Mensch & Arbeit

Führungspsychologie

Zwischen Freiheit, Macht und Unterwerfung

Ob mehr Gestaltungsraum und Demokratie für die Mitarbeiter eines Unternehmens Fluch oder Segen sind, darüber ist man sich nicht immer einig. Die Geschichte der Menschheit zeigt, dass Freiheit jeweils eine vorübergehend empfundene Episode ist. Könnte der Ruf nach Selbst­bestimmung das Vorspiel einer neuen Form der Unterwerfung sein? Gedankenspiele.
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Subjekt im wörtlichen Sinne heisst «unterworfen sein». Im philosophischen Sinne versteht man darunter ein mit Bewusstsein ausgestattetes und erkennendes Wesen – den Menschen. Wir verstehen das Prinzip von Ursache und Wirkung. Wir sind in der Lage, Komplexität zu erfassen und zu abstrahieren. Sollten wir folglich nicht auch in der Lage sein, Macht und Unterwerfung in ein gesundes Miteinander zu wandeln?

Humanitäre Entwicklung

Greifen wir zuerst den Gedanken des Bewusstseins auf. William James, Begründer der psychologischen Forschung in den USA, hielt nicht technische und politische Innovationen für die Realisierung zukunftsweisender Visionen grundlegend, sondern die Änderung der menschlichen Geisteshaltung. «Die grösste Revolution des 19. Jahrhunderts dürfte die Entdeckung sein, dass die Menschen durch die Änderung der Geisteshaltung die äusseren Umstände ihres Lebens ändern können.»

Was Buddhisten seit mehr als 2000 Jahren vermitteln, James anfangs 20. Jahrhundert postuliert, kann der Neurowissenschaftler Richard Davidson beweisen: Die Gedanken formen tatsächlich die Struktur und Funktion der aktivierten Areale in unserem Grosshirn. Auf diese Tatsache bauen zum Beispiel Erziehung und Bildung, aber auch Politik und Religion. In der Tat können wir feststellen, dass gerade in den letzten 50 Jahren Rohheit und Skrupellosigkeit humanitären Strömungen weichen mussten.

Diese Entwicklung weiter fortgeschritten könnte bedeuten, dass der Mensch in der Lage ist, sozial destruktive Handlungen mit gemeinschaftsfördernden zu ersetzen. Auf die Wirtschaft übertragen, bedeutet dies, dass wir dieses Potenzial im Sinne von Mitbestimmung und unternehmerischem Handeln über die Management-Etagen hinaus sinnvoll nutzen könnten. Die hypothetische Frage im Zusammenhang mit Führung wäre dann: Was hat das für einen Einfluss auf die Führungsrolle?

Schattenseite der Freiheit

Bevor wir auf diese Frage eine Antwort suchen, schweifen wir hinüber zum zweiten Aspekt – den Aspekt von Macht und Unterwerfung. Seit es Leben gibt, gibt es auch Kampf. Heute geht es zumindest in Firmen darum, sich zu behaupten, um besser, potenter oder mächtiger zu sein. Es ist deshalb keine Überraschung, dass die wesentlichen Impulse für Kampf jeglicher Art vom Stammhirn, dem urtümlichsten Teil des limbischen Systems, gesendet werden. Und das passiert völlig unbewusst.

Lediglich die sozial anerkannte Methode des Kampfes wird im Grosshirn über die Fähigkeit der Vorstellungskraft und komplexem Denken in ein Verhalten mit einer spezifischen Absicht überführt. Die Wissenschaft ist sich nicht einig, ob der Verstand oder der Instinkt die Oberhand hat. Ist es der Instinkt, würde dies bedeuten, dass wir gar nicht so soziale Wesen sind, wie wir das von uns selbst glauben möchten. Meist wird zwar die Nase nicht blutig geschlagen. Schauen wir jedoch genau hin, zeigt sich die blutige Nase vermutlich in Form von rasant zunehmenden psychischen Instabilitäten bei Mitarbeitern und Vorgesetzten. Könnte dies eine Schattenseite der neuen Freiheit sein?

Vom Chef zum Coach

Fakt ist: Der Ruf nach flachen Hierarchien ist nicht zu überhören, einige Pioniere haben einen Teil ihrer Chefs wegrationalisiert oder die Chefs werden von den Mitarbeitern demokratisch gewählt, wie dies bei dem St. Galler Softwarehaus Haufe-Umantis AG der Fall ist. Aus Führungskräften werden Coaches und aus Mitarbeitern Gestalter. Das dafür notwendige gegenseitige Vertrauen impliziert, dass die Schuldfrage mit der Frage nach Lösungen ersetzt wird.

Selbst in den Unternehmen, in denen es starre Strukturen gibt und MbO’s die wesentliche Messlatte sind, ist der Ruf nach intrinsischen (von innen her kommend) Motivationsmethoden laut und deutlich. Diese sozialen Phänomene zu ignorieren, führt zunehmend zu «Dienst nach Vorschrift». In der Tat werden Organisationen durch die neuen Führungsgrundsätze zunehmend agiler und effektiver. Aber aufgepasst: Diese Übung könnte auch im Sumpf landen. Der Mensch braucht nämlich soziale Orientierung. Er braucht Referenzen sowohl bezüglich seiner konkreten Aufgabe als auch der Erwartungen anderer an ihn. Und er braucht Referenzen bezüglich seiner persönlichen Zielerreichung. Wenn es nicht mehr der Chef ist, der den Mitarbeiter führt, fördert und fordert, wer oder was kann dem Mitarbeiter die gewohnte Orientierung ersetzen – etwa ein neues System?

Alte und neue Unterwerfungen

Mit dem Thema soziale Orientierung hat sich C. G. Jung schon vor 80 Jahren beschäftigt. «Der Schritt weg von einem normativen System (z. B. Religionen) ist erst einmal kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt.» Was Jung vor 80 Jahren erkannte, wird im Zusammenhang mit mehr Selbstbestimmung und Gestaltungsraum am Arbeitsplatz (Aufgabenprofil, Werte, Grundsätze, Regeln, Gesetze) aktuell. Hier scheint einer der Schlüssel zum erfolgreichen Projekt zu sein. Wir irren uns nämlich, wenn wir glauben, dass wir durch Selbstbestimmung freie Menschen sind. Wir merken erst nach geraumer Zeit in der Freiheit, dass wir von einer alten Unterwerfung in eine neue Unterwerfung hineinwachsen, nämlich die der Zwänge und Selbstzwänge in Form von Leistung und Optimierung.

Jemand, der Job, Familie und dazu ein öffentliches Amt oder ein publiziertes Buch unter ein Dach bekommt, wird heute bewundert. Marathon, Yoga und polierte Fingernägel gehören oft zum Paket dazu. Eine schlechte Frisur könnte der Karriere einen Strich durch die Rechnung machen. Und wer im Leben scheitert, der macht sich selbst dafür verantwortlich. Weder das eine noch das andere ist zu werten. Stellen wir uns lediglich die Frage: Wie frei sind wir wirklich?

«Freiheit» ist im Grunde genommen ein Beziehungswort, so wie «Subjekt» auch. Wirklich frei fühlt man sich in einer gut funktionierenden Beziehung zu Familie, zu einer Arbeitsgemeinschaft, aber auch in Beziehung zu Materiellem. Die totale Individualität der neoliberalen Tendenz macht mehr als alles andere abhängig von äusseren und inneren Zwängen. «Der Neoliberalismus ist ein sehr effizientes, ja intelligentes System, die Freiheit selbst auszubeuten», schreibt der deutsch-ko­reanische Wirtschaftsphilosoph Byung-Chul Han in seinem Buch «Psychopo­litik». Han vertritt die Meinung, dass Neoliberalismus eine Mutationsform des Kapitalismus ist. Eine Strömung, die aus dem Arbeiter einen Unternehmer macht, und jeder ein sich selbst ausbeutendes Subjekt des eigenen Unternehmens ist. Jeder sei Herr und Knecht in einer Person. Realität oder Schwarzmalerei?

Zusammenarbeit neu formen

Dagegen schreibt Prof. Dr. Isabell M. Welpe, dass der Mensch von heute mitent­scheiden wolle. Sie sieht diese Entwicklung als logische Folge der sozialen Entwicklung in modernen Unternehmen. Eine Entwicklung, in welcher der Verstand die niederen Motive kontrolliert – wo Sinn und Zweck von Denken und Handeln unter den Schirm von Mitbestimmung und Mitverantwortung gestellt werden. Die Diskussion gehe allein in die Richtung, wie gross dieser Gestaltungsraum jeweils sein darf. «Wir müssen schnellstens damit anfangen, nicht nur über technologische Innovation zu reden.»

Es geht offenbar um neue, anspruchsvolle Formen der Zusammenarbeit und des Zusammenlebens – denn Freiheit bedeutet immer auch Verantwortung. Allerdings dürfen wir die Tatsache nicht ignorieren, dass unsere Instinkte in ständigem Konflikt mit dem Verstand sind und nicht immer vorauszusagen ist, welcher Antrieb gewinnt. Deshalb wird Bewusstsein und Reflektion ein unabdingbares Paar der Neuen Organisation.

Organisatorische Transformation

Die Fragestellung ist natürlich zu komplex, als dass man sie hier in wenigen Zeilen beantworten könnte. Vom Ansatz her lässt sich jedoch eine Hypothese bilden. Frei sein, heisst unabhängig sein. Damit ist nicht die Unabhängigkeit eines Singles, eines Einzelunternehmers oder eines Trampers gemeint. Wir reden von einer inneren Unabhängigkeit, diejenige, die nicht muss, aber kann. Jung sprach in diesem Zusammenhang von der Individuation. Die Individuation der zweiten Hälfte des aktiven Lebens sei eine Phase, in der man sich nicht mehr anpassen muss und in der man niemandem mehr genügen muss. Man tut, weil man will. Es sei ein innerer Prozess, der sich mehr oder weniger unbewusst und natürlich aufdrängt. Meine Beobachtung ist, dass dieses Phänomen heute schon viel früher im Lebenslauf auftritt. Bei den einen endet er in Passivität und Resignation, bei den anderen in ein zufriedenes, aktives Leben. In diesem Ansatz sehe ich einen wesentlichen Lösungsansatz für das Gelingen der organisatorischen Transformation in Unternehmen. Denn das, was in den psychischen Dispositionen eines Individuums abläuft, das läuft auch in einer Gemeinschaft ab.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist Selbstbestimmung nicht zwingend ein Fallstrick des Neoliberalismus, sondern ein höchst erstrebenswerter Zustand, ein Segen eben. Eine Unabhängigkeit, die es zulässt, mit anderen verbunden zu sein. Eine Illusion? Nein. Aber eine Lebensaufgabe. Aus diesem Blickwinkel gesehen ist für mich die Entwicklung zu mehr Mit­bestimmung und Eigenverantwortung die grosse soziale Herausforderung unserer Zeit. Ich bin trotz aller Kritik von De­mokratie-Skeptikern der Meinung, dass dieser Entwicklung nichts im Wege steht, ausser dem üblichen Widerstand der Innovationsmuffel. Wir können etwas nicht stoppen, das schon passiert. Wir können nur lernen, damit sinnvoll umzugehen.

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