Mensch & Arbeit

Unternehmenskultur

Wie Selbstberuhigung zum Wirtschaftsfaktor werden kann

Emotionaler Stress macht das Leben schwer. Ein stressbeladenes Arbeitsumfeld wirkt sich negativ auf die Gesundheit der Mitarbeiter und letztlich auch auf den Umsatz des Unternehmens aus. Der Beitrag beschreibt die Bausteine für eine stressfreie Unternehmenskultur.
PDF Kaufen

«Vorsicht, heute bringt ihn mal wieder jede Kleinigkeit auf die Palme.» «Wenn das Chaos so bleibt, fällt der Termin bestimmt ins Wasser.» Ist der Chef im Stress, färbt das aufs ganze Team ab. Das ist nicht nur für die Mannschaft belastend, sondern auch für die Führungskraft selbst. Ausserdem schlägt sich eine stressgeladene Unternehmenskultur negativ im Umsatz und in der Gesundheit der Mit­arbeiter nieder. Aber warum sind wir in der Arbeitswelt überhaupt so häufig unter Strom? Wieso scheint die Welt immer
anstrengender?


Emotionaler Stress mit Folgen


Die Wahrheit ist, emotionaler Stress ist nicht einfach so da. Wir produzieren ihn selbst. Ursprünglich ist der Stress-Modus gedacht, um unser Überleben zu sichern. Nicht mehr und nicht weniger. Bedroht uns ein heranfahrender Laster, springen wir reflexartig zur Seite. Es fliessen Stresshormone wie Adrenalin und Noradrenalin, um eine schnelle Reaktion zu ermöglichen und unser Leben zu retten. Eine perfekte Einrichtung.

Heutzutage macht uns jedoch eher emotionaler Stress das Leben schwer: ein vergessener Anruf, ein schwieriger Vortrag, ein Bewerbungsgespräch, der Ausfall einer Maschine. Der Unterschied: Stehen wir im Stau oder zickt der Computer, ist das zwar unangenehm, aber nicht lebensbedrohlich. Die üblichen Antworten – Kampf, Flucht oder Erstarrung – helfen bei solch emotionalen Bedrohungen nicht. Erfolgt keine passende Lösung, feuert der Stress-Modus immer weiter.

Unter diesem Daueralarm leidet der Körper: Müdigkeit, Blackout, Krankheit, Erschöpfung. In diesem Zustand empfinden wir jede Kleinigkeit als Angriff. Hürden wirken grösser, Aufgaben komplizierter und überhaupt scheint die Welt sich gegen einen verschworen zu haben. All das schlägt sich in der Arbeitsleistung nieder: Menschen sehen eher schwarz und finden weniger Lösungen. Stress hemmt die Kreativität und Energie, es passieren unnötige Fehler. Dass das die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens auf Dauer bedroht, liegt auf der Hand.


Fühlen und leisten


Der Mensch braucht zum Fühlen fast drei­mal so viel Energie wie zum Denken. Emotionale Achtsamkeit aber ist wichtig, um das Richtige zu tun, zu sagen oder um kreativ zu sein. Konflikte und Stress können so viel Kraft kosten, dass nicht mehr genügend Energie zum Fühlen übrig bleibt. Probleme kreisen dann im Kopf wie eine gebrochene Schallplatte, verfestigen sich, ohne in neue Ideen zu münden. Ein belastendes Arbeitsumfeld entsteht beispielsweise durch zu viel Druck und Multitasking, starre Regeln sowie übermässige Einschränkungen. Es gibt Unternehmen, die Arbeitsverträge nur dann verlängern, wenn Mitarbeiter wenig Krankheitstage vorweisen. Andere Firmen bieten vorwiegend befristete Arbeitsverhältnisse an, überwachen ihre Mannschaft technologisch auf Schritt und Tritt, lassen viele Berichte schreiben, verlangen Erreichbarkeit nach Dienstschluss, reglementieren die Überstunden oder streichen Personal. All das wirkt emotional höchst bedrohlich.

Wege zum stressarmen Umfeld


Wer sich für ein emotional stresskom­petentes Unternehmen entscheidet, betrachtet den Menschen nicht nur als Produktivitätsfaktor, sondern bezieht sein fühlendes Wesen mit ein. Diese Organisationen berücksichtigen, dass Menschen individuell funktionieren. Sie integrieren im Alltag kleine Momente der Entspannung und vermitteln Sicherheit und Vertrauen. Es gibt verschiedene Wege, ein stressarmes Umfeld zu schaffen. Wer diese Bausteine beherzigt, hat schon viel getan.

Eine motivierende Vision
Menschen sind motivierter und engagierter, wenn ihre Arbeit einem inspirierenden höheren Sinn dient. Dann kommen sie in einen gesunden Flow. Fehlt der Sinn, wächst der Stress. Dort, wo Mitarbeiter den Sinn erkennen, gibt es weniger Krankheitstage. Leider hängen in vielen Unternehmen eher langweilige Leitbilder an den Wänden: «Wir sind der beste Energielieferant der Region.» Eine inspirierende Vision sieht anders aus. Sie beinhaltet einen Mehrwert oder eine Optimierung, die den Menschen, der Natur oder Gesundheit, der Bildung, dem Wohlstand oder einem anderen Wert dient.

Ein paar Beispiele: Villeroy & Boch hatte nach dem Krieg für saubere Badezimmer geworben, in denen sich die Menschen äusserlich reinigen und gleichzeitig ihre Gesundheit steigern konnten. Das war Bal­sam für die damalige Zeit. Später wurde eine andere Vision attraktiv: Man ging von der Sauberkeit zum Design und machte Badezimmer zum ästhetischen Wohlfühlfaktor. Die soziale Vision von Walmart ist es, einfachen Menschen zu ermöglichen, die gleichen Dinge kaufen zu können wie Wohlhabende.

Emotionale Bindung an das Unternehmen
Je mehr sich Mitarbeiter emotional ans Unternehmen gebunden fühlen, desto mehr Produktivität, Qualität, Kundenbindung und weniger Fehlzeiten gibt es. Nicht ohne Grund ist die Mitarbeiterbindung in mittelständischen Unternehmen deutlich höher als in Konzernen. Die Gallup-Studie 2016 stellte fest, dass die Möglichkeit, das zu tun, was man richtig gut kann, fünfmal wichtiger ist als das Ge­-halt und sonstige Annehmlichkeiten wie Arbeitsplatzsicherung oder Sozialleistungen. Das heisst: Wo Mitarbeiter sich selbst verwirklichen können, entwickelt sich mehr emotionale Bindung als nur durch gute Rahmenbedingungen.


Eine kluge Fehlerkultur
Ob Mitarbeiter stressfrei und kreativ arbeiten können, hängt auch von der Fehlerkultur ab. Wer sich in einem ent­spannten, angstfreien Zustand befindet, probiert eher neue Prozesse aus und wagt sich über den Tellerrand des Status quo. Die wichtigste Erkenntnis: Irrtümer sind nötig, um auf dem Weg der Weiterentwicklung Erfahrungen zu sammeln. In der Theorie ist das vielen klar, in der
Praxis läuft es häufig anders. Fehltritte werden an den Pranger gestellt und erzeugen Stress. Als Folge verliert das Unternehmen seine wichtigste Ressource: das kreative Entwicklungspotenzial seiner Mitarbeiter. Ausserdem spornt solch eine Kultur eher an, Missstände nicht zuzugeben, sondern zu vertuschen. Dabei sind schon viele Innovationen und neue Sichtweisen entstanden, weil ein sogenannter «Fehler» passiert ist. Ein kluger Umgang mit Fehlern wäre, sie als Lern­erfahrung zu analysieren und als Schritt
hin zu neuen Ideen zu betrachten.


Die Führungskraft: …  
Stress und innere Kündigung sind häufig die Folge von schwachem Führungsverhalten. Wenn der Chef einen guten Arbeitsrahmen strukturiert und ordnet – und trotzdem für kreative Freiräume sorgt – können Mitarbeiter sich in ihren Stärken entfalten. Wenn jemand «in charge» ist, kann sich jeder beruhigt auf seine Aufgaben konzentrieren und hohe Leistung erzielen. Der stetige und offene Dialog zwischen Team und Chef ist ein erheblicher Faktor für eine entspannte, energetische Unternehmenskultur. Emotionale Stresskompetenz für Manager bedeutet, sich der folgenden Rollen bewusst zu sein:

… als Stammesführer
Wer führen will, braucht zuerst Selbstführung. Emotionale Kompetenz gehört genauso zur Verantwortung als Führungskraft wie die eigene Fachkompetenz. Hier helfen – um nur eine Auswahl zu nennen – Integrität, das Wahrnehmen und Annehmen der eigenen Emotionen, Empathie, konstruktive Selbstgespräche, Kommunikations- und Konflikt-Kompetenz sowie Selbstregulierung bei Stress. So entsteht eine klare Präsenz, die der Mannschaft das Gefühl vermittelt, dass die Führungskraft da ist, wenn sie gebraucht wird – sei es für Strukturierung, Empathie, Feedback oder Hilfestellung. Eine Führungskraft dient emotional und archaisch als ordnende Kraft, die Sicherheit schafft. Fällt diese Rolle weg oder wird sie nicht wahrgenommen, wirkt sich das beunruhigend auf das ganze System aus.

Zur Erklärung: In frühzeitlichen Kulturen war die Erfüllung der physischen Bedürfnisse wie Nahrung, Obdach und Schutz etwas, was ein guter Stammesführer seinem Stamm garantiert hat. War er präsent und aktiv, beruhigte das die Stammesmit­glieder. War er physisch oder emotional abwesend, war das eine Be­drohung, die Unruhe und Ängste in den Mitgliedern erzeugt hat. Eine Führungskraft erfüllt stellvertretend die Funktion des Stammesführers. Mit der Annahme dieser Rolle dient der Chef seinem Team mehr, als ihm vielleicht bewusst ist.

… als Orientierungsgeber
Neben dem Stammesführer dient die Füh­rungskraft auch als Orientierungsmarke. Sicherheit gibt der Chef nicht durch Befehle, sondern durch klare Kommunikation, zielorientiertes Führen, kluge Organisation und Konsequenz. Eine grosse Rolle spielt das Thema Verantwortung. Auch wenn einem als Chef die Decke auf den Kopf fällt und so einiges gegen den Strich geht, ist es wichtig, die Verantwortung für seine Aufgaben bei sich zu lassen und eine Opferhaltung zu vermeiden. Aber auch, die Verantwortung, die Mit­arbeiter für ihre Aufgaben übernommen haben, bei ihnen zu lassen. Jammern – auch still und innerlich – konserviert Probleme und hilft nicht. Nur wer in der Rolle des Gestalters bleibt, gibt der Stress-­Reaktion keine Chance. «Ich bin 100 Prozent verantwortlich, wenn sich hier etwas ändern soll.» Dieser Satz bringt Kraft.


Stress oder Flow?


Wer stressfrei führen möchte, sollte sich bewusst machen, dass Menschen in jeder Situation die Wahl haben: Widerstand oder Akzeptanz und Neugier. Ersteres mutiert fast immer zu emotionalem Stress. Denn Bedrohung ist der Auslöser dafür. Der Auslöser für Bedrohung jedoch ist Widerstand gegen etwas oder jemanden. Denn der Stress-Modus möchte gegen das Abgelehnte, das Bedrohliche schützen. Akzeptanz und zuversichtliche Offenheit mutieren zu Energie und Flow. Egal, wie der Chef sich entscheidet, die jeweilige Stimmung färbt aufs Team ab – und somit auf die Umsatzzahlen.

Eine Führungskraft, der es gelingt, überwiegend konstruktive Gedanken einzuschlagen, einen inspirierenden Sinn im Unternehmen zu vermitteln und Chancen in Fehlern zu entdecken, hat schon viel für eine kreative, stressfreie Arbeitskultur getan. Wer emotional kompetent ist, kann so manchen Misserfolg vermeiden.

Besonders in Zeiten von Digitalisierung und Komplexität ist es wichtig, für die Wiedereinführung des Menschen in Unternehmen zu plädieren. Nur so können Menschen und Unternehmen langfristig mit dem technischen Tempo und der modernen Gesellschaft mithalten.

Porträt