Mensch & Arbeit

Persönlichkeitsentwicklung

Nachwuchsführungskräfte zwischen Authentizität und Anpassung

Nachwuchsführungskräfte sind in ihrer Persönlichkeit meistens (noch) wenig gefestigt. Kein Wunder, sie stehen am Beginn ihrer Laufbahn, Karriere und Persönlichkeitsentwicklung. Umso unverständlicher ist es, wenn in der Ausbildung auf den Aspekt der Persönlichkeitsbildung wenig Wert gelegt wird.
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Bei der Aus- und Weiterbildung von Nachwuchsführungskräften liegt der Fokus immer noch allzu sehr auf der Entwicklung der Kompetenzen. Immerhin geht es heutzutage aber nicht mehr wie in früheren Zeiten nur um die fachlichen Qualifikationen, sondern um ein ganzes Kompetenzbündel, das soziale und emotionale Kompetenzen umfasst. Und das ist auch angemessen. Was jedoch nach wie vor zu kurz kommt, ist die Persönlichkeitsentwicklung. Dabei sollte man sich nicht scheuen, von Herzensbildung zu sprechen. Oder etwas eleganter und in einem erweiterten Sinn: von Persönlichkeitsbildung.


Der Mangelfaktor

Die Persönlichkeitsentwicklung der Nachwuchsführungskräfte wird vernachlässigt. Eine Ursache dafür liegt darin, dass viele Unternehmen die Funktionssteu­erung zu sehr in den Vordergrund rücken. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Zum einen soll die Nachwuchsführungskraft später eine Funktion ausüben, einen Posten bekleiden. Zum an­deren wird erwartet, dass die Nachwuchsführungskraft schlicht und einfach funktioniert und den an sie herangetragenen Rollenerwartungen gerecht wird. Sie erhält eine Aufgabe, die sie bestmöglich zu erfüllen hat, dazu benötigt sie bestimmte Fähigkeiten und Qualifikationen, die sie trainieren kann. Aufgrund dieses rein pragmatischen Nützlichkeitsdenkens geraten die Persönlichkeitsbildung und die Herzensbildung aus dem Blick. Das ist kurzfristig gedacht, wusste doch schon Aristoteles, dass die «Bildung des Geistes ohne Bildung des Herzens (…) keine
Bildung» sei.

Wegen dieses Nützlichkeitsdenkens und des Mangels an Persönlichkeitsbildung fällt es Nachwuchsführungskräften zuweilen schwer, ihre Rolle als Führungskraft zu definieren. In seiner Beratungstätigkeit wird der Autor oft mit den Fragen konfrontiert: «Was genau wird von mir erwartet? Soll ich authentisch agieren, in jeder Situation der sein, der ich bin? Also auch Ecken und Kanten zeigen, selbst unter der Gefahr, anzustossen? Oder soll und muss ich mich anpassen? Denn ansonsten muss ich gewiss mit Nachteilen rechnen. Immerhin wird von mir erwartet, einer Rolle zu entsprechen und zu funktionieren.»

Dieses Dilemma entsteht vor allem, wenn die Unternehmen eine ambivalente Haltung an den Tag legen. Sie fordern zwar die Führungskraft als authentisch-starke Persönlichkeit mit Einzigartigkeitsstatus, die nicht mit dem Strom schwimmt, sondern mit kreativ-innovativen Ideen und Verhaltensweisen überrascht. Dies wird von Geschäftsleitung und Mitarbeitern gleichermassen gewünscht. Doch andererseits soll die Führungskraft «die Dinge am Laufen halten». Und dabei stören querdenkerische Ansätze nur. Das sind zwei Erwartungen, die oft nicht miteinander vereinbar sind.


Von Mensch zu Mensch

Die Unternehmen müssen sich entscheiden, ob sie primär Führungskräfte, die funktionieren, wollen oder Persönlich­keiten, die auch mal gegen den Strom schwimmen. Dabei sollten sie bedenken: Die originäre Aufgabe einer Führungskraft ist das Führen von Menschen, nicht das Optimieren von Prozessen. Und andere Menschen kann der am besten führen, der sich selbst zu führen versteht. Pater Anselm Grün hat einmal gesagt: «Nur wer sich selbst führen kann, kann andere führen.» Zu ergänzen wäre: Nur wer weiss, wer er ist, wer weiss, wer er sein will und in welche Richtung er sich entwickeln möchte, kann andere Menschen anleiten, mit ihnen zukunftsorientierte Vereinbarungen treffen und ihnen Vertrauen schenken, das ihm dann auch zurückgezahlt wird. 

Das Führen von Mensch zu Mensch, von Persönlichkeit zu Persönlichkeit sollte die Kompetenz Nummer eins einer Nachwuchsführungskraft sein. So gelingt es, Mitarbeiter zu Höchstleistungen anzuspornen und sie dazu zu motivieren, sich mit ihrem Unternehmen, ihrem Arbeitsplatz, ihren Chefs sowie ihren Produkten und Dienstleistungen zu identifizieren. Meetings störungsfrei leiten und fehlerfreie Berichte schreiben – das gehört nicht zu den grossen Herausforderungen. Den Unternehmen sei empfohlen, der Persönlichkeitsentwicklung ihrer Nachwuchsführungskräfte verstärkt Beachtung zu schenken. Selbst wenn dabei die Ecken und Kanten noch deutlicher hervorstechen und das Profil noch mehr geschärft wird.

Programme für den Nachwuchs

Ein Unternehmen, das sich Führungskräfte mit Ecken und Kanten wünscht, kann dies offensiv in den Unternehmensleitsätzen und der Unternehmensphilosophie zum Ausdruck bringen. Eine mögliche Formulierung ist: «Wir wollen keine windschnittige 08/15-Führungskraft, sondern einen Leader, der mit Verstandes­bildung und Herzensbildung und als gestandene Persönlichkeit den Mitarbeitern als Vorbild, Manager und Begleiter dient.» Dabei spricht nichts dagegen, den Grad des Nonkonformismus näher zu beschreiben. Wünschenswert wäre ein Sowohl-als-auch. Die Nachwuchsführungskraft soll ganz bei sich selbst bleiben und authentisch führen, dabei eigene Ideen einbringen und andere Wege als die etablierten verfolgen – und kann dann gerade deswegen ihren Führungsaufgaben nachkommen.

Auf Unternehmensseite sollten den Worten Taten folgen, etwa durch die Integration der Persönlichkeitsentwicklung in die Aus- und Fortbildung der Nachwuchsführungskraft. Eine Möglichkeit ist, die Aus- und Fortbildung im Rahmen eines Nachwuchsführungsprogramms zu professionalisieren, das aus einer unternehmensinternen Veranstaltung besteht, an der externe Unterstützer teilnehmen sollten, um den unbefangenen Blick von aus-sen zu gewährleisten. Die Veranstaltung dient der Standortbestimmung der Nachwuchsführungskräfte, die diesen hilft, neben der Kompetenzentwicklung dezidiert die Entwicklung zur Führungspersönlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Die junge Führungskraft erlernt nicht nur das Handwerkszeug eines mitarbeiter-orientierten Leaders, der komplexe Führungsaufgaben souverän lösen muss – es geht mithin auch um die menschliche Weiterentwicklung.


Selbstreflexion und Feedbacks

Im Rahmen des Nachwuchsführungsprogramms hat die Nachwuchsführungskraft die Möglichkeit – und die Verpflichtung –, sich mit sich selbst zu beschäftigen, in die Selbstreflexion zu gehen und sich mit elementaren Fragen wie «Wer bin ich, wer will ich sein?» auseinanderzusetzen. Self-Leadership und Leadership, Selbstführung und Menschenführung gehen ineinander über und sind die zwei Seiten einer Medaille, die letztendlich zu dem ganzheitlichen Prozess der Persönlichkeitsentwicklung zusammenfliessen. Dieser Prozess wird durch den Einsatz von Diagnostiktools wie zum Beispiel Innermetrix unterstützt. Solche Tools zur Persönlichkeits- und Leistungspotenzial-analyse erlauben die Erstellung eines Persönlichkeitsprofils. Indem eine Nachwuchsführungskraft mit «ihrem» Persönlichkeitsprofil konfrontiert wird, erhält sie wichtige Hinweise zur Selbsterkenntnis und Selbsteinschätzung.

Das Nachwuchsführungsprogramm ist so aufgebaut, dass eine Nachwuchsführungskraft konkreten Führungssituationen ausgesetzt wird: Im  Prozess «Lear-ning by Doing» erkennt diese, welche Kompetenzen und Persönlichkeitseigenschaften eines echten Leaders sie noch aus- oder aufbauen sollte. Dabei kommt es zu Feedbackgesprächen mit anderen Nachwuchsführungskräften, etablierten Managern und Mitarbeitern – dies erinnert an das bekannte 360-Grad-Feedback. So entwickelt sie nach und nach 
ein Selbstkonzept und definiert immer punktgenauer, welche «Art» von Führungskraft sie sein möchte.

Ein Beispiel ist die Wertearbeit. Im Rahmen der Selbstfindung reflektiert die Nachwuchsführungskraft, welche Werte, Normen, Überzeugungen und Verhaltensweisen für sie von besonderer Relevanz sind und welche sie möglicherweise nur übernommen hat, ohne wirklich dahinterzustehen. Der Austausch mit anderen Menschen kann zur Revision von Normen und Überzeugungen führen, weil sie erkennt, welche sie ohne Selbstüberzeugung unreflektiert übernommen hat.

Am Beispiel der Wertearbeit zeigt sich ein grosser Vorteil dieses unternehmensinternen Programms: Die Diskussion mit den Führungskräften und Mitarbeitern erlaubt der Nachwuchsführungskraft einen Abgleich der persönlichen Werte mit den Unternehmenswerten und der Unternehmensphilosophie. So dient das Nachwuchsführungsprogramm nochmals der Vergewisserung, ob es eine gemeinsame Wertebasis gibt. Und das gilt auch für das Unternehmen.


Fazit

In dem Spannungsfeld von Selbsteinschätzung und Feedback von möglichst vielen unterschiedlichen Menschen findet die Nachwuchsführungskraft zu sich selbst und letztendlich zu der immer konkreteren Beantwortung der Frage, was authentisches Führen für sie bedeutet. Bei dem Nachwuchsführungsprogramm geht es um Kompetenz-, Herzens- und Persönlichkeitsentwicklung. So kann sie in dem Dilemma zwischen Authentizität und dem Erfüllen bestimmter Erwartungen einen Mittelweg finden, mit dem sowohl die Geschäftsleitung als auch sie selbst leben können.

Porträt