Recht

Arbeitsgesetz

Was Unternehmen zum Thema Vertrauensarbeitszeit wissen müssen

Die Diskussion um das Thema Vertrauensarbeitszeit wurde durch die reisserische Schlagzeile auf der Frontseite des Sonntags-Blick vom 2. September 2012 neu lanciert. Die Stempeluhren seien wieder einzuführen, hiess es. Eine Woche später hat das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco seinen Bericht zum Pilotprojekt Ver­trauenszeit veröffentlicht und gleichzeitig einen Vorschlag präsentiert, wie man künftig mit der Zeiterfassung umgehen könnte.
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Viele Unternehmen arbeiten nach dem Prinzip Vertrauensarbeitszeit, haben also die Arbeitszeiterfassung abgeschafft. Rechtmässig ist das nicht, denn das heutige Arbeitsgesetz (ArG) hält unmissverständlich fest, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, die Arbeitszeit seiner Mitarbeitenden zu erfassen und zu dokumentieren. Wie das geschieht, ist dem Arbeitgeber überlassen. Alles ist zulässig, der einfache Handzettel, bis hin zum ausgeklügelten Zeiterfassungssystem, sofern die Zeit, welche gearbeitet wird, und wann Pausen und Ferien bezogen werden, säuberlich dokumentiert werden.

«Aber das wird doch längst nicht mehr so gemacht!», wird es nun manchem Leser durch den Kopf schiessen. Stimmt. Doch steht diese Realität im Widerspruch zum geltenden Arbeitsrecht, über das sich grundsätzlich kein Unternehmen rechtsgültig hinwegsetzen kann. Wenn also ein Unternehmen die Vertrauensarbeitszeit einführen will, müssen Vor- und Nachteile abgewogen werden, und man muss sich bewusst sein, dass man die Gefahr läuft, von der kontrollierenden Behörde dazu aufgefordert zu werden, die Arbeitszeiterfassung wieder einzuführen.

In den wohl meisten Fällen hat die Einführung der Vertrauensarbeitszeit finanzielle Motive. Viele Unternehmen argumentieren, dass die Mitarbeitenden dank der Vertrauensarbeitszeit ihre Arbeitszeit selber einteilen und gestalten, so dass sie sich mehr Freiräume gönnen können. Gleichzeitig geht der Arbeitgeber davon aus, dass mit dieser Selbstregulierung die Frage der Überstunden und Überzeit vom Tisch ist, da die Mitarbeitenden diese gleich selber, nach Anfallen, ausgleichen. Es ist ein klares Ergebnis der Vertrauensarbeitszeit, dass meist keine Überstunden mehr geltend gemacht werden und Überzeiten kaum mehr ausbezahlt werden. Diese beiden Ziele kann ein Unternehmen aber auch ohne Einführung der Vertrauenszeit erreichen.

Ein Blick in das geltende Gesetz muss gemacht werden, auch wenn dieser vielleicht mehr für Verwirrung als zur Aufklärung führt. Das Arbeitsgesetz hält in Art. 46 ArG fest, dass Verzeichnisse zu führen sind, aus welchen der Vollzug des Gesetzes ersichtlich ist. Für das Thema Arbeits- und Ruhezeit heisst das nichts anderes, als dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, die Zeit, in welcher Arbeit geleistet wird und in welcher der Arbeitnehmende abwesend ist oder Pausen macht, festzuhalten ist. In Art. 73 I ArGV1 wird insbesondere weiter ausgeführt, dass die Arbeitszeit, die Ruhetage und die Lage und Dauer der Pausen zu dokumentieren sind. Da das Arbeitsgesetz öffentliches Recht ist, kann dieses nicht durch Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmenden abgeändert werden. Wenn nun also durch Vereinbarung in einem Unternehmen beschlossen wird, dass künftig keine Arbeitszeiterfassung mehr erfolgt, so kann das zwar umgesetzt werden, die Abrede an sich bleibt aber grundsätzlich rechtswidrig. Für alle Mitarbeitenden, die dem Arbeitsgesetz unterstehen, ist daher die Arbeitszeiterfassung zu führen.

Einige Branchen und Tätigkeiten sind vom Geltungsbereich des Arbeitsgesetzes ausdrücklich ausgeschlossen, für sie gilt es nicht. Für die überwiegende Mehrheit der Erwerbstätigen gilt das Arbeitsgesetz aber. Eine weitere Ausnahme bilden die höher leitenden Angestellten, sie sind nämlich vom Arbeitsgesetz ausdrücklich ausgeschlossen. Darunter sind aber nicht alle Kadermitarbeiter zu verstehen, sondern nur jene Personen in einem Unternehmen, die beispielsweise Unternehmensentscheide von besonderer Tragweite alleine treffen können, oder die das Unternehmen gegen aussen repräsentieren. Die Abgrenzung muss in jedem Unternehmen individuell vorgenommen werden, in aller Regel wird es sich aber vor allem um Geschäftsleitungsmitglieder handeln, die nicht dem Arbeitsgesetz unterstehen. Für sie gelten die Bestimmungen betreffend Arbeits- und Ruhezeit also nicht.

Die kantonalen Arbeitsinspektorate haben die Aufgabe, die Vollstreckung des Arbeitsgesetzes, insbesondere die Ruhezeiten und den Gesundheitsschutz, in den Unternehmen zu kontrollieren. So werden immer wieder Kontrollen bei Unternehmen durchgeführt und Verstösse beanstandet, bis hin zur Androhung von Bussen. Wann man kontrolliert wird, kann man als Unternehmen nicht wissen, und ob ein Arbeitsinspektor auf der Arbeitszeiterfassung besteht oder nicht, ist auch nicht mit Sicherheit vorherzusagen. Es besteht daher eine Unsicherheit in der Umsetzung des Gesetzes. Immer wieder gibt es Unternehmen, die nach einer Kontrolle des Arbeitsinspektorates die vormals abgeschaffte Zeiterfassung wieder einführen rsp. einführen müssen.

Das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco verschliesst sich der Realität nicht und hat am 10. September 2012 den Vorschlag für eine Gesetzesänderung präsentiert, wonach Mitarbeitende ab einem Einkommen von jährlich 175 000 CHF mit dem Arbeitgeber vereinbaren können, auf die Arbeitszeiterfassung verzichten zu wollen. Diese Gesetzesvorlage passt aber eigentlich so gar nicht in das Arbeitsgesetz und wird das Problem auch kaum am Ansatz packen können. Kritiker stellen sich berechtigterweise die Frage, warum erstmals eine Lohngrenze eingeführt werden soll, was doch dem Schweizer Arbeitsrecht (OR und ArG) völlig fremd ist. Das Anhörungsverfahren zu dieser Vorlage wurde am 10. September 2012 eröffnet und die Verbände sind zur Stellungnahme bis zum 30. November 2012 aufgefordert.

Es ist eine Tatsache, dass viele Unternehmen inzwischen keine Arbeitszeiterfassung mehr führen, also nach dem Prinzip der Vertrauensarbeitszeit leben. Wahrscheinlich sind sich auch viele Unternehmen bewusst, dass dies an sich nicht zulässig ist. Bei der Überlegung, ob man Vertrauensarbeitszeit einführen will oder nicht, scheinen also die Vorteile zu überwiegen. So sehr, dass man als Unternehmen in Kauf nimmt, bei einer allfälligen Kontrolle durch das Arbeitsinspektorat die Arbeitszeit­erfassung wieder einführen zu müssen. Auf der anderen Seite ist es für viele Arbeitnehmende tatsächlich eine Art Vertrauensbeweis, wenn sie ihre Arbeitszeit nicht mehr erfassen müssen.

Vertrauensarbeitszeit fördert die Selbstkontrolle des Einzelnen, aber auch jene des Teams. Arbeitgeber gehen davon aus, dass ein Team unter sich regelt, wenn jemand zu wenig oder zu viel arbeitet. Leider ist das aber nicht immer der Fall und oft verkehrt es genau ins Gegenteil. Nicht selten tritt die Situation ein, dass die soziale Kontrolle zu einem Gruppendruck verkommt und es quasi zum guten Ton gehört, täglich mehr als die vereinbarte Arbeitszeit zu arbeiten. Klar, es gibt sie sicher, diejenigen Chefs, die das sogar ausdrücklich so verlangen. Oftmals entsteht dies aber ohne Anordnung, aus einer unguten Gruppendynamik und einem falsch verstandenen Loyalitätsverständnis heraus. Denn noch immer glauben viele Arbeitnehmende, sie seien dann gute Mitarbeiter, wenn sie möglichst viel arbeiten, also morgens früh kommen und abends spät gehen. Fragt man aber die Vorgesetzten, so ist es oft so, dass sie das gar nicht verlangen und manchmal sogar ausdrücklich dazu auffordern, weniger zu arbeiten.

Dem Mitarbeiter Gestaltungsfreiräume geben, und als Arbeitgeber diese ebenfalls nutzen zu dürfen, das sind die wahren Motive für mehr Wunsch nach Arbeitszeitflexibilität. Um das erreichen zu können, kann ein Unternehmen, muss aber nicht, die Vertrauensarbeitszeit einführen. Gerade die Arbeitszeiterfassung dient nämlich hervorragend dazu, die Arbeitszeit zu gestalten und flexibel zu halten. Fragen, was denn Arbeitszeit überhaupt sei, kommen immer auf, unabhängig davon, ob die Arbeitszeit aufgezeichnet wird oder nicht.

Um Überstunden nicht ins Unermessliche wachsen zu lassen, braucht ein Unternehmen zwei Dinge. Erstens eine gute vertragliche Überstundenregelung und zweitens eine gute Arbeitszeitführung. Die reglementarische Ebene ist die Voraussetzung für die Eindämmung der Überstunden und sie muss so gewählt werden, dass sie zum Unternehmen passt. Wenn die Regeln klar sind, kann schliesslich Führungsverantwortung gelebt werden. Nur wenn ein Vorgesetzter die Arbeitszeiten seiner Mitarbeitenden kennt und darüber auch wacht, kann verhindert werden, dass unnötig viele Überstunden geleistet werden. Klar, es lässt sich einfach sagen, die Zeitwirtschaft in einem Unternehmen sei «bloss» eine Führungsfrage. Die Realität ist bekanntlicherweise immer etwas komplexer.

Elektronische Zeiterfassungssysteme bieten genug Möglichkeiten, dem Wunsch nach Arbeitszeitflexibilität zu entsprechen. Am Ende muss aber auch der Zeitsaldo immer von Menschen begutachtet werden. Immer muss ein Mensch daraus Massnahmen ergreifen, sei es, dass der Vorgesetzte seine Mitarbeitenden auffordert, mehr zu arbeiten, um ein Minussaldo auszugleichen, oder sei es, dass der Vorgesetzte seine Mitarbeitenden anhalten muss, keine Überstunden mehr zu leisten. Diese wichtige Führungsaufgabe kann nur ein Mensch übernehmen, und nur er kann erkennen, wenn ein Mitarbeitender beispielsweise überlastet ist. Um diese für das Gesamtunternehmen elementare Aufgabe wahrnehmen zu können, braucht es grundsätzlich keine Zeit­erfassung. Sie dient aber sicher in der Umsetzung dieser Führungsaufgabe. Letztendlich ist es immer eine Frage der Unternehmenskultur.

Unternehmerischer Erfolg hängt nicht davon ab, wie lange die Mitarbeitenden arbeiten, sondern davon, wie sie arbeiten. Mit Spannung kann daher die Entwicklung in den nächsten Jahren beobachtet werden, wenn die junge Generation in den Arbeitsprozess einsteigt. Hier weiss man durch verschiedene Studien jetzt schon, dass junge Arbeitnehmende nicht mehr bereit sind, ganz selbstverständlich Überstunden zu machen, und sie verfügen längst nicht mehr über die Art von Arbeitgeberloyalität, wie sie heute noch verstanden und angetroffen wird. Letztendlich ist daher die Frage der Vertrauensarbeitszeit längst nicht mehr nur eine juristische oder strategische, sondern irgendwie auch eine gesellschaftliche.

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