Unter Retrozessionen (auch Retros oder Kick-backs genannt) werden in der Finanzbranche grundsätzlich geldwerte Leistungen verstanden, die beispielsweise ein unabhängiger Vermögensverwalter von Banken oder von anderen Finanzdienstleistern erhält, wenn er deren Produkte an Klienten verkauft beziehungsweise sie zu diesen Produkten führt. Als Beispiel: Ein unabhängiger Vermögensverwalter Y bringt seine Klienten zur Depotbank X. Die Depotbank X bezieht für ihre Leistungen Kommissionen von den Klienten des Vermögensverwalters Y und bezahlt diesem daraus Retrozessionen, weil er seine Klienten zur Depotbank X geführt hat.
Im Interesse des Klienten
Das Problem bei Retrozessionen liegt darin, dass sie beim Vermögensverwalter Anreize setzen können, die nicht zum Vorteil des Klienten sind. Ein Berater dürfte nämlich eher jene Produkte empfehlen, bei denen er die höchsten Prämien erhält. Unterliegt das Vertragsverhältnis zwischen dem Vermögensverwalter und seinen Klienten dem Auftragsrecht, was für gewöhnlich der Fall ist, so hat der beauftragte Vermögensverwalter im Interesse seiner Klienten tätig zu sein. Der Auftrag besitzt nämlich die Fremdnützigkeit als zentrales Element. Demzufolge dürfen die Interessen des Beauftragten, insbesondere seine finanziellen Interessen, in keinem Fall mit den Interessen des Klienten in Konflikt geraten. Bereits im Jahre 2006 hatte das Bundesgericht entschieden, dass Retrozessionen grundsätzlich dem Klienten gehören. Das Bundesgericht begründete dies mit der aus dem Auftragsrecht stammenden Rechenschafts- und Herausgabepflicht (Art. 400 OR). Danach ist der Beauftragte verpflichtet, auf Verlangen jederzeit über seine Geschäftsführung Rechenschaft abzulegen und alles, was ihm infolge derselben aus irgendeinem Grunde zukommt, zu erstatten (Art. 400 Abs. 1 OR). Diese Ablieferungspflicht betrifft nicht nur diejenigen Vermögenswerte, welche der Beauftragte direkt vom Auftraggeber zur Erfüllung des Auftrags erhält, sondern auch indirekte Vorteile, die dem Beauftragten infolge der Auftragsausführung von Dritten zukommen.
Vorteile für den Beauftragten
Der Beauftragte soll durch den Auftrag – abgesehen von einem allfälligen Honorar – weder gewinnen noch verlieren. Er hat daher alle Vermögenswerte herauszugeben, die in einem inneren Zusammenhang zur Auftragsausführung stehen. Der innere Zusammenhang bedeutet, dass eine sachliche Beziehung zwischen Vermögenswert und Auftragsausführung besteht. Behalten darf der Beauftragte lediglich, was er bei Gelegenheit der Auftragsausführung, ohne inneren Zusammenhang mit dem ihm erteilten Auftrag, von Dritten erhält.
Einhaltung der Treuepflicht
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gehören zu den indirekten Vorteilen des Beauftragten unter anderem Retrozessionen beziehungsweise Rückvergütungen. Rückvergütungen werden dem Beauftragten ausgerichtet, weil er im Rahmen des Auftrags bestimmte Verwaltungshandlungen vornimmt oder veranlasst. Sie fallen im Zusammenhang mit der Verwaltung des Vermögens an und unterliegen der Herausgabepflicht nach Art. 400 Abs. 1 OR. Die Pflicht zur Ablieferung ist – wie die Rechenschaftspflicht – ein zentrales Element der Fremdnützigkeit des Auftrags.
Die Herausgabepflicht lässt sich als Konkretisierung der Treuepflicht nach Art. 398 Abs. 2 OR verstehen. Sie garantiert deren Einhaltung und stellt insofern eine präventive Massnahme zur Wahrung der Interessen des Auftraggebers dar, indem sie der Gefahr vorbeugt, der Beauftragte könnte sich aufgrund der Zuwendung eines Dritten veranlasst sehen, die Interessen des Auftraggebers nicht ausreichend zu berücksichtigen.
Wann von einem inneren Zusammenhang der Zuwendung eines Dritten zur Auftragsausführung auszugehen ist, kann nicht für alle Auftragsverhältnisse abschliessend umschrieben werden. Als Beurteilungskriterien werden die Vermeidung von Interessenkonflikten und der Grundsatz, dass der Beauftragte – abgesehen vom Honorar – durch den Auftrag weder gewinnen noch verlieren soll, angewendet.
Bei Zuwendungen Dritter ist ein innerer Zusammenhang schon dann zu bejahen, wenn die Gefahr besteht, der Beauftragte könnte sich dadurch veranlasst sehen, die Interessen des Auftraggebers nicht ausreichend zu berücksichtigen.