentwicklung von Führungskräften vier Stufen.

Stufe 1: Sich als Führungskraft selbst entwickeln.

Dahinter steckt die Annahme, dass in der Vuca-Welt eine Kernkompetenz von Führungskräften ist, das eigene Verhalten und Wirken zu reflektieren und die eigene Performance systematisch zu erhöhen.

Stufe 2: Andere Menschen coachen und entwickeln.

Die zweite Kompetenz-Stufe besteht in der Fähigkeit, als Führungskraft andere Personen so zu entwickeln, dass diese ihrerseits die Kompetenz erwerben, ihr Verhalten und ihr Wirken zu reflektieren und eigene Lernprozesse zu initiieren.

Stufe 3: Das tägliche Sich-Verbessern (Kaizen) unterstützen.

Hier geht es darum, Gruppen von Mitarbeitern (Teams, Abteilungen, Bereiche) in eine Richtung auszurichten und den kontinuierlichen Verbesserungsprozess zu sichern.

Stufe 4: Eine Vision schaffen und die Ziele abstimmen.

In die letzte Entwicklungsstufe ist idealerweise die gesamte Organisation involviert. Nun geht es darum, bereichs- und hierarchieübergreifend alle Aktivitäten so aufeinander abzustimmen, dass die übergeordneten Unternehmensziele erreicht werden, die Organisation für die Vuca-Welt gewappnet ist und eine High-Performance-Organisation ist und bleibt.

Die lernende Organisation

Von einer Führungskräfteentwicklung, die sich an diesem Kompetenz-Modell orientiert, versprechen sich die Unternehmen eine höhere Innovationskraft ihrer Organisation; ausserdem, dass sie sukzessiv zu einer Entlastung der Führungskräfte führt – und zwar in dem Masse, wie ihre Mitarbeiter die Kompetenz entwickeln, eigenständig ihr Verhalten und ihre Wirkung zu reflektieren und sich zu entwickeln. Insofern sehen die Unternehmen hierin auch eine Massnahme, um einem möglichen Burn-out ihrer Führungskräfte vorzubeugen.

Denn eine Fiktion wäre es, anzunehmen, dass der Veränderungsdruck, der auf den Unternehmen und somit ihren Mitarbeitern lastet, in den kommenden Jahren sinkt. Er wird weiter steigen. Also gilt es die Resilienz, sprich die Fähigkeit der Mitarbeiter, mit dem Druck umzugehen, zu erhöhen – jedoch nicht, indem ihnen wie in der Vergangenheit ein, zwei Stressmanagement-Seminare oder vergleichbare Work-Life-Balance-Angebote unterbreitet werden.

Ein solcher Ansatz greift zu kurz, das haben inzwischen viele Unternehmen erkannt. Zentrales Ziel muss es vielmehr sein, den Mitarbeitern das Bewusstsein zu vermitteln, dass die Notwendigkeit, regelmässig die eigenen Denk- und Handlungsmuster zu überdenken, ein integraler Bestandteil ihrer Arbeit in der Vuca-Welt ist; ausserdem ihnen das Selbstbewusstsein zu vermitteln «Irgendwie schaffe ich …» respektive «… schaffen wir das schon», so dass sie neue Herausforderungen selbstbewusst angehen und sich eigeninitiativ die hierfür nötigen Kompetenzen aneignen. Je mehr die Mitarbeiter hierzu bereit und fähig sind und sie eine gewisse Routine im eigenständigen Erkennen sowie Lösen von «Problemen» entwickelt haben, umso seltener müssen ihre Führungskräfte korrigierend, steuernd und unterstützend eingreifen. Das entlastet sie.

Und das Unternehmen? Es ist für das digitale Zeitalter und die Vuca-Welt gewappnet, da es sich zu einer lernenden Organisation entwickelt hat.

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