Strategie & Management

Human Resources (Teil 3 von 6)

Candidate Profiling – Wie modernes Recruiting gelingt

Candidate Profiling ist eine Rekrutierungsstrategie, die sich an das kriminalistische Verständnis von Ermittlern anlehnt. Sie hat zum Ziel, durch die Annäherung an die Lebenswelt einer Zielgruppe geeignete Kandidaten zu gewinnen. Der dritte Teil dieser Serie zeigt auf, wie KMU mit analytischer Kombinatorik passende Kandidaten aufspüren und ansprechen können.
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Den Begriff «Profiling» kennt man aus Kriminalromanen oder aus Serien wie beispielsweise «Tatort». Für den Ermittler steht im Zentrum, sich Zugang zur Gedankenwelt und zu der Persönlichkeit des Täters zu verschaffen – mit dem Ziel, diesen ausfindig zu machen. Er bedient sich dabei vielerlei Methoden und Ins­trumente. Im Vordergrund stehen die Sicherung von Beweismaterial, die Auswertung von Beobachtungen durch Zeugen und weitere Hinweise. Zudem werden bereits analysierte, ähnlich gelagerte Fälle mit dem aktuellen abgeglichen, sodass der Ermittler sich auf Erfahrungswerte stützen kann. 

Ziel dieser Massnahmen ist die Verdichtung von Daten und das Skizzieren eines möglichst realitätsnahen Täterprofils. Dazu werden Parameter wie beispielsweise  «Familiäre Konstitution», «Surfverhalten», «Beliebte Aufenthaltsorte in der Freizeit», «Werte», «Ziele», «Emotion» oder «Finanzen» und weitere reflektiert, miteinander in Verbindung gebracht und daraus Motivationen abgeleitet. Das Verhalten des Täters kann so antizipiert und im Idealfall auch sein Aufenthaltsort ausfindig gemacht werden. 

Den Kandidaten im Visier

Doch was hat die Aufklärung eines Kri­minalfalls mit der Suche nach Schlüsselkräften zu tun? Genau wie beim Profiling versucht auch das Candidate Profiling durch die systematische und differenzierte Suche und Auswertung von Daten mög­liche Zielpersonen zu identifizieren und zu lokalisieren. Während bei der klassischen Rekrutierung in erster Linie auf ein Matching zwischen Qualifikation/Erfahrung und den Anforderungen der Vakanz geachtet wird, zeichnet sich Candidate Profiling durch umfassendes Research aus. Zusätzlich zu den Hardfacts werden die Lebenswelt, Lebensentwürfe wie auch Softskills von Zielpersonen vorgängig reflektiert und kombiniert, sodass eine individuelle Ansprache vorgenommen werden kann. Aufgrund des erheblichen Research- und Reflexionsaufwandes eignet sich Candidate Profiling ganz besonders bei herausfordernden Stellenbesetzungen. 

Beispiel: Jan, der Programmierer

Greifbar wird die Methode des Candidate Profiling an einem konkreten Beispiel: Angenommen, ein KMU sucht für ein Projekt einen Programmierer, der mit einem spezifischen Framework Apps entwickeln kann. Mithilfe von Stelleninseraten konnten bislang nur ungenügend interessante Profile generiert werden. Das Unternehmen kann sich nun, statt passiv auf Bewerbungen zu warten, für einen aktiven Ansatz entscheiden und Candidate Profiling betreiben. Dafür skizziert das Personalmanagement ein fiktives Bild eines möglichen Bewerbers und nennt seine Zielperson «Jan». Jan ist ein introvertierter Typ. Er lebt sozial zurückgezogen und hat nur wenige Kontakte. Schon zur Schulzeit ist er durch seinen hohen IQ, seine überdurchschnittlichen Informatik-Kenntnisse und seinen geübten Umgang mit Computern aufgefallen. Das Interesse zog sich weiter; während seiner Teenagerzeit orga­nisierte er LAN-Partys, diskutierte fleis­sig in IT-Foren mit, kaufte jedes neue Rollenspiel. Anschliessend studierte er basierend auf seinen Interessen Wirtschaftsinformatik oder machte eine Lehre als Applikationsentwickler. 

Wo Jan zu finden ist

Der Recruiter muss sich nun überlegen, an welchen Orten sich Jan im realen Leben aufhalten könnte. Dazu muss er sich tief in seine Zielperson hineinversetzen und deren Interessen antizipieren und clustern. Basierend auf den Interessen können dann sowohl physische Orte als auch Orte im Web identifiziert werden, an denen Jan möglicherweise anzutreffen ist und angesprochen werden kann. Es könnte sein, dass Jan sich noch heute für Gaming interessiert und in seiner Freizeit als Mitglied einer Community Lösungsansätze in Rollenspielen diskutiert. Möglicherweise ist er am jährlichen Gaming-Event in Zürich anzutreffen, da dort Hersteller wie Square ihre neuen Spiele vorstellen, noch bevor diese auf den Markt kommen. Vielleicht nimmt Jan auch gerne an «Hackathons» teil, wo er seine eindrücklichen Hacker-Skills während eines Live-Events unter Beweis stellen kann und mit anderen in Wettbewerb geht. Oder er interessiert sich für «Whistleblowing» und sucht als Datenprofi mit einem explorativen Ansatz gerne die Provokation. Jedenfalls dürfte Jan aufgrund seiner Interessen eine hohe intrinsische Motivation mitbringen, sich auch privat in einschlägigen Programmier-Foren auszutauschen, sein Wissen zu teilen und von anderen dazuzulernen.

Erfolgreiche Ansprache

Sind die Person und ihre Interessen identifiziert, kann sie angesprochen werden. Das Ziel der Ansprache ist es, den kontaktierten Kandidaten innerhalb kurzer Zeit für den Job motivieren zu können. Das gelingt, wenn dem Recruiter einerseits klar ist, wie die Person funktioniert, und andererseits, was den Job wie auch die Organisation auszeichnet (vgl. Teil 2 der Serie zum Thema «Employer Branding», «KMU-Magazin»-Ausgabe 07–08/20).

Um sich vor der Ansprache ein Bild vom Kandidaten machen zu können, muss der Recruiter unterschiedlichste Quellen konsultieren und die Informationen zur Zielperson verdichten. Quellen können Kommentare auf Social-Media-Profilen sein, Teilnehmerlisten von Tagungen oder Events, Bewertungen auf Plattformen, aber auch öffentlich zugängliche Informationen wie Fotos und Blog-Beiträge. So kann sich je nach Qualität der Quellen ein schlüssiges Bild ergeben. Der Recruiter muss Klarheit darüber erlangen, in welcher Tonalität und in welchem Stil er seine Zielperson anspricht, wie er Themen und Inhalte transportiert und was die Kernbotschaft sein soll. Im Idealfall wird die Ansprache durch Bildwelten visualisiert und trifft die Werteorientierung der Zielperson.

Hinweise, wie eine Ansprache erfolgen kann, können ausgeklügelte Instrumente wie beispielsweise «Crystal» geben, die mithilfe künstlicher Intelligenz Millionen von Online-Datenpunkten und validierten Bewertungen rund um die Zielperson analysieren, um eine Einschätzung über deren Persönlichkeit zu machen. 

Eine mögliche Einschätzung ist beispielsweise, dass Jan nicht gerne Smalltalk führt, da er sich dabei unwohl fühlt. Er wünscht sich vom Gesprächspartner deshalb, dass dieser unmittelbar und direkt zur Kernbotschaft kommt. Der ziellose Wechsel zwischen verschiedenen Themen und eine nicht faktenbasierte Argumentation sollen im Umgang mit ihm hingegen eher vermieden werden. Denn beim IT-Profi handelt es sich möglicherweise um eine ziel­orientierte Person, die rasche Entscheidungen bevorzugt und Stagnation vermeidet. Es kann weiter sein, dass der Programmierer die «Du»-Ansprache präferiert, da ihm diese Art der Anrede authentischer vorkommt. 

Doch woran lassen sich erfolgreiche Ansprachen ausmachen? Den Erfolg einer Ansprache erkennt man einerseits darin, ob seitens Zielperson überhaupt eine Antwort erfolgt, und andererseits in der Reaktionsgeschwindigkeit und dem Informationsgehalt der Antwort; wie qualifiziert und reflektiert ist die Rückmeldung zur erfolgten Ansprache? Es zeigt sich in der Praxis, dass es sich lohnt, sich intensiv mit der Zielperson auseinanderzusetzen; je individueller die Ansprache ist, desto grösser ist der Antworterfolg.

Headhunter-Unterstützung 

Nebst der Welt des Internets und den ganzen darin zugänglichen Daten ist auch die reale Welt nicht zu vernachlässigen, in der es vorwiegend um physische Netzwerke und deren Belastbarkeit und Reichweite geht. So manche Stellenbesetzung kommt über Beziehungen zustande. Das «Wissen um reiche Jagdgründe» für Fachspezialisten ist ein Thema, dessen sich Headhunter mit tiefem, informellem Wissen und einem spezifischen Netzwerk annehmen. Sie wissen, in welcher Bar Banker abends ihre erfolgreichen Abschlüsse feiern. Sie wissen auch, was in der jeweiligen Branche bezahlt wird, wie sich Gehälter zusammensetzen und welche zusätzlichen Benefits heute auch in KMU ein «Must» sind. Ein Headhunter kann KMU bei der Suche nach Schlüsselkräften unterstützen, schliesslich ist es sein Geschäftsmodell, Beziehungen zu etablieren und zwischen Parteien erfolgreich zu vermitteln. Er hat aufgrund seiner täglichen Gespräche mit Arbeitnehmenden und Arbeitgebern zumeist tiefe Einsichten in spezifische Branchen und kennt den Stellenmarkt. Er ermittelt verdeckt, ohne Aufsehen zu erregen, und identifiziert infrage kommende Persönlichkeiten mit progressiven Methoden.

Stimmiges Bild

Das moderne Recruiting definiert sich nicht einzig über die Identifikation und Ansprache der Zielpersonen, wenngleich diese aus Differenzierungsüberlegungen im War for Talent für KMU immer wichtiger werden. Vielmehr soll für den Bewerber während des ganzen Rekrutierungsprozesses eine spürbar positive Kandidatenerfahrung geschaffen werden, die bei der Ansprache beginnt und sich über ein strukturiertes Einstellungsinterview bis hin zum gelungenen Onboarding zieht. Immer stärker unterstützt künstliche Intelligenz bei der Suche und Beurteilung von Kandidaten. Wie beim aufzuklärenden Kriminalfall können aber auch diese Instrumente bestenfalls Hinweise zur Person geben. Im Prozess wichtig sind rationales Denken, eine akkurate, effektive Arbeitsweise, aber auch Einfühlungs­vermögen und Bauchgefühl seitens Recruiter. Die persönlichen Verzerrungs­effektive wie auch subjektive Herangehensweisen sollten möglichst minimiert werden. Die Kunst guten Recruitings ist, die losen Fragmente und Informationen als «Teile des Ganzen zu erkennen» und sie zu einem grossen, stimmigen Bild über die Persönlichkeit anzuordnen.

Porträt