Mensch & Arbeit

Arbeitspsychologie II

Über den richtigen Umgang mit Angst

Wie viel Angst ist gut für uns? Diese Frage lässt sich nicht ganz einfach beantworten. Denn wie sie wirkt, hängt von der Dosis ab. Angst kann lähmen oder befeuern. Richtig mit ihr umgegangen ist sie eine riesige Ressource – vielleicht sogar eine unserer grössten.
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Angst wird in unserer Kultur als negative Emotion klassifiziert. Sie gilt als irrational und unprofessionell. Menschen, die Angst haben, sind schwach und unfähig. Wir glauben, dass Angst lähmt und uns erstarren lässt. Daher versuchen wir, die Angst zu vermeiden, so gut es geht. Was wir dabei übersehen: Angst ist eine unserer grössten Ressourcen. 

Negativ belegt

Unsere negative Prägung in Bezug auf Angst passiert schon in der frühen Kindheit. Wenn wir als Kind Angst hatten, zum Beispiel vor der Dunkelheit, dann wurde diese Angst meist belächelt oder als dumm abgewertet. «Du brauchst keine Angst zu haben. Das ist überhaupt nicht schlimm. Jetzt stell dich nicht so an, du bist ein richtiger Schisser!» Angst gilt als irrational und daher sollten Erwachsene auch keine Angst haben. «Angst ist ein schlechter Berater», heisst ein deutsches Sprichwort.

Wir empfinden das Gefühl Angst als unangenehm. Daher meiden wir die Angst wie der Teufel das Weihwasser und verdrängen sie ins Unbewusste. Wir schlies­sen Versicherungen ab, geben uns der Illusion von Sicherheit und Kontrolle hin und bleiben innerhalb der uns bekannten Grenzen unserer Komfortzone, nur um keine Angst fühlen zu müssen. Also haben wir früh gelernt, die Angst wegzupacken – sehr zur Freude all derjenigen Branchen, die uns Produkte verkaufen wollen, welche uns das Leben angeblich sicherer machen. Wer sich mal bewusst die Fernsehwerbung ansieht, wird feststellen, dass viele Produkte und Spots genau auf unsere Angst vor der Angst abzielen. Unsere unbewusste Angst vor der Angst macht uns zu gut manipulierbaren Konsumenten und zu braven, angepassten Bürgern, die möglichst wenig Risiken eingehen. 

Selbst in den meisten spirituellen Lehren wird die Angst als etwas Negatives dar­gestellt. Da wird zum Beispiel Angst sehr häufig als das Gegenteil von Liebe de­klariert. Insgesamt werden sogenannte «negative» Gefühle als Indiz dafür genommen, dass wir noch zu sehr mit un­serem Ego verhaftet sind oder eben noch nicht spirituell entwickelt genug. 

Angst als Ressource

Aber ganz neutral gesehen, ist Angst neben Wut, Traurigkeit und Freude eines unserer vier primären Grundgefühle. Wenn wir davon ausgehen, dass Gefühle kein Designfehler der Schöpfung sind, sondern eine nützliche menschliche Fähigkeit, dann müsste auch die Angst einen Nutzen haben. Es ist schwer, sich das überhaupt vorzustellen. Ein Nutzen lässt sich relativ schnell identifizieren: Angst lässt uns in neuen Situationen vorsichtig vorgehen. Die Information, die Angst in dem Moment gibt, könnte lauten: «Achtung, hier kommt etwas Neues, sei vorsichtig!» Angst beinhaltet also eine Schutz-Funktion. 

Wenn man Neuland betritt, ist immer Angst im Spiel – jeder, der etwas anderes behauptet, ist ein Lügner, gefühlstaub oder hat keinen Zugang zu seiner Angst. Angst führt dazu, dass man in solchen Fällen einen Plan macht und sich vorbereitet oder langsam und mit Bedacht vorgeht. Angst als Ressource geht aber noch weit darüber hinaus. Sie lässt uns wach und präsent sein – wir nehmen Dinge wahr, die wir sonst niemals wahrnehmen würden. Man kann dann sprichwörtlich zwischen den Zeilen lesen. 

Angst setzt ungeahnte Fähigkeiten frei. Es gibt immer wieder Berichte von Menschen, die sich in scheinbar ausweglosen Situationen befunden und dann ungeahnte Kräfte freigesetzt haben. Not macht erfinderisch. Das heisst auch, dass Angst, wenn sie frei fliessen kann, Kreativität und Innovation in Gang setzt. Viele Erfindungen sind dadurch entstanden, dass der Erfinder Angst hatte, dass die Situation, in der er sich befand, für immer so bleiben würde, und er sich deshalb auf neues Terrain begeben hat. Kreativität, Innovation, Neuland betreten, etwas erfinden? Das kommt alles aus der Kraft und Energie der Angst. 

Der Zugang zur Kraft

Da wir die Angst aber negativ bewerten und nicht lernen, mit ihr umzugehen, sind die meisten Menschen nicht in der Lage, sie bewusst als Ressource zu nutzen. Stattdessen lernen wir bereits als Kinder, unsere Gefühle zu betäuben und zu ignorieren, um zu überleben. Unsere Gefühle haben so nicht die Möglichkeit, mit uns zu reifen und erwachsen zu werden. 

Gefühle, wie Angst, verschwinden aber nicht einfach, nur weil wir uns taub machen. Sie sind unsere ständigen Begleiter und schwelen dann unerkannt im Unterbewusstsein und können sich in körper­lichen Symptomen Ausdruck verschaffen. Im Falle von Angst zum Beispiel als Nervosität, Durchfall, Schlaflosigkeit, Verspannung et cetera. Oder die Angst überwältigt uns in Form einer Panikattacke oder zwanghaftem Kontrollwahn, wenn sie irgendwann so intensiv geworden ist, dass unsere Betäubungsstrategien versagen. Und schon haben wir einen weiteren Beweis dafür, dass Angst ne­gativ und zu vermeiden ist.

Formen der Angst

Ein weiterer Grund, der uns von der Kraft der Angst fernhält, liegt darin, dass wir keine Unterscheidung zwischen emo­tionaler Angst und authentischer Angst treffen – zwischen Emotion und Gefühl. Emotionen haben ihre Ursache in der Vergangenheit und entstehen durch schmerzliche Situationen, die wir in der Kindheit durchlebt haben. Wenn sich beispielsweise die Eltern trennen, während wir noch klein sind, kann diese «traumatische» Erfahrung im Erwach­senenalter zu einer emotionalen Angst vor Verlust des Partners führen. 

Die Verbindung zu der frühkindlichen Situation ist uns aber nicht mehr bewusst. Es ist dann wie ein altes Computerprogramm, welches immer wieder anspringt, wenn jemand den roten Knopf drückt. Wir «reagieren» emotional. Solche emotionalen Prägungen können dann zu diffusen, eigentlich «unbegründeten» Ängsten führen, wie Versagensangst oder Existenzangst.

Das authentische Gefühl Angst hingegen entsteht im Hier und Jetzt, durch die aktuelle Situation, zum Beispiel wenn wir etwas Neues ausprobieren. Die Angst kommt hoch, man nutzt sie, um präsent zu sein und Ideen zu entwickeln, man geht langsam seine ersten Schritte, und dann verschwindet die Angst wieder, weil sie ihren Zweck erfüllt hat. Emotionale Ängste sind die Geister Ihrer Vergangenheit, die darauf warten, geheilt zu werden. Die oben beschriebene Kraft steckt nur in der authentischen Angst. 

Kraft nutzbar machen

Wie können wir diese Kraft wieder nutzbar machen? Zunächst einmal gilt es, unsere Haltung in Bezug auf Angst zu verändern. Es ist Zeit, die alte Geschichte, die wir so früh und so beständig gelernt haben, durch eine neue Geschichte zu ersetzen. Angst ist eine unserer grössten Ressourcen, während Sicherheit nur eine Illusion ist! Angst macht uns wach, kreativ und lässt uns vorsichtig Neuland betreten – allerdings nur, wenn es für uns okay ist, Angst zu fühlen und wir gelernt haben, sie zu nutzen. Solange wir Angst ablehnen und sie unterdrücken, hat die Angst uns im Griff statt umgekehrt. Und so erhalten Sie wieder Zugang zur Kraft, die in der Angst steckt: 

Angst wahrnehmen

Wenn Sie bereit sind, Angst als Freund zu betrachten, gibt es keinen Grund mehr, sie zu unterdrücken. Fangen Sie an, bereits kleinste Anzeichen von Angst zu identifizieren, wie Nervosität, Auf­geregtheit, Kribbeln im Bauch oder Ähnliches. 

Innehalten und Unterscheidung treffen

Sobald Sie Ihre Angst wieder wahrnehmen, halten Sie in dem Moment kurz inne und fragen Sie sich, worauf sich die Angst bezieht. «Ich fühle Angst, weil …» So können Sie unterscheiden, ob es sich um eine emotionale Angst aus der Vergangenheit oder um echte authentische Angst handelt, die Ihnen im Hier und Jetzt dient. 

Die Angst bewusst fühlen

In beiden Fällen besteht der nächste Schritt darin, die Angst bewusst zu fühlen. Im Falle einer Emotion kann Sie die Angst darüber informieren, woher diese «alte» Emotion kommt. Im Falle eines authentischen Gefühls nutzen Sie die Angst einfach für den Zweck, der gerade ansteht: Ideen entwickeln, wach und präsent sein, vorsichtig vor­gehen oder Ähnliches.

Die neue Erfahrung für sich «abspeichern»

Wenn Sie die Angst genutzt haben, wird sie von allein wieder verschwinden. Aber Sie haben eine neue Erfahrung gemacht: Sie waren handlungsfähig – mit der Angst. Das gibt Ihnen einen neuen Re­ferenzpunkt.

Porträt