Strategie & Management

Industrie 4.0 I

Auf dem Weg zu Wertschöpfungsnetzwerken

Die vierte industrielle Revolution wird die globale Vernetzung der Schweizer Wirtschaft entscheidend vorantreiben. Darin liegen grosse neue Absatzchancen genauso wie Herausforderungen für KMU aller Branchen, nicht nur solche aus der ICT- und Mem-Branche. Bereits heute lässt sich der Export mit einfachen Tools digitalisieren.
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Die Definitionen für Industrie 4.0 sind vielfältig. Für die einen ist es eine Revolution, für die anderen eine logische Konsequenz aus der Digitalisierung sowie der Vernetzung durch das Internet. Aber ganz gleich, wie man dies nun betiteln mag, Industrie 4.0 erhält Einzug in nahezu jede Branche und resultiert aus den technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Sie verändert Wertschöpfungsketten und ermöglicht die individuelle Fertigung, sprich kosteneffiziente Produktion bei kleinen Mengen.

Von 1.0 zu 4.0

Die westliche Zivilisation hat bereits drei industrielle Revolutionen erlebt. Mit Industrie 4.0 hat die vierte soeben begonnen, auch wenn zahlreiche Experten Industrie 4.0 eher als Evolution sehen. War die erste industrielle Revolution durch die Nutzung der Wasserkraft und der Dampfenergie sowie der Entwicklung von Werkzeugmaschinen gekennzeichnet, brachte die zweite Revolution die Elektrizität und die Massenproduktion. Die dritte industrielle Revolution beschleunigte dank der Elektronik und der IT die Automation markant. Angetrieben durch die Digitalisierung beobachten wir derzeit, wie sich eine vierte grosse Veränderung vollzieht. Maschinen kommunizieren zunehmend selbstständig miteinander, auf der Basis des Internets, der intelligenten Technologien, von Software sowie modernen Sensoren aller Art.

Vertikale Vernetzung

Industrie 4.0 bedeutet deshalb in erster Dimension eine stärkere sogenannte «vertikale» Vernetzung von intelligenten Produktionssystemen. Durch den automatischen Austausch aller Sorten von Daten organisieren sich Fabriken selbst. Kundenspezifische Anpassungen werden nicht nur in der Produktion möglich, sondern auch in der Entwicklung, Bestellung, Planung, Zusammensetzung und im Vertrieb der Produkte. Dadurch lassen sich Faktoren wie Qualität, Zeit, Risiko, Preis und Umweltverträglichkeit dynamisch und in Echtzeit verändern. Auf Basis der grossen Mengen an verfügbaren Daten prognostizieren statistische Berechnungen künftige Entwicklungen.

Das ergibt inspirierende Möglichkeiten für das internationale Geschäft. Die Nachfragesituation in einem ferneren Markt einzuschätzen, geschweige denn Prognosen dazu zu treffen, gehörte bisher zum Schwierigsten für Exporteure. In der idealen Welt der Industrie 4.0 wissen sie jedoch künftig, wann sie wie viel von ihrem Produkt nach China, Kanada oder Mexiko werden liefern müssen. Die Erzeugnisse lassen sich optimal zuschneiden auf die Bedürfnisse der chinesischen, kanadischen oder mexikanischen Kunden. Noch nie konnten sogar KMU so agil auf neue Kundenbedürfnisse am anderen Ende der Welt reagieren.

Neue Schnittstellen

Noch relevanter für das internationale Geschäft von KMU werden jedoch die Veränderungen sein, die von der zweiten Dimension der «horizontalen» Vernetzung ausgehen. Die klassische Wertschöpfungskette zwischen Unternehmen wird sich entwickeln zu einem Wertschöpfungsnetzwerk. Firmen werden über Organisations- und Ländergrenzen hinweg zusammenarbeiten an einem Produkt – denn mangelndes Know-how oder Erfahrungsverlust lassen sich ausschliessen durch den automatischen Datenaustausch und ein eingebautes «Gedächtnis» eines jeden einzelnen Erzeugnisses. Unternehmer werden ihre erfolgreichen Prozessmodule wie ein Produkt in internationalen Arbeitsgemeinschaften vermarkten können.

Dieses neue Prinzip ist auf alle Branchen anwendbar. Ob es sich um Kosmetika oder komplexe Medizintechnik handelt, alle benötigen Vorprodukte, Technologie, oftmals auch Maschinen, alle beliefern ihre Kunden, alle haben ein Marketing, einen Vertrieb und arbeiten mit Partnern zusammen. All diese Schnittstellen sind betroffen und lassen sich künftig automatisieren. So verschwindet aber auch der Vorteil, im Rahmen einer grossen, geschlossenen Organisation zu produzieren.

Wenn Reibungsverluste bei der Überquerung von Unternehmensgrenzen künftig vermieden werden können, weshalb sollten Wertschöpfungsnetzwerke sich in Zukunft nicht auch aus den vielen kleinen Firmen von überall aus der Welt zusammensetzen? Aus jenen Firmen, welche jeweils am besten auf eine einzelne Aufgabe spezialisiert sind, während parallel dazu die Montage oder sogar der 3D-Druck des Endproduktes jeweils in der Nähe des Konsumenten stattfindet? So wird die Internationalisierung der Wertschöpfungsketten ein heute unbekanntes Niveau erreichen.

Klarer Vorteil für KMU

Für kleine und mittelgrosse Unternehmen ergeben sich damit ganz neue Ansatzpunkte für ihr internationales Geschäft. Die grossen Unternehmen werden im Gegenzug mehr und mehr Prozesse an kleinere Firmen an viel weiter entfernten Orten auf der Welt vergeben. KMU können sich in Zukunft einfacher zusammentun, um gemeinsam zu produzieren oder gemeinsam Innovationen zu entwickeln. Wohingegen die Grossunternehmen künftig ihre Daseinsberechtigung permanent neu erfinden werden müssen. Denn für KMU gibt es viel mehr Möglichkeiten, flexibel mitzuschaffen. Sie können ihre Nischenkompetenz besser geltend machen. Ihre Eintrittshürden insbesondere ins internationale Geschäft sinken.

Die grössere Flexibilität bei der Organisation von Wertschöpfungsnetzwerken hat jedoch auch Kehrseiten: sie zwingt zur absoluten Maximierung der Effizienz und zur Minimierung der Kosten. Margen werden künftig nicht mehr durch Produktion gemacht, sondern durch die cleveren Ideen, das innovative Design eines Produktes. Doch allein das wird auch nicht reichen, es braucht Services um das Produkt herum – die automatische Reparatur, den sauberen Datenaustausch und mehr. Das eigene Geschäftsmodell wird durch die vierte industrielle Revolution gnadenlos auf die Probe gestellt.

Es mangelt noch an Know-how

Jedes Unternehmen wird ab einem bestimmten Zeitpunkt schlicht gezwungen werden, mitzuziehen mit den neuen technologischen Entwicklungen und den Veränderungen in der internationalen Zusammenarbeit. Die Herausforderungen werden die meisten KMU evolutionär bewältigen und dabei Schritt für Schritt ihr Geschäftsmodell und ihr internationales Netzwerk umbauen.

Der erste Schritt ist es, das internationale Geschäft zu digitalisieren. Switzerland Global Enterprise (S-GE), der offizielle Exportförderer der Schweiz, hat gemeinsam mit Google Schweiz dazu im letzten Herbst die Initiative «Export Digital» ins Leben gerufen. Sie will das notwendige digitale Know-how vermitteln, praktische Tools und E-Learning-Module bereitstellen, vor allem für kleine und mittelgrosse Unternehmen.

Digitale Werkzeuge ebnen schon heute den Weg zu internationalem Wachstum. Sie bieten KMU einen Mehrwert insbesondere bei der Bearbeitung von fernen Märkten, da sich viele Tools direkt vom Schweizer Schreibtisch aus in der ganzen Welt einsetzen lassen. Der Einsatz von digitalen Tools – von der Marktanalyse bis zum E-Commerce – wird zudem im Ausland zunehmend unabdingbar, ob im B2B- oder B2C-Bereich, ob in den USA, in China oder auch in aufstrebenden Volkswirtschaften. Diese sind häufig sehr digitalaffin. In Indonesien kamen schon vor drei Jahren 122 Mobilabonnements auf 100 Einwohner. Im globalen Schnitt waren es 93. Sobald es sich die Menschen leisten können, kaufen sie sich ein Smartphone. 2020 werden wir alle im Schnitt über sieben vernetzte Geräte verfügen. Allerdings nutzt demnach bisher erst ein Drittel der befragten KMU überhaupt digitales Marketing speziell zur Unterstützung ihrer Exportaktivitäten – das hat jüngst auch eine Umfrage der HTW Chur unter international aktiven KMU gezeigt. Häufig fehlen Kapazität und Know-how.

Genau hier setzt die gemeinsame Initiative von S-GE und Google an. In ihrem Zentrum steht die Plattform «www.exportdigital.ch». Mit dem Absatzmärkte-Finder testen die Unternehmer das Online-Exportpotenzial ihres Produktes. Die kostenlose Onlineanwendung vergleicht Google-Suchanfragen und bezieht weitere Marketinggrössen des Landes mit ein. Darüber hinaus gibt es 100 Lernvideos, die Antworten auf alle möglichen Fragen des Online-Exports bieten, von der Strategie zur Internationalisierung über die Finanzierung und Absicherung bis zu technischen Fragen rund um Zoll und Steuern und natürlich dem digitalen Marketing im Ausland. Damit kann jedes KMU den ersten Schritt machen auf dem Weg zur digitalen Transformation des eigenen Geschäftsmodells.