Mensch & Arbeit

Arbeitsbedingungen

Kosten durch Absenzen – die organisierte Verantwortungslosigkeit?

Ein Ziel eines Unternehmens besteht darin, menschenverträgliche, gesunde Arbeitsbedingungen zu bieten. Erhöhte Absenzen können als Hinweis dienen, die Arbeitsgestaltung zu überdenken. Entsprechend wichtig ist die Auswertung und Interpretation der Absenzdaten.
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Oft sind die Ursachen für überdurchschnittliche Absenzen von Aussenstehenden leicht zu erkennen: Zum Beispiel dann, wenn in einem Unternehmen Führungskräfte und Mitarbeitende der Personalabteilung über Neueinstellungen entscheiden, die später gar nicht mit diesen Neuen zusammenarbeiten müssen. Denn häufig haben direkte Vorgesetzte oder zukünftige Kolleginnen und Kollegen ganz andere Vorstellungen als die Einstellungsverantwortlichen, was in ihrem Bereich gute Mitarbeitende sind. Nicht selten mindert das bereits von Anfang an die Motivation, die Neuen bestmöglich einzuarbeiten und zu unterstützen. Ergebnis: Die Einarbeitung verläuft harzig, das angestrebte Leistungsniveau wird spät oder nie erreicht.

Im schlimmsten Fall wird das Arbeitsverhältnis schon in der Probezeit aufgelöst. Jedenfalls legen eine ungenügende Eignung für den Arbeitsplatz sowie Spannungen im Team bei einem neuen Mitarbeitenden den Grundstein für Absenzen. Davon sind dann der direkte Vorgesetzte sowie die andern Teammitglieder betroffen, weil sie eine Stellvertretung organisieren oder zusätzlich Aufgaben übernehmen müssen. Ergo: Wer die neuen Mitarbeitenden zusammen mit dem betroffenen direkten Vorgesetzten und den betroffenen Kolleginnen und Kollegen sorgfältig auswählt, senkt damit die zukünftigen Absenzen.

Risikozusammenhänge

Für die Erfassung der Absenzen wegen Krankheit und Unfall sind in vielen Unternehmen unterschiedliche Personen zuständig und es gibt verschiedene Abläufe. Bei Unfällen übernimmt die obligatorische Unfallversicherung die Kosten für die Heilung sowie den Lohnausfall ab dem dritten Tag. Bei Krankheiten sind das versicherte Taggeld und die Wartefristen je nach Branche, Gesamtarbeitsvertrag, Personalreglement oder Taggeldvertrag verschieden festgelegt. Der Arbeitgeber trägt die Kosten für die Lohnfortzahlung während der Wartefrist, danach übernimmt die Krankentaggeldversicherung die Lohnersatzleistung, nicht aber die Heilungskosten.

Die Wissenschaft weiss seit Langem: Die Risiken Krankheit und Unfall sind nicht unabhängig voneinander. Menschen, die einen Unfall erlitten haben, sind häufiger krank und Menschen, die krank sind, erleiden häufiger Unfälle. Kommt dazu: Erkrankungen und Unfälle geschehen oft nach einschneidenden Lebensveränderungen wie Stellenwechsel, Umzug, Geburt eines Kindes, Konflikte am Arbeitsplatz oder daheim.

Dauert eine Absenz länger, kommen meist die Personalverantwortlichen und höhere Vorgesetzte ins Spiel. Es muss eine Stellvertretung organisiert und auch finanziert werden. Zudem braucht es allenfalls eine Neuverteilung der Aufgaben. Zuweilen werden die Kosten für die Lohnfortzahlung einem Gemeinkostenkonto belastet. Damit mindert sich beim direkten Vorgesetzten der finanzielle Anreiz, sich für die Rückkehr von erkrankten Mitarbeitenden einzusetzen.

Wiedereingliederung

Laut der Statistik haben Mitarbeitende mit mehr als 20 Kurzabsenzen innerhalb eines zehnjährigen Beobachtungszeitraums eine deutlich erhöhte Sterblichkeit gegenüber dem Durchschnitt der Beschäftigten. Offensichtlich verbergen sich hinter den Kurzabsenzen biologische Mechanismen, die die Lebenserwartung negativ beeinflussen. Die häufig mitschwingende Unterstellung, Mitarbeitende mit Kurzabsenzen seien gar nicht wirklich krank gewesen, fördert allenfalls die lebensverkürzenden Mechanismen.

Bereits nach 30 Tagen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit kann die Invalidenversicherung (IV) eingeschaltet werden. Es geht dabei um die Abklärung, ob niederschwellige Beratungsangebote im Rahmen der Früherfassung und Frühintegration angezeigt sind, um die Arbeitsfähigkeit zu erhalten oder zu verbessern. Die IV übernimmt die Kosten für diese Beratungsangebote und allfällige Massnahmen. Die Lohnfortzahlung hingegen muss weiter der Arbeitgeber oder dessen Krankentaggeldversicherung leisten. Die Motivation des direkten Vorgesetzten zu einer solchen Wiedereingliederung ist nur dann hoch, wenn es sich um ein leistungsfähiges, unkompliziertes und williges Teammitglied handelt. In allen andern Fällen ist das Team über die Absenz eines «schwierigen» Kollegen eher erleichtert. Die Motivation eines höheren Vorgesetzten oder der Personalabteilung für die berufliche Wiedereingliederung mit Hilfe der IV ist zu Beginn einer Absenz eher gering, weil die Früherfassung mit zusätzlichem Aufwand verbunden ist: Besprechung der IV-Anmeldung mit dem betroffenen Mitarbeitenden, das Formular ausfüllen, Terminkoordination, Sitzungen, Absprachen. Ausserdem wissen die Personalverantwortlichen aus Erfahrung, dass die meisten Mitarbeitenden von selber wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.

Ferner haben die Unternehmen meist wenig Einfluss auf die Zusammenarbeit mit der IV: Der «Fall» wird einer Beratungsperson zugeteilt; die ihre eigene Vorstellung über das beste Vorgehen und die zu erreichenden Ziele hat. Diese stimmen nicht immer mit den Interessen des Unternehmens überein. Und im Hintergrund wirkt eine medizinische Gutachtenstelle, deren Urteile nicht vorhersehbar und kaum verhandelbar sind.

Krankentaggeld

Die Motivation der Krankentaggeldversicherung für eine Frühintervention der IV ist ebenfalls gering: Sie weiss, dass innerhalb der ersten Wochen nach Beginn einer Absenz der Grossteil der Beschäftigten wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehrt und damit die Krankentaggeldzahlungen eher niedrig ausfallen. Mithin können mögliche Einsparungen an Krankentaggeldern den zusätzlichen Aufwand für die Koordination von Arbeitgeber, dem Gesundheitssystem und der IV nicht ausgleichen.

Erst nach sechs Monaten einer krankheitsbedingten Absenz steigt die finanzielle Motivation der Krankentaggeldversicherung zur Wiedereingliederung Langzeitbetroffener an: Ab dann setzt die gesetzliche Pflicht der IV zur Abklärung eines Rentenanspruchs ein. Und nach zwölf Monaten Krankheitsabsenz gibt es möglicherweise eine IV-Rente, die die Taggeldzahlungen entsprechend vermindert.

Wichtig dabei: Nach sechs Monaten Krankheitsabsenz fehlt den Arbeitgebern meist die Motivation, sich noch weiter intensiv um eine Wiedereingliederung zu kümmern. Zumal die Krankentaggeldversicherung für den Lohnausfall aufkommt und für die Koordination mit der IV sorgt. Der Arbeitgeber kann sich darauf beschränken, seinen Teil des IV-Antrags auszufüllen, die bisherigen Misserfolge zur Wiedereingliederung zu dokumentieren und zu bestätigen, dass er den Mitarbeitenden nicht weiter sinnvoll beschäftigen kann.

Pensionskasse

Bleibt zuletzt noch die Pensionskasse: Nur für jüngere, gut qualifizierte, vollzeitarbeitende Mitarbeitende müssen bedeutende Rück­stellungen geleistet werden. Ältere, schlecht qualifizierte Teilzeitangestellte sind möglicherweise gar nicht in der Pensionskasse versichert. Oder dann nur mit der Erwartung auf bescheidene Rentenzahlungen. Für die Pensionskasse wäre der Aufwand unverhältnismässig gross, einen solchen Langzeitkranken wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern. Deshalb fallen in vielen Fällen die grössten Kosten bei den staatlichen Versicherungen an.

Arbeit oder Rente?

Wurde ein Mitarbeitender in einem bestimmten Umfeld unter bestimmten Arbeitsbedingungen krank, so ist der Arbeitsplatz mit negativen Erfahrungen verbunden. Auf der andern Seite ist die Arbeit für die meisten Menschen eine wichtige Quelle von materiellen und immateriellen Belohnungen, kleineren und grösseren Erfolgserlebnissen, sozialen Kontakten.

Ein kranker Mitarbeitender wird sich je nachdem, was stärker wiegt, um eine Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess bemühen: Vorteile und Nachteile von Arbeit und Rente, gute und schlechte Erfahrungen in der Arbeitswelt, Hoffnungen und Befürchtungen über die Rückkehr in den Arbeitsprozess.

Um die Entscheidung in Richtung der Arbeitswelt nicht unnötig zu erschweren, sollten die Unternehmen Überversicherungen vermeiden. Mitarbeitende sollten während einer Krankheit oder einem Unfall finanziell auf keinen Fall besser oder gleich gut gestellt sein, wie wenn sie gearbeitet hätten.

Im Idealfall sollte ein Arbeitsunfall oder eine Erkrankung zum Nachdenken darüber anregen, ob der entsprechende Arbeitsplatz nicht besser gestaltet werden könnte, indem Belastungen vermindert und Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten erweitert werden. Ziel: Die Arbeitsbedingungen menschenverträglicher und gesünder machen.