Strategie & Management

Nachhaltige Unternehmensentwicklung (Teil 2 von 3)

Innovative Lösungen durch das Verlassen bekannter Pfade

Allgegenwärtige Zielkonflikte erschweren es Unternehmen, tragfähige Strategien zu entwerfen. Oft fehlt es an angemessenen Denk- und Handlungsmustern, um konstruktiv mit solchen Situatio­nen umzugehen. Der Beitrag zeigt, wie etablierte und häufig gewählte, jedoch wenig zielführende Handlungsweisen künftig vermieden werden können. Zudem werden Pfadabhängigkeiten als Hindernis für eine nachhaltige Unternehmens­entwicklung beschrieben und aufgezeigt, wie innovative Prozesse Pfadabhängigkeiten unterbrechen können.
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Im ersten Teil des Beitrags («KMU-Magazin», Ausgabe 10/11) wurden Zielkonflikte, sogenannte «Dilemmata» oder «Trade-offs» als eine aktuelle Herausforderung in KMU aufgezeigt. Unternehmen und einzelne Mitarbeiter sollen gleichzeitig effizient und innovativ sein, kurzfristig Gewinn maximieren und langfristige Wettbewerbsvorteile aufbauen. Solche Ziele sind aber nicht einfach zu vereinen, denn sie stehen einerseits in Konflikt um die gleichen Ressourcen oder brauchen teilweise gegensätzliche Rahmenbedingungen. Andererseits sind sie aber auch gleich bedeutsam und können daher nicht generell vernachlässigt werden.

Ungelöste Herausforderung

In Unternehmen geht man von rational eindeutig lösbaren und strukturell beherrschbaren Zielkonflikten und Entscheidungen aus und versucht, diese anhand etablierter Handlungsmuster zu lösen. Dies führt zu keinen nachhaltigen Lösungen, sondern verlagert die Bearbeitung des Zielkonfliktes weiter in die Zukunft, wo sie schliesslich als krisenartige Ereignisse nicht mehr ignoriert werden können. Durch die entstandene Dringlichkeit werden Sie dann aber oft nicht mehr im Kern angepackt und gelöst. Traditionelle Handlungsmuster werden den zunehmend komplexen Herausforderungen mit unwägbaren Konsequenzen künftig also immer weniger gerecht.

Traditionelle Handlungsmuster

Trotz zahlreicher Zielkonflikte und der angeschnittenen Tiefe der Problematik müssen Unternehmen aktuell handlungsfähig sein und Individuen müssen kontinuierlich Entscheidungen treffen. Ein Umsteuern in der Handlungsweise kann daher nur schrittweise erfolgen und setzt in einem ersten Schritt bei der Reflexion der Art und Weise des Entscheidens und Handelns an. Typische bestehende Muster im Umgang mit Zielkonflikten, die es zu hinterfragen gilt, sind dabei:

Weitermachen wie bisher

Aus Mangel an verfügbaren oder angemessenen Handlungsoptionen werden die bisherigen Handlungsmuster oft einfach weitergeführt oder keine bewussten neuen Aktivitäten ergriffen. Bereits erzielte Erfolge scheinen dieses Festhalten an den Erfolgsrezepten der Vergangenheit zu rechtfertigen. Unerkannt bleibt, dass sie nicht mehr zu den neuen Herausforderungen passen, so dass neuartigen Erfolgen von vorneherein gar keine Chance gegeben wird. Beispielsweise verhindern traditionelle starre Organisationsstrukturen und Hierarchien die heute notwendige Generierung von Ideen in Unternehmen. Angemessener sind flexible, informelle Strukturen, welche den Mitarbeitern mehr Freiheiten für eigene Initiativen geben.

Solche Strukturen erscheinen weniger kontrollier- und beherrschbar, nicht zuletzt, da sie bislang als richtig anerkannte Verhaltensweisen widersprechen. Viele Unternehmen zögern daher, sie aufzugreifen und konsequent umzusetzen. Ähnliches gilt für Anreizsysteme, die in Form variabler Vergütung zwar für einfache Tätigkeiten hoch wirksam sein können, sich aber mit zunehmendem kognitiven Anspruch einer Aufgabe als Risiko für ihr Ergebnis erweisen. Eine Veränderung geht deshalb mit einer Anpassung der grundlegenden Annahmen über das Verhältnis von Unternehmensführung und Mitarbeitern einher.

Aktionismus

Alternativ werden Handlungen mit allen möglichen, oft dringend erscheinenden Beschäftigungen gewählt. Das operative Geschäft ist voller Aktivitäten, die den Alltag bestimmen. Wichtige Handlungen, welche grundlegende Überlegungen oder Veränderungen brauchen, und damit Konflikte nach sich ziehen, gelangen in die Randzeiten und werden vernachlässigt oder gar verdrängt. Das ist möglich, da hier kein unmittelbarer (heutiger) Handlungsbedarf besteht und die Konsequenzen erst mittelfristig spürbar sind. Gleichzeitig werden kurzfristige Erfolge erzielt, die einfacher abschätzbar sind und aktuell höher bewertet werden als nachhaltige Erfolge. Das zeigt sich nicht zuletzt in den Beförderungsmechanismen in unserer Gesellschaft, denn ein beruflicher Aufstieg hängt immer mehr von kurzfristigen Ergebnisnachweisen ab. Dies belegen zum Beispiel ein deutlich sinkendes Durchschnittsalter oder auch die durchschnittliche Verweildauer in Vorstandsfunktionen (Terpitz, 2011).

Ignorieren oder schönreden

Eine dritte Handlungsweise besteht darin, Zielkonflikte nicht oder nur unvollständig wahrzunehmen, oder die Unvereinbarkeit der gleichzeitigen Erreichbarkeit von Zielen zu negieren. In der Folge ist auch kein Handeln notwendig. Unser Gehirn konzentriert sich vorwiegend auf Sachverhalte, die bereits bekannt sind, und die sich in den bestehenden Kontext einordnen lassen. Was nicht vertraut ist, wird also gar nicht wahrgenommen (Wind, Crook & Gunther, 2005). Wie abhängig die Interpretation von Informationen vom Kontext ist, in welchem sie steht, zeigt Abbildung 1. Je nach Kontextinformation kann das Zeichen als Buchstabe «B» oder als Ziffer «13» interpretiert werden. Was wir bereits wissen oder in welchem Zusammenhang Informationen stehen, beeinflusst also die Wahrnehmung neuer Möglichkeiten. Und je vielfältiger, breiter und offener unser Wissen ist, umso mehr neue Impulse können wir erkennen und aufgreifen.

Dieser Effekt besteht auch auf Ebene der Gesamtorganisation: Die Vergangenheit ist in den bestehenden Managementtools der Beurteilung, des Controllings, der Marktbearbeitung und in weiteren Funktionen festgeschrieben und wird in einem sich ändernden Umfeld geführt. Gemäss dieser sogenannten «Pfadabhängigkeiten» (z.B. Sydow, Schreyögg & Koch, 2009) wird im Unternehmen gefördert, was schon bekannt ist, was der bisherigen Strategie entspricht, und was die bestehenden formellen und informellen, oft politi­schen (Macht-)strukturen aufrechterhält oder gar fördert. Bestehendes repliziert und legiti­miert sich dadurch selbst, Neues wird generell verhindert. Dies ist unter Umständen selbst dann der Fall, wenn sich die Sachlage grundlegend verändert hat und die bestehenden Strukturen und Mechanismen eigent­lich gar nicht mehr auf die aktuelle Situation passen oder sogar kontraproduktiv sind. Gerade Unternehmen, die in der Vergangenheit besonders erfolgreich waren, stehen sich so durch die Abhängigkeit von wenigen Optionen und Pfaden aus der Vergangenheit oft selbst im Weg.

Verantwortung verlagern

Eine ähnlich gelagerte Wirkung entsteht, wenn die Lösung von Zielkonflikten aus dem eigenen Entscheidungsraum heraus verlagert wird. Dies ereignet sich etwa bei einer hierarchischen Delegation an die operativen Funktionen. Sie kommen aufgrund der Anforderungen z.B. des Kunden nicht umhin, Unvereinbares zumindest scheinbar zu meistern. Das gelingt unter Umständen tatsächlich eine Zeit lang entweder auf Kosten der Betroffenen oder auch des mittelfristigen Leistungsergebnisses. Da aber hierarchische Systeme oft nur unzureichend gelockert werden, notwendige Entscheidungsbefugnisse nicht mit verlagert werden und Informationen «von unten» als weniger bedeutsam ausgeblendet oder als «Widerstand» diskreditiert werden, bleibt eine langfristig tragfähige Entscheidung auf der an sich zuständigen hierarchischen Ebene aus. Vor diesem Hintergrund ist z.B. wenig erstaunlich, wenn Forschungsergebnisse in wissensintensiven Tätigkeiten eine zunehmende Belastung in operativen Funktionen konstatieren, welche die Möglichkeiten ihrer Führungskräfte übersteigt (Gerlmeier 2010).

Pfadabhängigkeiten

Bei näherer Betrachtung stellt der oben geschilderte Umgang mit Zielkonflikten nichts anderes als eine Schwäche oder ein Mangel strategischen Handelns dar. So wurden Zielkonflikte schon in den 1990er-Jahren als zentrales strategisches Thema erkannt (Porter, 1996), aber bislang nicht wirklich gelöst. Bemerkenswert ist aber, dass diese Schwächen zumindest anteilig das Ergebnis einer «kollektiven Fehlprogrammierung» von Organisationen ist, die eine grundlegende Veränderung im Denken, in den Strukturen und letztlich im Handeln verlangt.

Das Ziel einer nachhaltigen Unternehmensführung sollte sein, die Anzahl denkbarer Optionen heute und in Zukunft möglichst gross zu halten. So definiert die Brundtland-Kommission (Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, 1987) nachhaltiges Handeln als «…[Ein Handeln, durch das] die gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse befriedigt […] ohne die Fähigkeit der zukünftigen Generation zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können.» Analog lässt sich strategisches Handeln von Unternehmen so beschreiben, dass diese sich nicht nur auf das konzentrieren sollten, was sie in der Vergangenheit besonders gut gemacht haben. Stattdessen braucht es ständig neue Pfade, Ideen und Möglichkeiten, um künftige Erfolge in einer sich wandelnden Welt zu ermöglichen. Abbildung 2 zeigt, wie Pfadabhängigkeiten die Anzahl möglicher Optionen im Zeitverlauf einengen und so proaktives, strategisches Handeln verhindern.

Überschiessende Handlungen

Aus Mangel am Denken in Alternativen wird das Bestehende in bester Absicht weitergeführt, ohne es zu hinterfragen. Was bisher gut funktionierte, wird so weiter verstärkt und legitimiert sich letztlich selbst. Es wird innerhalb des bekannten Rahmens gehandelt, ohne diesen selbst infrage zu stellen (Weick, 1996). Oft hat sich die Umwelt, z. B. der Markt, jedoch schon verändert und die alten Muster passen nicht mehr. Dies entspricht einem organisationalen Lernen auf niederem Niveau als sogenanntes «Single-Loop-Learning» (Argyris, 1993).

Dabei werden bestehende Lösungsstrategien unreflektiert auf neue Problemstellungen angewendet. Solche Handlungen entlang bekannter Pfade, oft gepaart mit Aktionismus, können dann sogar ins Absurde führen. Dies wird etwa deutlich, wenn auch trotz gegenteiliger Marktreaktionen bestehende Produkte oder Strategien weitergeführt und verstärkt werden, obwohl sie bereits lange Zeit nicht mehr auf das eingehen, was viele Verbraucher noch wünschen, verstehen oder handhaben können. Die Handlungen gehen also über das gut gemeinte Ziel hinaus und werden in der Innovationstheorie als «Overshooting» oder «Überschiessende Handlungen» (Christensen & Raynor, 2003) bezeichnet.

Potenzielle Wettbewerber denken dann oft schon anders und realitätsangemessener oder sie suchen ausserhalb des bestehenden Denkrahmens nach innovativen Lösungen. Bezogen auf etablierte Unternehmen erfordert dies, das eigene Tun der Vergangenheit selbst infrage zu stellen und auch zu prüfen, ob es für aktuelle und künftig mögliche Situationen noch geeignet ist. Da es sich um den Ablauf «programmierter» Automatismen handelt, kann den negativen Auswirkungen solcher Pfadabhängigkeiten nur schwer vorgebeugt werden. Eine Möglichkeit sind sogenannte «disruptive Innovationen» oder «disruptive Prozesse».

Es handelt sich dabei um die Generierung neuer Ansätze, was zunächst viele Ressourcen beansprucht, ohne zu Beginn sichtbaren Erfolg zu bringen. Während etablierte Unternehmen oft abgeschreckt werden, rührt genau hierher die Chance und der Markterfolg vieler junger Nischenanbieter. Sie entwickeln ohne den «Ballast» vergangener Erfolge neue Produkte und Geschäftsmodelle, welche durch eine grössere Kundenorientierung und durch clevere Ideen das Potenzial haben, den Markt zu revolutionieren und die bisherigen Produkte ablösen. Solche «disruptiven Innovationen» (Christensen & Raynor, 2003) lassen bisherige Produkte obsolet werden und können so innerhalb kurzer Zeit einen erheblichen Marktanteil erobern. Sie sind die eigentlichen Gewinner unserer heutigen Zeit, indem neue Pfade etabliert und neue Industrien geschaffen werden.

So verfeinern zwar etliche Hersteller von Mobiltelefonen ihre gut entwickelten Modelle weiter mit neuen Eigenschaften, jedoch ohne wirklich einen Zusatznutzen für die Kunden zu generieren. Die Produkte sind dann aber so spezialisiert, kompliziert und brauchen viel Zeit, um sie zu verstehen, so dass zahlreiche Verbraucher nichts mehr damit anfangen können. Viele Verbraucher sind durch die grosse Anzahl möglicher Anwendungen dann sogar überfordert. In einer solchen Situation haben neue Produkte, welche sich auf die ursprüngliche Funktion konzentrieren, diese aber verbraucherorientiert aufarbeiten und sie dadurch oft grundlegend verändern, gute Chancen auf dem Markt. Oft werden diese Aktivitäten von etablierten Spielern gar nicht wahrgenommen oder nicht ernst genommen. Die Produkte sind zu Beginn noch teuer, wenig verbreitet und werden meist von unbedeutenden Unternehmen oder Firmen aus anderen Branchen auf den Markt gebracht.

Beispiel Musikindustrie

Als das Internet zu Beginn des neuen Jahrtausends die Möglichkeit bot, Musikfiles weltweit kostenlos auszutauschen, entwickelten sich zunächst Tauschbörsen wie z. B. Napster oder Kazaa. Traditionelle und erfolgreiche Unternehmen der Musikindustrie sahen diese Entwicklung als ein Ärgernis an und begannen, ihre bisherigen Strategien und Produkte zu verteidigen, zu verbessern und weiterzuführen. Die neuen technischen Entwicklungen wurden jedoch nicht als Chance für neue Märkte identifiziert, da sie nicht in das bisherige Denkschema passten und auch nicht als adäquate Wettbewerber wahrgenommen wurden.

Bis zu diesem Zeitpunkt galt beispielsweise Apple als Hersteller von Soft- und Hardware, nicht jedoch als gefährlicher Wettbewerber in der Musikbranche. Apple nutzte die vorhandenen Kompetenzen und entwickelte das Musikportal iTunes und den dazu passenden MP3-Spieler iPod. Die Eigenschaften der Produkte bauen auf Bestehendem auf, haben aber trotzdem neue nutzerfreundliche Eigenschaften, die die bisherigen Produkte nicht aufweisen können, wie z. B. Einzelkauf von Songs statt kompletter Alben, bequemer Download über das Internet, etc. Während der Marktanteil von Compact Discs kontinuierlich sinkt, steigt der Verkauf von digitalen Alben und Einzelsongs an, das neue Produkt löst das bisherige ab.

Apple gelang es bisher immer wieder, trotz des grossen Erfolges Neues aus­serhalb der vorhandenen Selbstverständlichkeiten auf den Märkten zu hinterfragen und eine Branche neu zu erfinden, wie das iPhone oder iPad beispielsweise demonstrieren. So gilt das noch immer unkonventionelle Silicon-Valley-Unternehmen im Oktober 2011 mit einem Börsenwert von ca. 340 Mrd. US-Dollar als wertvollstes Unternehmen vor etlichen etablierten Spielern. Eine zentrale Rolle nahm dabei bislang die Person von Steve Jobs ein, der selbst immer wieder bewusst neue Pfade beschritt. Inwiefern dies auch nach Jobs‘ Tod im Oktober 2011 weiterhin gelingt, bleibt abzuwarten. Im Dezember 2011 lag Apple’s Börsenwert bereits wieder an zweiter Stelle hinter Exxon Mobile.

Zusammenfassend stehen für etablierte Unternehmen die Fragen im Raum «Wie konnte es geschehen, dass niemand bei uns so lange strategische Schwächen bemerkt hat?», «Was können wir tun, um mit grundlegenden Zielkonflikten umzugehen und um Pfadabhängigkeiten zu durchbrechen?», «Was müssen Unternehmen tun, um sich selbst, ihre Produkte und Geschäftsmodelle kontinuierlich selbst neu erfinden zu können?»

Ausblick

Im dritten Teil des Beitrags werden mögliche Ansatzpunkte zum konstruktiven Umgang mit Zielkonflikten und Pfadabhängigkeiten aufgezeigt. Sie weichen von einem traditionellen Führungs- und Organisationsverständnis ab, und bilden eine wichtige Grundlage für eine nachhaltige Unternehmensentwicklung. Konkret geht es dabei unter anderem um:

  • Akzeptanz von Unsicherheit und Mehrdeutigkeit und ein Denken in Szenarien
  • Abkehr von einer Philosophie des kurzfristigen «je mehr desto besser»-Denkens und um langfristige Perspektiven
  • Neue Führungs- und Organisationsmodelle
  • Die Anerkennung von mehr Sein als Schein bei der Auswahl von relevantem Wissen
  • Diversität im Management
  • Die Etablierung einer konstruktiven Fehlerkultur und Lernen aus Fehlern
  • Die Förderung reflexiver Kompetenzen der Mitarbeiter
  • Die Öffnung organisationaler Grenzen im Innern und nach aussen.
Porträt