Strategie & Management

Corporate Governance

Mehr Ethik und weniger Compliance sind gefragt

Das wiederholte Fehlverhalten von Managern und Mitarbeitern führt in der Finanzindustrie zu einer stetig steigenden Regulierungsdichte. Die Banken und Versicherungen setzen zum Einhalten der Vorschriften auf immer grössere Compliance-Abteilungen. Die ethischen Grundwerte und der gesunde Menschenverstand bleiben dabei häufig auf der Strecke.
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Drei Jahre teilbedingte Freiheitsstrafe wegen ungetreuer Geschäftsführung lautet das mittlerweile rechtskräftige Strafurteil gegen Bernhard Liechti und Walter Bosch. Die beiden Ex-Verwaltungsräte des Krankenversicherers KPT haben in Eigenregie ein undurchsichtiges Mitarbeiter-Aktien-Programm ins Leben gerufen. Die Verurteilten wären um je 1,7 Millionen Franken reicher geworden und hätten damit zu den Hauptprofiteuren des Konstrukts gehört. Der frühere Immobilienchef der Suva wurde 2008 zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte einem Makler verschiedene Liegenschaften seiner Arbeitgeberin weit unter dem Marktwert verkauft. Im Gegenzug hat er vom Makler Bestechungsgelder kassiert.

Compliance hält Einzug

Der UBS-Börsenhändler Kweku Adoboli hat seiner Arbeitgeberin durch gigantische Fehlspekulationen einen Milliardenverlust beschert. Der Wertpapierhändler hat mit geheimen Konten gearbeitet und verschiedene Risikovorschriften der Bank missachtet. Er wurde dafür von einem englischen Gericht zu einer siebenjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Die Liste mit Personen, die beim Ausüben ihrer beruflichen Funktion gegen geltende Gesetze und unternehmensinterne Richtlinien verstossen haben, liesse sich beliebig verlängern. Den angerichteten Schaden tragen am Ende oft Eigentümer oder Kunden der betroffenen Unternehmen.

Es ist deshalb verständlich, dass Unternehmen bestrebt sind, gegenzusteuern. Seit einiger Zeit schaffen sie interne Stellen, deren einzige Aufgabe darin besteht, darauf zu achten, dass sich die Mitarbeiter an Gesetze, Standards und interne Richtlinien halten. Viele Unternehmen leisten sich also heute eine unternehmensinterne Polizei, die über das Verhalten der Mitarbeiter wacht. Dafür wurde aus dem angelsächsischen Raum der Begriff der «Compliance» importiert. Darunter wird im Allgemeinen das Handeln im Einklang mit den geltenden Gesetzen, Normen und Standards verstanden (englisch «to comply with»). Mittlerweile ist aus dieser Funktion eine eigene Managementdisziplin an der Schnittstelle zwischen Recht, Risikomanagement und Unternehmensführung entstanden. Die Skandale in der Finanzindustrie haben die Politik und die Regulatoren veranlasst, für diese Branche immer mehr und umfangreichere Vorschriften zu erlassen.

Vorschriftenflut

Während im Jahr 2009 sämtliche gültigen Rundschreiben der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (Finma) 779 Seiten umfassten, ist deren Umfang im Jahr 2015 bereits auf 1171 Seiten gewachsen. Tendenz steigend. Die beaufsichtigten Banken und Versicherungen reagieren darauf mit einem massiven Ausbau ihrer Compliance-Abteilungen. Dies bestätigen auf Anfrage auch verschiedene grosse Schweizer Banken und Versicherungen. Während sich früher meistens Rechtsabteilungen um das Einhalten rechtlicher Vorgaben gekümmert haben, bestehen heute in fast allen grösseren Finanzdienstleistern eigene, vom Rechtsdienst unabhängige Compliance-Abteilungen.

Die Finma verlangt in ihren neusten Vorgaben zur Corporate Governance für Versicherungen explizit die Einsetzung einer unabhängigen Compliance-Funktion, die uneingeschränkten Zugang zu allen Personen und Informationen im Unternehmen hat. Und wenn der Regulator Vorgaben macht, muss selbstverständlich geprüft werden, ob sie auch eingehalten werden. Hier kommen die in- und externen Revisionsstellen der beaufsichtigten Gesellschaften ins Spiel. Sie werden vermehrt mit der Aufgabe betraut, das Vorhandensein und die Wirksamkeit der eingerichteten Compliance-Stellen zu prüfen.

Was nicht dokumentiert ist, kann nicht geprüft werden. So sind die Compliance-Verantwortlichen angehalten, regelmäs­sig umfangreiche Berichte und Analysen für die Geschäftsleitung und das oberste Führungsorgan zu verfassen. Aus diesen Berichten werden weitere Massnahmen zur Verbesserung der Compliance abgeleitet, deren Umsetzung wiederum geprüft werden muss. Es entsteht ein Per-petuum mobile. Das Schweizer Jobportal «jobs.ch» liefert unter dem Stichwort «Compliance» rund 500 Stellenangebote. Es werden durchweg Personen mit hö­herem Abschluss gesucht, meist in betriebswirtschaftlicher oder juristischer Richtung. Diese Personen müssen ent­sprechend ausgebildet werden.

Wachsende Kosten

So sind in den letzten Jahren unzählige Ausbildungsmöglichkeiten für Compliance entstanden und die Anbieter buhlen mit ihren Angeboten um die Gunst der Compliance-Verantwortlichen. Compliance ist zu einer Industrie geworden. Gut ausgebildet und angetrieben von den Regulatoren entfalten die Compliance-Verantwortlichen in den Unternehmen dann ihre Wirkung. Über die Mitarbeiter bricht ein regelrechter Compliance-Tsunami herein. Bevor heute ein Bankberater das erste Mal einem Kunden gegenübersitzt, muss er sich durch einen kaum überblickbaren Papierberg aus Richtlinien und Vorschriften kämpfen. Ein solches «Startpaket» kann durchaus 100 Seiten umfassen. Selbstverständlich muss der Bankangestellte schriftlich bestätigen, dass er alles verstanden habe und sich in seiner Tätigkeit peinlich genau an die Vorgaben seines Arbeitgebers halten werde.

Doch damit nicht genug. Im Arbeitsalltag stehen regelmässige Trainings zum Auffrischen der bestehenden und zum Vermitteln neuer Vorschriften auf dem Plan. Die Grossbank UBS gibt in ihrem Jahresbericht an, im Jahr 2015 für ihre Mitarbeiter über 800 000 obligatorische Trainings in Compliance und im Risikomanagement durchgeführt zu haben. Dies entspricht ungefähr einem monatlichen Training pro Mitarbeiter. In so einem Umfeld bleibt wenig Platz für Selbstverantwortung und gesunden Menschenverstand. Diese Entwicklung verursacht vor allem eines: gigantische Kosten. Die Banken und Versicherungen wälzen diese Kosten auf ihre Privat- und Firmenkunden ab.

Die Regulierung wirkt sich auch auf die Beziehung zwischen den Kunden und den Finanzdienstleistern aus. In ihren AGB sichern sich die Banken und Versicherungen gegen alle nur denkbaren Rechtsrisiken ab. Schon für einfache Finanzgeschäfte hat ein KMU umfangreiche Vertragswerke und eine Fülle von Formularen zu unterzeichnen. Die Details derartiger Vereinbarungen verstehen häufig weder die Kunden noch die Vertreter der Bank.

Ethische Grundwerte vorleben

Es ist unklar, ob das eingangs beschriebene Fehlverhalten von Verwaltungsräten, Managern oder Mitarbeitern durch mehr Compliance-Anstrengungen ver-hindert worden wäre. Das gilt vor allem dann, wenn Vorschriften durch die obersten Organe selber missachtet wurden. Doch die immer wieder auftretenden Skandale zeigen, dass das System ernsthaft krank ist. Bisher wurde die Medikamentendosis für den Patienten in Form von immer mehr und umfangreicheren Regeln stetig erhöht. Doch wirkliche Besserung ist nicht in Sicht. Es drängt sich deshalb eine grundlegende Änderung der Therapie auf.

An die Stelle von immer mehr Vorschriften und Regelungen sollten wieder mehr ethische Grundwerte und gesunder Menschenverstand treten. Jeder Mitarbeiter muss wieder lernen, sich selbst zu fragen, ob sein Handeln oder eine bestimmte Geschäftspraktik ethischen Massstäben genügt. Eine solche Haltung muss in den Führungsetagen vorgelebt werden. Dazu gehören Tugenden wie Bescheidenheit und Selbstbeschränkung.

Das lässt sich anhand einfacher Fragen beantworten. Wie wirkt ein CEO auf seine Mitarbeiter, wenn er für sich den höchsten Lohn der Branche beansprucht? Welche Wirkung hat dagegen ein CEO, der im Branchenvergleich bewusst ein tieferes Salär verdient und seinen Job gleich gut macht? Wie finden wir bereits bei der Anstellung neuer Mitarbeiter heraus, welche Werthaltungen und ethischen Prinzipien sie mitbringen?

Es lohnt sich, über solche Fragen nachzudenken, insbesondere für Manager. Dabei geht es nicht in erster Linie um Moral, sondern vielmehr um eine systematische und ernsthafte Reflexion der eigenen Grundwerte und Verhaltensnormen. Das Pendel wird auch bei der Compliance wieder zurückschlagen. In welche Richtung liegt auf der Hand: mehr Ethik – weniger Compliance.

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