Strategie & Management

Notfall- und Evakuierungsmanagement

Die wichtigen Teile einer Überlebensstrategie

Ein Risikomanagement-System kann Risiken effektiv bewerten sowie wirksam bewältigen. Vier verschiedene Notfallpläne dienen dabei nicht nur der Bewältigung des Restrisikos, sondern garantieren damit auch das Überleben der Organisation im Desasterfall. Das Notfall- und Evakuierungsmanagement stellt dabei den Notfallplan der ersten Stunde dar.
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Die immer noch andauernde Finanzkrise (siehe Box «Stichwort: Finanzkrise») beschäftigt den Autor und seine Management- sowie Law-Studierenden an der Hochschule Luzern seit beinahe zehn Jahren. Schon Aristoteles wusste, dass zur Wahrscheinlichkeit auch das Unwahrscheinliche gehört, weshalb sie sich motiviert sahen, die bestehenden Risikomanagement-Systeme und deren Risiko-Bewertungsmethoden im Lichte der Finanzkrise genauer zu betrachten. Schnell wurde klar, dass die eher schwierig – oft nur aus einem Bauchgefühl heraus – zu bewertende Eintretenswahrscheinlichkeit wahrscheinlich falsch ist. Auch die Eintretenswahrscheinlichkeit von seltenen Ereignissen (sogenannten «Schwarzen Schwänen») kann nur schwer beziffert werden und nützt auch im Ereignisfall nicht viel, weil man das Risiko ja zu 100 Prozent zu spüren bekommt, auch wenn die Eintretenswahrscheinlichkeit vor dem Ereignis nur bei «bauchgefühlten» 0,1 Prozent lag.

Die Risikobewertung

Ohne an dieser Stelle genauer auf den angewandten Problemlösungszyklus einzugehen, ist es schlussendlich gelungen, die Risiken ohne die Eintretenswahrscheinlichkeit, nach den folgenden Metriken, zu bewerten und somit auch besser handhabbar zu machen:

  • Schadensausmass qualitativ: «kein Schaden» bis «sehr hohe Aussenwirkung / Marktanteilverlust»
  • Schadensausmass quantitativ: 500 000 bis > 100 000 000 CHF; alternativ Prozentanteil vom Eigenkapital
  • Entdeckungszeit / Dauer bis zum Erkennen des Ereignisses: «sofort / zwingend» bis «keine Entdeckung»
  • Umgang im Ereignisfall / Ereignisbewältigung: «integriertes Krisenmanagement» bis «keine Mechanismen»
  • Kontrolle bei Risikoexposition: «volle Kontrolle» bis «keine Kontrolle»
  • Bewusstsein bzw. Sensibilisierung für die Risikoexposition: «voll bewusst» bis «unbekannt / nicht bewusst»

Es wurde klar, dass mit dieser neuartigen Bewertungsmethode die Risiken optimaler und zielgerichteter durch Vermeiden, Vermindern und Übertragen zu handhaben sind. Was übrig bleibt, ist das bewusst in Kauf genommene und verkraftbare Restrisiko. Die Bewältigung des Restrisikos, aber auch die Bewertung der Risiken bezüglich der Entdeckungszeit und des Umgangs im Ereignisfall führten direkt zum zwingend benötigten Business Continuity Management (BCM), das – in Ergänzung zum präventiv wirkenden Risikomanagement (Plan A) – im Sinne einer Überlebensgarantie (Plan B) die Ereignisbewältigung inkl. Restrisikobewältigung zum Ziel hat. Ein modernes und nützliches Business Continuity Management (BCM) beinhaltet im Wesentlichen

  • eine standort- und gebäudespezifische Notfall- sowie Evakuierungsorganisation, welche die rasche Evakuierung respektive Ereignisbewältigung auf dem Schadenplatz sicherstellt,
  • ein Krisenmanagement, damit die Organisation dank eines eintrainierten Krisenstabs auch in der Krise jederzeit handlungs- und entscheidungsfähig bleibt,
  • einen Pandemieplan, um das Personal vor Ansteckung mit einer leicht übertragbaren Krankheit zu schützen und die essenziellen Geschäftsprozesse aufrechtzuerhalten,
  • und schliesslich für die – aufgrund der Business-Impact-Analyse identifizierten – kritischen Prozesse sogenannte Notfallpläne, die die zeitgerechte Wiederaufnahme respektive den Betrieb eines vordefinierten Notbetriebs ermöglichen / sicherstellen.

Die Evakuierungsarten

Bei der Fokussierung auf die Notfall- und Evakuierungsorganisation ist es hilfreich, zwischen unmittelbaren (zum Beispiel Brand) und mittelbaren (zum Beispiel Bombendrohung) Ereignissen zu unterscheiden. Bei mittelbaren Bedrohungen ist immer unverzüglich zum Beispiel der Sicherheitsbeauftragte zu informieren /zu alarmieren, welcher gegebenenfalls mit dem Notfallstab über das weitere Vorgehen entscheidet.

Eine moderne Notfall- und Evakuierungsorganisation (NEO) soll zudem die folgenden vier Evakuierungsarten beschreiben / ermöglichen:

  • Automatische Evakuierung, ausgelöst durch technische Überwachungsanlagen, zum Beispiel bei Brand, Explosion, Gasaustritt
  • Angeordnete Evakuierung, ausgelöst aufgrund eines speziellen (mittelbaren) Ereignisses, Zum Beispiel bei Bombendrohung, Fund eines verdächtigen Gegenstands
  • Teilevakuierung / Personenverschiebung innerhalb des Gebäudes, ausgelöst aufgrund eines speziellen Ereignisses, zum Beispiel bei Demonstration, Ausschreitungen, Chemieunfall, Drohung, Geiselnahme
  • Keine Evakuierung, sondern Verbleiben im Gebäude respektive in den Räumen, zum Beispiel bei Amok (wir sprechend dabei auch von Mitnahme-Suizid, erweitertem respektive inszeniertem Selbstmord), medizinischem Notfall

Lange Zeit war das Verhalten bei Amok klar (Run-Hide-Wait): Nach Möglichkeit flüchten, wenn das nicht geht, sich verstecken / verschanzen und warten, bis die Einsatzkräfte befreien / retten. Neue angelsächsische Ansätze (Run-Hide-Fight), welche den direkten Angriff auf den Amoktäter dem Ausharren im Versteck vorziehen, sind auf dem Vormarsch. Erste erfolgreiche Umsetzungen dieses finalen «Sich-zur-Wehr-Setzen» haben bereits funktioniert, da die Amoktäter ja oft nach dem Motto «Mein Spiel – meine Regeln –mein Ende» vorgehen.

Organisationsmodule

In der Praxis haben sich die folgenden Module einer Notfall- und Evakuierungsorganisation – welche die zielgruppenorientierten Bedürfnisse sowie die standortspezifischen Gegebenheiten ausreichend berücksichtigen – bewährt:

  • Die Basis-Lösung: Ein Notfall-Leitfaden (es kann auch ein Flucht- und Rettungsplan sein), der die wichtigsten Ereignisse wie zum Beispiel den Brandausbruch mit anschliessender Evakuierung, den medizinischen Notfall, Amok oder persönliche beziehungsweise telefonische Drohung, den Fund eines verdächtigen Gegenstands, einen Einbruch, einen Überfall oder eine Geiselnahme, eine Demonstration oder  Ausschreitungen beziehungsweise Vandalismus, einen Chemieunfall oder eine Giftwolke beziehungsweise Naturgewalten beschreibt, die der Mitarbeitende bis zum Eintreffen der Blaulichtorganisationen bewältigen kann, und der allen Mitarbeitenden zur Verfügung steht. Mit diesem Notfall-Leitfaden übt die Organisation ihr Weisungsrecht aus und jedermann weiss, was von ihm erwartet wird.
  • Die Mini-Lösung: Ein Merkblatt mit dem Verhalten im Notfall (Brand, Evakuierung, medizinischer Notfall) und den Notfallnummern reicht bei Gebäuden mit 30 bis 50 Arbeitsplätzen aus. Wie auch bei den nachfolgenden Midi- und Maxi-Lösungen kommt hier das Prinzip der Selbstrettung zum Tragen. Die Aufforderung zur Evakuierung kann durch einfaches persönliches Zurufen erfolgen.
  • Die Midi-Lösung: Bei einer Alarmgruppenlösung stellt ein Team von Mitarbeitenden und gegebenenfalls auch Dritten die Vermeidung von Fehlalarmen und die rasche und schnelle Evakuierung des Gebäudes mit weniger als 200 Arbeitsplätzen sicher. Spe­ziell und sehr personalsparend bei dieser Alarm­gruppenlösung ist, dass jedes Alarmgruppenmitglied jede Funktion – der Ersteintreffende wird jeweils zum Evakuierungsleiter und verteilt die weiteren Funktionen auf die anwesenden Teammitglieder – wahrnehmen kann. Eine leicht angepasste und mit den Mietern ergänzte Alarmgruppenlösung hat sich übrigens auch bei Mehrparteien-Geschäftsliegenschaften bewährt.
  • Die Maxi-Lösung: Eine ordentliche Notfall- und Evakuierungsorganisation mit eigens dafür nominierten, ausgebildeten sowie ausgerüsteten Evaku­ierungshelfern, mit Evakuierungsleitern sowie Sammelplatzverantwortlichen und allen Stellvertretern hat sich bei Gebäuden mit über 200 Arbeitsplätzen bewährt.

Gelebte Sicherheitskultur

Die Schulung aller Mitarbeitenden kann dann durch einen modernen Evakuierungsclip, der von jedem Mitarbeitenden auf dem Internet in Eigenverantwortung angeschaut und zum Beispiel auch am ersten Arbeitstag den neuen Mitarbeitenden gezeigt werden kann, erfolgreich und modern erfolgen.

Stehen die zielgruppenorientierten und standortspezifischen Konzepte, wurden die Mitarbeitenden sensibilisiert und die Funktionäre ausgebildet und ausgerüstet, geht es nun darum, mit praktischen Übungen zu beweisen, dass auch alles in der Praxis funktioniert. Dazu haben sich unangemeldete Evakuierungsübungen, welche vorzugsweise von einer externen Übungsleitung vorbereitet, durchgeführt und revisionssicher ausgewertet werden, bewährt. Denn es ist wichtig, dass die Notfallbewältigung nicht nur von der dreiköpfigen Sicherheitsabteilung verstanden und gelebt wird, sondern in eine von allen verstandenen und gelebten Sicherheitskultur mündet und final auch die Resilienz verbessert.

Fazit

Eine grosse Anzahl gesetzlicher Vorschriften zum Brandschutz, zum Arbeitnehmerschutz, zum Mieterschutz und zum Aktionärsschutz verlangt heute von der Geschäftsleitung oder dem Gebäudeeigen­tümer beziehungsweise einer Publikumsge­sellschaft eine betriebsinterne respektive gebäudeübergreifende Notfall- und Evakuierungsorganisation. Mithilfe einer solchen Organisation sollen gewisse Risiken, die zu erheblichen Personen-, Sach- beziehungsweise Reputationsschäden führen können, vermindert oder gar vermieden werden.

Dass es sich bei der gesetzlichen Verpflichtung zur Einführung, Ausbildung und Pflege einer Notfall- und Evakuierungsorganisation keineswegs um eine unnötige Schikane handelt, sollte spätestens beim Ereignisfall allen Betroffenen klar werden. Der konkrete Gewinn liegt aber nicht alleine im verbesserten Schutz von Menschenleben sowie Sachwerten, sondern auch in einem durch periodisches Üben erhöhten Risikobewusstsein der Mitarbeitenden und der damit verbundenen verbesserten Sicherheitskultur. Daher kann festgehalten werden, dass die Geschäftsleitung durchaus einen direkten Nutzen aus der Investition in ein Notfall- und Evakuierungsmanagement zieht. Denn wer Sicherheitsbemühungen sieht und etwa durch eine Übung auch spürt, fühlt sich auch sicherer. Und wer sich sicherer fühlt, bringt zweifellos eine höhere Motivation und eine grössere Produktivität mit an den Arbeitsplatz.

Die mit einem eher bescheidenen finanziellen und personellen Aufwand verbundene Investition in ein sorgfältig ent­worfenes und kontinuierlich verbessertes Notfall- und Evakuierungskonzept lohnt sich demnach, nicht zuletzt auch aus der Sicht des Business Continuity Managements. Denn nur ein Unternehmen, dessen Geschäfts­leitung auf ein systematisches, nachhaltiges Risikomanagement ausgerichtet ist, stärkt nachhaltig das Vertrauen von Geschäftspartnern, Kunden und Mitarbeitenden in die Organisation und ermöglicht so die dringend benötigte «long-term licence to operate» sowie die Sicherstellung eines Sustainable Developments.

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