Recht

Duale Berufsausbildung

Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Berufsbildung

Die duale Berufsausbildung – eine parallele Ausbildung in Betrieb und Berufsfachschule – gilt als Erfolgsgeschichte der Schweizer Wirtschaft. Grund genug, ein paar rechtliche Aspekte dieses Systems zu beleuchten.
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Die Berufsbildung basiert auf drei Säulen: Ausbildung im Lehrbetrieb, in der Berufsschule und an den «dritten Lernorten» (Überbetriebliche Kurse beziehungsweise ÜK). Bestimmungen zur ­Berufsbildung finden sich einerseits im Bundesrecht, so im OR und im Bundesgesetz über die Berufsbildung. Über jeden Beruf gibt es eine Verordnung des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI), so über die berufliche Grundbildung Kauffrau/Kaufmann mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ). Detaillierte An­gaben über die Handlungskompetenzen der einzelnen Berufe enthalten die jeweiligen Rahmenlehrpläne bzw. Bildungspläne. Weitere rechtliche Bestimmungen finden sich im kantonalen Recht. 

Der Lehrvertrag

Der Lehrvertrag ist in Art. 344 bis 346a OR geregelt. Es handelt sich um einen privatrechtlichen Vertrag, bei dem aber die ­Behörden mitzureden haben. Der unterzeichnete Lehrvertrag ist der kantonalen Behörde vor Beginn der beruflichen Grundbildung zur Genehmigung einzureichen. Die Ausbildung junger Menschen ist aufwendig: Standortgespräche führen, Lernjournale durchsehen, Fragen beantworten etc. gehören dazu. Wer bloss billige Arbeitskräfte sucht, ist als Lehrbetrieb nicht geeignet. Zu beachten sind insbesondere die (branchenspezifischen) Sicherheits- und Schutzbestimmungen. 

Auflösung des Lehrvertrags

Rund ein Viertel aller Lehrverträge wird vorzeitig aufgelöst. Gemäss Art. 346 OR kann das Lehrverhältnis während der Probezeit oder anschliessend aus wich­tigen Gründen gekündigt werden. In der Regel erfolgt die Auflösung im gegenseitigen Einvernehmen. 

Der Lehrbetrieb kann das Lehrverhältnis auflösen, wenn die lernende Person nicht über die für die Bildung unentbehrlichen körperlichen oder geistigen Anlagen verfügt oder gesundheitlich oder sittlich gefährdet ist (Art. 346 Abs. 2.a OR), das heisst, insbesondere bei ungenügenden Leistungen der oder des Lernenden. Wenn die lernende Person die Lehrabschlussprüfung nicht bestehen kann, muss das Lehrverhältnis gar aufgelöst werden. Verhalten und ein zerrüttetes Vertrauensverhältnis können ebenfalls eine Kündigung des Lehrvertrags rechtfertigen. 

Bildungsbewilligung

Die zuständige kantonale Behörde beaufsichtigt die Lehrverhältnisse und die Bildungsinstitutionen der beruflichen Grundbildung. Lehrbetriebe dürfen Lernende nur dann ausbilden, wenn sie über eine (kantonale) Bildungsbewilligung verfügen. Diese wird auf Gesuch hin erteilt, wenn unter anderem die nötige Infrastruktur vorhanden ist und die personelle Situation eine ausreichende Ausbildung der Lernenden gewährleistet. So muss eine Berufsbildnerin oder ein Berufsbildner im Betrieb mit ausreichendem Pensum beschäftigt sein. 

Ein Betrieb, in dem gemäss einer Betriebsexpertise bloss Modelle aus vergangenen Jahren und Attrappen der neuen Modelle ausgestellt werden und bei dem kein Berufsbildner mit einer anerkannten Ausbildung tätig ist, eignet sich beispielsweise nicht als Ausbildungsbetrieb für Detailhandelsfachfrauen und Detailhandelsfachmänner. 

Bildungsbewilligungen können befristet oder mit Auflagen versehen werden. Mit der Bildungsbewilligung sind zahlreiche Pflichten verbunden. So müssen Lehrbetriebe über die Ausbildung Bildungsberichte verfassen und einreichen. Auch die Noten der Lernenden oder die Auflösung eines Lehrvertrags oder Änderungen im Betrieb müssen fristgerecht bzw. umgehend gemeldet werden. 

Entzug der Bildungsbewilligung

Wenn deren «Bildung in beruflicher Praxis ungenügend» ist oder wenn die Berufsbildnerinnen und Berufsbildner nicht über die notwendigen fachlichen und persönlichen Eigenschaften verfügen, sie betriebliche oder andere gesetzliche Voraussetzungen nicht erfüllen oder ihre Pflichten verletzen, wird die Bildungsbewilligung entzogen. Die Aufsicht über die Betriebe obliegt den kantonalen Berufsbildungsämtern. 

Wer beispielsweise seine Lernenden tage- und wochenlang ihrem Schicksal überlässt oder wer nach dem Weggang der Berufsbildnerin nicht für eine Nachfolgerin sorgt, muss früher oder später mit Massnahmen der Behörden rechnen: Mahnungen, Betriebsbesuche und allenfalls die Androhung, die Bildungsbewilligung werde entzogen. Dringendes Handeln der Behörden ist angezeigt, wenn Klagen über Beschimpfungen und Belästigungen, fehlende Lohnzahlungen und erschöpfte Lernende laut werden. 

Idealerweise nimmt der Lehrbetrieb die Beanstandungen zum Anlass, die Prozesse zu überprüfen, Zuständigkeiten zu klären und in Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Ausbildung zu schaffen. 

Bevor ein Entzug der Bildungsbewilligung verfügt wird, muss dem Lehrbetrieb das «Rechtliche Gehör» gewährt werden: Der Betrieb erhält Gelegenheit, Vorwürfe an seine Adresse richtigzustellen oder darauf hinzuweisen, weswegen ein Entzug nicht gerechtfertigt wäre. «Stress im Betrieb» ist kein gutes Argument. Es lohnt sich in jedem Fall, das rechtliche Gehör wahrzunehmen. Wenn die angesetzte Frist ungenutzt verstreicht, wird die Behörde von der Richtigkeit der Vorwürfe ausgehen. Mit dem Entzug der Bildungsbewilligung werden die bestehenden Lehrverträge aufgelöst. 

Wenn der für die Bildung verantwortlichen Fachkraft die erforderlichen beruflichen Fähigkeiten oder persönlichen ­Eigenschaften zur Bildung der lernenden Person fehlen, ist dies im Übrigen auch ein Grund für den Lernenden, den Lehrvertrag (fristlos) zu kündigen (Art. 346 Abs. 2.b OR). 

Nachteilsausgleich

Personen mit Behinderung dürfen nicht diskriminiert werden. Sie haben daher einen Anspruch auf formale Prüfungs­erleichterungen, die ihren individuellen Bedürfnissen angepasst sind («Nachteilsausgleich»). Das Diskriminierungsverbot nach Art. 8 Abs. 2 Bundesverfassung wurde in den Bestimmungen des Behindertengleichstellungsgesetzes und durch die Gerichtspraxis konkretisiert. 

Der Prüfungsablauf muss demnach formal an spezifische Behinderungssituationen angepasst werden. Möglich sind Prüfungszeitverlängerungen, Pausen, eine stärkere Prüfungsgliederung, die Abnahme der Prüfung in mehreren Etappen oder die Benutzung eines Computers. Denkbar sind auch ein Arbeitsplatz in ­einem separaten Prüfungsraum, Gehörschutz und die Gewährung von Fragemöglichkeit bei Unklarheiten, beispielsweise bei Lernenden mit ADHS. Für die Ausgestaltung der Massnahmen hat die Schweizerische Berufsbildungsämter-Konferenz Empfehlungen publiziert (Empfehlung Nr. 7 vom 24. Mai 2023). 

Nachteilsausgleich bedeutet aber nicht, dass zentrale Fähigkeiten, die Gegenstand der Ausbildung sind, nicht mehr überprüft werden können. Personen mit Behinderung dürfen durch den Nachteilsausgleich nicht privilegiert werden. 

Regelmässig diskutiert werden die zulässigen Anforderungen an Lernende mit Dyslexie (Lese- und Rechtschreib­störung) oder Dyskalkulie. Dürfen Rechtschreibfehler berücksichtigt werden, wenn die Kandidatin an Legasthenie leidet? Wenn der Schwerpunkt der Prüfung auf der fachlichen Leistungsfähigkeit liegt, ist ein Nachteilsausgleich zulässig; wenn aber explizit die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten geprüft werden sollen, ist kein Nachteilsausgleich möglich. Im Fach «Sprache und Kommunikation» (Allgemeinbildung) wird aus diesem Grund kein Zeitzuschlag gewährt. 

Analog gilt, dass im Fach Mathematik die eigentlichen mathematischen/rechnerischen Fähigkeiten bzw. die Herleitung oder Wiedergabe einer mathematisch-fachlichen Kompetenz innerhalb einer vorgegebenen Zeit geprüft werden, weswegen kein Nachteilsausgleich gewährt wird. In anderen Fächern, welche zwar mathematische/rechnerische Kompetenzen erfordern, in denen diese Kompetenzen jedoch nicht überprüft werden sollen, ist der Nachteilsausgleich durch Zeitzuschlag zulässig.

In der Praxis führt das oft zu Unverständnis, wenn ein Landschaftsgärtner mit Legasthenie Pflanzennamen korrekt schreiben können muss oder wenn die Kandidatin mit ADHS keine Zeitzuschläge bei praktischen Arbeiten kriegt. 

Zeitzuschläge sind auch im Schulbetrieb möglich, dies jedoch nur innerhalb bestimmter Grenzen: Zeitzuschläge von 30 % sind aus organisatorischen Gründen im Schulbetrieb gar nicht umsetzbar; die Lektionen sind zu kurz, und die beaufsichtigende Lehrperson muss allenfalls das Zimmer wechseln. 

Entscheidend ist, dass der Nachteilsausgleich rechtzeitig beantragt wird, dies mit Beilage einer schulpsychologischen Abklärung oder eines Arztzeugnisses. Das gilt sowohl für die Berufsschule wie auch für das Qualifikationsverfahren. Gerade das zusätzliche Gesuch für das Qualifi­kationsverfahren geht gerne vergessen. Man muss damit rechnen, dass Berufsbildungsämter auf verspätete Gesuche nicht eintreten, da die Anpassung der Prüfungsbedingungen einen erheblichen administrativen Aufwand verursacht: Wegen Nachteilsausgleichsmassnahmen müssen oftmals ganze Prüfungsgruppen neu geplant und eingeteilt werden.

Eine absolute Gleichstellung von Menschen mit Beeinträchtigungen ist nicht möglich. Wer die Voraussetzungen für einen Beruf nicht (vollständig) mitbringt, kann in diesem Beruf keine Lehrabschlussprüfung bestehen. So ist es kaum möglich, die Ausbildung Fachfrau Bewegungs- und Gesundheitsförderung EFZ abzuschliessen, wenn man auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Das bedeutet nicht, dass die Person deswegen diskri­miniert wird. 

Verfahrensfragen

Für Streitigkeiten aus Lehrverträgen ist in der Regel das Arbeitsgericht zuständig. Entscheide der Berufsbildungsämter können mit Beschwerde angefochten werden. Die Zuständigkeiten unterscheiden sich von Kanton zu Kanton. Die Erfolgsaussichten von Rechtsmitteln sind in der Regel nicht allzu hoch. Es bringt mehr, wenn man das Gespräch mit den zuständigen Personen sucht, bevor ein unliebsamer Entscheid zugestellt wird.

Volljährige Lernende müssen ihre Verfahren selbstständig führen; ihre Eltern sind nicht (mehr) berechtigt, sie von Gesetzes wegen zu vertreten. Es ist aber zulässig, wenn Lernende ihren Eltern (oder anderen Personen) eine Vollmacht erteilen.

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