Mensch & Arbeit

Stressprävention

Wie die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter erhalten bleibt

Schweizer Unternehmen sind immer mehr gefordert, Stress und Burnout ihrer Mitarbeiter vorzubeugen. Doch was gehört zu einer professionellen Stressprävention? An welchen Hebeln müssen die Firmen ansetzen? Die Knackpunkte liegen nicht nur im organisationalen Bereich. Von Bedeutung ist auch, ob die Mitarbeiter Sinn in ihrer Arbeit finden.
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Die jüngsten Ereignisse und Nachrichten aus der Unternehmenswelt zeigen es: Schweizer Manager stehen unter extremem Druck; das Thema Burnout ist ein drastisches Problem. Und dies nicht nur in den Top-Etagen. Leistungs- und Ergebnisdruck, unterschiedliche strategische Ansichten, Anforderungen von Stakeholdern, Erwartungen des privaten Umfelds können jeden aus der Balance bringen. Laut dem aktuellen Monitoringbericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) steigt die Zahl der psychisch und physisch Erschöpften insgesamt. Rund jede sechste Person in der Schweiz leidet an einer psychischen Störung. Und die durch Stress bedingten Beschwerden verursachen jährlich Kosten in Milliardenhöhe.

Stress-Verursacher

Zeit zum Handeln: Die krankheitsbedingten Fehlzeiten, aber auch die Leistungsminderung durch Stress in den Griff zu bekommen, muss zur Aufgabe schlechthin in den Unternehmen werden. Schlies­­s­­­lich sind ihre Mitarbeiter bzw. deren Know-how, Kompetenz und Engagement ihr wichtigstes Kapital. Es gilt, ihre Leistungsfähigkeit zu erhalten. Doch was ist zu tun, um Totalausfällen von Mitarbeitern vorzubeugen? Wie funktioniert wirksame Stressprävention? Mit flexiblen Arbeitszeiten und dem Angebot von Entspannungskursen ist es nicht getan. Statt Einzelprojekte ist strategischer Weitblick vonnöten. Hierzu müssen jene Faktoren betrachtet werden, die im Berufsleben negativen Stress bis hin zu gesundheitlichen Auswirkungen verursachen können: organisational-prozessuale, interpersonale und intrapersonelle.

Schlechte Führung

Organisationale Faktoren betreffen in der Regel physische Belastungen – etwa zu viele Überstunden, zu wenige Pausen, starke körperliche Anforderungen oder falsche Ergonomie. Zudem spielen organisatorische Belastungen eine Rolle: Besteht beispielsweise unnötige Bürokratie? Sind Arbeitsabläufe nicht optimal? Ist die Entscheidungskultur im Unternehmen eventuell zu kompliziert? Und – ganz wichtig: Wie steht es um die Führungskompetenz der Vorgesetzten? Verstehen sie es zu motivieren, zu unterstützen und zu fördern?

Mitarbeitende, die sich von ihrem Chef

nicht verstanden, gefördert, wertgeschätzt oder gar falsch eingesetzt fühlen, stehen unter einer stärkeren Stressbelastung als jene, die mit ihrem Vorgesetzten zufrieden sind. Denn sie sind psycho-sozialen Belastungen ausgesetzt, die häufig demotivierend wirken. Auch mobbende Kollegen oder nicht funktionierende Teams führen zu psycho-sozialem Stress. Zu checken und zu hinterfragen sind also nicht nur die Beziehung vom Vorgesetzten zum Mitarbeiter, sondern auch die Stimmung und das Verhältnis im Team: Gibt es viele Konflikte im Team? Müssen die Mitarbeiter eventuell mit fachlich inkompetenten Kollegen zusammenarbeiten? Arbeiten die Mitarbeiter (teilweise) bis an die Grenze der Belastbarkeit? 

Individuelle Belastungsfaktoren

Während sich organisationale Faktoren der Stressbelastung meist auf ganze Ab­teilungen auswirken und relativ offensichtlich sind, sind die intrapersonellen Faktoren von Mensch zu Mensch sehr unter­schiedlich: Was zum Beispiel der eine Mitarbeiter noch als wohltuendes Kon­kurrenz­verhalten empfindet, kann den anderen innerlich aufreiben, was der eine als Herausforderung erlebt, kann die andere zu nächtelangem Grübeln bis hin zu psychosomatischen Störungen bringen.

Es ist also wichtig, die individuellen Belastungsfaktoren zu hinterfragen – etwa die stress- und konfliktfördernden Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster der einzelnen Mitarbeiter durch verinnerlichte Normen und Wertvorstellungen, denen sie gerecht werden wollen. Um der dadurch entstehenden inneren Spannung zu entkommen, setzen viele Menschen unbewusste, verinnerlichte Verhaltensmuster, Haltungen und Denkweisen ein, die meist der Realität nicht entsprechen. Solche «Fehlhaltungen» haben auf das Alltags- und Berufsleben nachweislich einen negativen Einfluss.

Zudem ist die Motivationslage des Mitarbeiters entscheidend. Oft erlebe ich in meiner Beratungsarbeit, dass die Mit­arbeiter ihre Arbeit nicht als sinnvoll erleben. Sie können sich nicht mit ihren Kernaufgaben identifizieren, sehen wenig bis keine freien Gestaltungsmöglichkeiten in ihrem Job und/oder können die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen nicht ausleben. Das Gefühl der Sinnhaftigkeit, das der Mitarbeiter am Arbeitsplatz erlebt, ist laut Arbeitspsychologen und ihrem heutigen Stand der Wissenschaft ein ganz entscheidender Faktor. «Haben wir das Gefühl, dass wir etwas Sinnvolles tun, sind wir nicht nur resilienter gegen Stressoren, wir erleben auch mehr Freude an der Aufgabe und haben besseren Zugang zu unseren inneren Ressourcen. Um­gekehrt führt eine erlebte oder empfundene Sinnlosigkeit der Arbeitsaufgabe schnell in die Abwärtsspirale», sagt z. B. der Schweizer Psychiater, Coach und medizinische Gutachter Andreas Canziani.

Die Kenntnis darüber, inwieweit die Motivation der Mitarbeiter durch Sinnfindung am Arbeitsplatz eingeschränkt ist und wo versteckte Ressourcen und Entwicklungspotenziale liegen, ist für ein Unternehmen daher von grossem Wert. Denn dies liefert – ebenso wie das Wissen über die organisationalen und psycho-sozialen Belastungen – klare Hinweise für ein zielgerichtetes betriebliches Gesundheitsmanagement sowie konkrete Ansätze für eine unterstützende Personal- und Organisationsentwicklung.

Die Stressanalyse

Freilich bedarf es eines grösseren Analyseprozesses, um hier die Weichen zu stellen. Mittlerweile gibt es eine kleine Zahl an speziellen validierten Testverfahren, die dabei Unterstützung bieten. Das Tool «MOA-Business» (MOA steht für «Mean­ingful Occupation Assessment») zum Beispiel berücksichtigt neben organisationalen die beschriebenen intrapersonellen Aspekte der Stressbelastung. Es zeigt somit u. a. auf, ob eine Demotivation durch Sinnentfremdung gegeben ist und untersucht, wie stark sich jemand durch bestimmte Dynamiken – immer stark sein wollen, perfekt sein wollen oder das Sich-anstrengen-Müssen – selbst unter Druck setzt und somit Stress «Marke Eigenbau» betreibt. Gleichzeitig liegt die Konzentration bei dem Testverfahren auch darauf, wie stark Widerstandsressourcen bei der jeweiligen Person ausgeprägt sind, über welche Bewältigungsstrategien sie verfügt. Das heisst: Mit dem Tool wird nicht nur gemessen, was krank macht, sondern auch, was jemand tut, um gesund zu bleiben (salutogeneser Ansatz).

Der Auswertungsreport von MOA zeigt an, in welchem der genannten Faktorenbereiche Stressoren liegen. Zudem ist erkennbar, wenn individuelle Stressbelastungen zu hoch sind, so dass auf akute Gefahren reagiert werden kann. Zusätzlich liefert der Auswertungsbericht dem Unternehmen und den Mitarbeitern Hinweise, um intervenieren zu können und eine ziel­gerichtete, ressourcenorientierte und unterstützende Personal- und Organisationsentwicklung sicherzustellen: Wo und wie kann das Unternehmen besser und nachhaltiger aufgestellt werden?

Ansatzpunkte, um die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter zu erhalten, sind dabei ebenfalls zu finden. Hierbei unterstützt u. a. ein Screening in Form von anonymisierten Unternehmens- und Abteilungsanalysen, die anzeigen, wie die Organisation leistungsmässig aufgestellt ist. Auch weisen die Analysen auf schlummernde Potenziale hin.

Gegenmassnahmen

Das Tool ist schon mehrfach im Einsatz – z. B. bei der Telis Finanz AG, die sich ob der extremen Anforderungen für ihre Mitarbeiter im Finanzvertrieb präventiv dem Thema Burnout-Prophylaxe angenommen hat. Nach abgeschlossener Stressanalyse hat das Unternehmen reagiert und erste Massnahmen getroffen, die dem Stress der Vertriebsmitarbeiter entgegenwirken sollen. So hat das Unternehmen z. B. ein Instrument entwickelt, mit dem die Mitarbeiter ihre Wochenplanung machen können. Zusätzlich zu geschäftlichen Terminen müssen hier die privaten Termine wie Zeit für Sport oder für Familie und Freunde eingetragen werden. So soll im Auge behalten werden können, dass geschäftliche und private Termine immer im ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen.

Dass es aber nicht allein um Zeitmanagement geht, sondern vor allem auch um bessere Selbstführung, ist der Telis Finanz AG bewusst. Hierzu Christian Achhammer, Vorstand Vertrieb bei Telis: «Ich habe gelernt, zu delegieren und auf die Kompetenz und Loyalität meines Teams zu vertrauen – beispielsweise indem ich mein E-Mail-Postfach von Mitarbeitern mitbearbeiten lasse oder während freier Tage eine Rufumleitung ins Handy gebe, so dass ich mich in solchen Zeiten der Entspannung nur noch um die wirklich dringenden Themen kümmern muss.»

Seine Aussage macht deutlich: Zur Delegation gehört auch Vertrauen. Vertrauen darauf, dass auch andere Menschen Aufgaben gut bewältigen. Die Erwartungshaltung muss im Erreichen des Ziels liegen und nicht darin, wie jeder einzelne Schritt dahin zu gehen ist.

Diese Haltung von Christian Achhammer ist ein wichtiger Schritt in Richtung gesunder Führungskultur und praktiziertem Wertemanagement, – kurz: einer «Balance of Performance». Und das wiederum ist die wirkliche Herausforderung im Rahmen eines in das gesamte Unternehmen und seinen Prozessen in-tegrierten betrieblichen Gesundheitsmanagements.

Physische Belastung

  • schwere körperliche Anforderungen
  • geringe Unterstützung durch ergonomische Einrichtungen
  • hantieren mit gefährlichen Substanzen ohne ausreichenden Schutz
  • oftmaliges Arbeiten am Wochenende – zu viele Überstunden
  • zu wenige Pausen
  • zu grosser Arbeitsumfang bzw. Personalmangel

Psycho-soziale Belastung

  • zu wenig Unterstützung bei starken Belastungen
  • zu geringe Selbstbestimmungsmöglichkeiten
  • kommunikation mit Kunden, die über die «normale» Dienstleistung hinausgeht
  • zusammenarbeit mit fachlich inkompetenten Kollegen
  • konfliktbeladenes Teamklima
  • arbeiten bis an die Grenze der Belastbarkeit

Organisatorische Belastung

  • mangelnde Führungskompetenz der Vorgesetzten
  • unnötige Bürokratie
  • unnötige Unterbrechungen der Arbeitsabläufe
  • unnötiges Einmischen anderer Abteilungen in den organisatorischen Ablauf der eigenen Arbeit
  • zu hoher Anteil abteilungsfremder Tätigkeiten
  • komplizierte Entscheidungskultur

Individuelle Belastung

  • zu wenig Zeit für das Privatleben
  • schlechtes Gewissen, zu wenig für die Kunden zu tun
  • mangelnde Rücksichtnahme auf die eigenen Ressourcen
  • dauernde Rücksichtnahme gegenüber Kollegen
  • mangelnde Mitentscheidungsmöglichkeiten
  • extreme Konflikte (z. B. Mobbing)
Porträt