Mensch & Arbeit

Arbeitspsychologie

Grafologie – nützlich, aber auch wissenschaftlich?

Die verschiedenen Merkmale der Handschrift lassen zuverlässige Rückschlüsse auf Persönlichkeitsaspekte wie Antriebsstruktur, Vitalität, kognitive Strukturen, Leistungsverhalten, soziale Kompetenzen oder psychische Stabilität zu.
PDF Kaufen

Als Arbeits- und Organisationspsychologe plädiere ich für die Anwendung von Methoden, deren Gültigkeit wissenschaftlich nachweisbar ist. Weshalb ich der Gra­fologie stets skeptisch gegenüberstand. Gleichzeitig war ich immer wieder fasziniert, dass mein Vater, der als Grafologe gearbeitet hat, durchaus zutreffende Persönlichkeitsbeschreibungen allein aufgrund der Handschrift abgeben konnte.

Ich wollte es genauer wissen und habe vor einigen Jahren einen CAS-Lehrgang in Schriftpsychologie abgeschlossen. Heute bin ich überzeugt, dass die Grafologie zu Unrecht in Verruf geraten ist. Auf die von Benedikt Hell im «KMU-Magazin», Ausgabe 10 /2013, gestellte Titelfrage, ob Grafologie besser sei als ihr Ruf, gibt es aus meiner Sicht eine klare Antwort: Ja!

Alte Kontroverse

Den von Hell zitierten Zahlen betreffend der Anwendung der Grafologie in Schweizer Firmen stehen andere Untersuchungen gegenüber, die der Beliebtheit dieser Methode ein weitaus besseres Zeugnis ausstellen. Allein der gesunde Menschenverstand lässt vermuten, dass eine Methode kaum angewendet würde, wenn sie so untauglich wäre, wie es uns die von Hell zitierten Untersuchungen weismachen möchten ...

Am Beispiel der Grafologie zeigt sich, dass Wissenschaftlichkeit nicht per se objektiv ist. Die Kontroverse um die Wissenschaftlichkeit der Grafologie ist so alt wie das Spannungsfeld zwischen testpsychologischen und phänomenologisch-deutenden psychodiagnostischen Methoden. Grafologie zählt zu den Letzteren und ist mit den heutigen statistischen Überprüfungsmethoden nur erschwert überprüfbar. Der akademische Zeitgeist steht den deutenden Methoden skeptisch gegenüber. Trotzdem hat sich am Umstand, dass diese Methoden besonders gut geeignet sind, das vielschichtige und komplexe Konstrukt der menschlichen Persönlichkeit sinnvoll zu erfassen, nichts geändert. Sie verlangen von ihren Anwendern aber Kennerschaft und Menschenkenntnis.

Basis der Grafologie ist die jahrhundertealte Erkenntnis, dass zwischen Merkmalen der Handschrift und der Persönlichkeit Zusammenhänge bestehen. Die Handschrift wird hinsichtlich ihrer Bewegungsabläufe, ihrer Formen und ihres Umgangs mit dem zur Verfügung stehenden Raum (d. h. dem Papier) untersucht. Dabei spielen gegen 300 Variablen eine Rolle (Eindruckscharaktere, Ganzheits-und Einzelmerkmale). Sie haben nie eine je eindeutige Bedeutung, sondern sie sind mehrdeutig und müssen aus dem Gesamtzusammenhang heraus interpretiert werden. Die Handschrift ist individueller Ausdruck der schreibenden Person und lässt genau deshalb Rückschlüsse auf die Persönlichkeit zu (in ähnlichem Sinne wie Sprache, Mimik oder Gestik).

Aber weshalb erweckt die Grafologie bei Laien und analytisch orientierten Wissenschaftlern immer wieder den Verdacht auf Hellseherei oder Esoterik? Vermutlich weil das Zustandekommen der Persönlichkeitsbeschreibung nicht «objektiv» nachvollziehbar ist bzw. die Nuancen einer Handschrift dem ungeübten Auge verborgen bleiben. Auch wenn Grafologie keine exakte Wissenschaft mit eindeutigen Wenn-Dann-Beziehungen ist, hat sie sowohl in Studien als auch in der Praxis ihre Tauglichkeit längst bewiesen. Sehr viele Personalverantwortliche verwenden das grafologische Gutachten nach wie vor als Entscheidungshilfe und Ergänzung zu den für die Personalfindung üblichen Grundlagen, insbesondere im Rahmen der Selektion von Führungskräften, und sind sehr zufrieden damit.

Sinkende Nachfrage

Seit der Jahrtausendwende ist aber das Auftragsvolumen der Grafologen markant zurückgegangen. Die Gründe dafür sind vielfältig und stehen teilweise in gegenseitiger Wechselwirkung.

Erstens: Die Grafologie (inzwischen hat sich auch der Terminus Schriftpsychologie etabliert) hat ihre historischen Wurzeln in Frankreich und im deutschsprachigen Raum. Die Globalisierung hat aber auch im Personalmanagement zu einer Priorisierung anglo-amerikanischer Methoden geführt. In den Ausbildungsgängen für Personalfachleute wird die Gra­fologie unter Bezugnahme auf kritische Untersuchungen als untaugliche Methode erwähnt. Zweitens: Grafologie wird an den psychologischen Ausbildungsstätten kaum mehr gelehrt. Drittens: Grafologie ist in Bezug auf die Ausbildungsintensität sehr aufwendig. Sie lässt sich nicht einfach nach «Schema x» erlernen und erfordert spe­zifische, über die allgemeinen psychologischen Kompetenzen hinausgehende Begabungen. Dies mag manche Interessenten abschrecken. Viertens: Wie bereits erwähnt, distanziert sich die akademische Psychologie zunehmend von Theorien und Methoden, deren Gültigkeit beziehungsweise Wirksamkeit sich mit den heute gängigen wissenschaftlichen Prüfverfahren nicht eindeutig nachweisen lassen.

Ein solches Wissenschaftsverständnis greift aber zu kurz. So räumen mittlerweile auch prominente Vertreter klassischer naturwissenschaftlicher Disziplinen wie Physik oder Biologie ein, dass die heute zur Verfügung stehenden Erklärungsmodelle der Komplexität ihrer Fachgebiete nicht vollumfänglich gerecht werden können, das heisst, dass es evidente und beobachtbare Phänomene gibt, die (noch) nicht mess- oder beweisbar sind.

Die methodische Qualität

Bezüglich Überprüfbarkeit und nachgewiesener psychodiagnostischer Qualität steht die Grafologie weitaus besser da, als oft behauptet wird. Dies ist nicht zuletzt den Untersuchungen verschiedener Fachpersonen, allen voran Lockowandt und Wallner, zu verdanken. Die Handschrift eines Menschen ist unmittelbarer Ausdruck seiner Persönlichkeit, und sie lässt sich nur bedingt willentlich verstellen. Auch wenn heute im Alltag nicht mehr so häufig von Hand geschrieben wird wie noch vor 50 oder 100 Jahren: Die verschiedenen Merkmale der Handschrift lassen zuverlässige Rückschlüsse auf Persönlichkeitsaspekte wie Antriebsstruktur, Vitalität, kognitive Strukturen, Leistungsverhalten, soziale Kompetenzen oder psychische Stabilität zu.

Zu diesem Schluss kommen zahlreiche seriöse, im Rahmen der wissenschaftlichen Möglichkeiten durchgeführte Studien. Da es sich dabei nicht um exakt messbare, sondern nur um beschreib­bare Qualitäten handelt, liegt es in der Natur der Sache, dass diese Beschreibungen durch verschiedene schriftpsychologisch geschulte Personen im Detail unterschiedlich ausfallen, selbst wenn sie den selben Menschen betreffen und von diesen und ihren Bezugspersonen als zutreffend erachtet werden. Eine komplexe Struktur wie die menschliche Persönlichkeit lässt sich eben aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten und untersuchen. Ausserdem sind die zu beschreibenden Aspekte der Persönlichkeit lediglich Konstrukte, und diese sind als solche nicht gänzlich exakt definierbar. Dies erschwert die wissenschaftliche Überprüfung der sogenannten Validität, das heisst der Frage, ob die schriftpsychologisch postulierten Persönlichkeitseigenschaften denn auch wirklich auf die Person zutreffen. Leider ist die in letzter Zeit erfolgte wissenschaftliche Infragestellung insofern auch den Schriftpsychologen selber anzulasten, als sich diese in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt zu wenig um den – wenn auch schwierig zu erbringenden – wissenschaftlichen Nachweis ihrer Methode gekümmert beziehungsweise ihre Erkenntnisse zu wenig publik gemacht haben.

Eingeschränkte Überprüfbarkeit

Bezüglich der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit unterscheidet sich die Schriftpsychologie allerdings kaum von anderen persönlichkeitsdiagnostischen Verfahren wie beispielsweise den Persönlichkeitsfragebögen. Diese liefern zwar Zahlenwerte auf verschiedenen, aus statistischer Sicht unabhängigen Dimensionen der Persönlichkeit und erwecken dadurch den Schein von Objektivität. Damit ist aber in Bezug auf eine schlüssige Interpretation der Resultate sowie ihren praktischen Nutzen nichts gewonnen. Aus­serdem – und dies ist ein wesentlicher Nachteil von Persönlichkeitsfragebögen gegenüber der Schriftpsychologie – handelt es sich letztlich immer um Selbsteinschätzungen der Probanden.

Die «gegnerischen» Argumente

Sämtlichen in der Praxis angewendeten psychodiagnostischen Methoden zur umfassenden Untersuchung und Beschreibung der menschlichen Persönlichkeit haftet das Problem der eingeschränkten Überprüfbarkeit ihrer Validität an. Dieses Problem ist weniger auf die Methoden an sich als auf den zu beschreibenden Gegenstand, das heisst die Persönlichkeitsmerkmale, zurückzuführen. Diese sind Konstrukte und lassen sich im Alltagssprachgebrauch zwar nachvollziehbar beschreiben, aber kaum exakt messen. Gegner der Schriftpsychologie verweisen gerne auf Studien, die den Nachweis erbracht haben sollen, dass grafologische Aussagen lediglich Zufallstreffer seien. Beispielsweise wurden Studierende aufgefordert, eine Schriftprobe abzugeben. Das später ausgehändigte, angeblich schriftpsychologische Gutachten wurde von den meisten Betroffenen als zutreffend erachtet. Was sie nicht wussten: Der Text war für alle Personen der gleiche … Dieses Ergebnis lässt aber keine Rückschlüsse auf die Qualitäten der Schriftpsychologie zu, sondern beweist einzig, dass es möglich ist, Persönlichkeitsmerkmale so zu beschreiben, dass eine grös­sere Personengruppe sich als zutreffend charakterisiert empfindet.

In ähnlichem Sinne halten auch die übrigen grafologiekritischen Studien einer detaillierten Überprüfung kaum stand. Werden sie sodann zu den auch von Hell ins Feld geführten Metaanalysen zusammengefasst, wird für den Laien eine kritische Prüfung unmöglich.

Es wundert nicht, dass auch von wissenschaftlicher Seite eingeräumt wird, dass die Ergebnisse der «negativen» Studien durchaus viel positiver zugunsten der Schriftpsychologie interpretiert werden können, und so muss unterstellt werden, dass die Autoren vermutlich an positi­veren Ergebnissen gar nicht wirklich interessiert waren.

Eigenes Urteil bilden

Es gibt genügend sachliche Gründe, die in den letzten Jahren in Vergessenheit geratene Grafologie für die Personalselektion wieder vermehrt in Anspruch zu nehmen. Selbstverständlich kann auch die Schriftpsychologie nicht über sämtliche Aspekte der Persönlichkeitsstruktur eines Menschen Auskunft geben, aber keine andere Methode liefert bei relativ geringem Aufwand derart umfangreiche Hinweise. Im Selektionsprozess kann die Schriftpsychologie als Ergänzung zu anderen Methoden wertvolle bestätigende oder kritische Hinweise liefern. Interessierte sind aufgefordert, die Methode der Grafologie zu testen und sich ein eigenständiges Urteil zu bilden. In dem von der Schweizerischen Grafologischen Gesellschaft (SGG) periodisch publizierten «Bulletin» finden sich zahlreiche Interviews mit zufriedenen, aber durchaus kritischen Personen aus dem Personalbereich (vgl.: www.sgg-graphologie.ch). Seriös ausgebildete Schriftpsychologinnen und -psychologen sind unter www.sgg-graphologie.ch zu finden.

Porträt