Mensch & Arbeit

Arbeitspsychologie II

Grafologie: Besser als ihr Ruf?

Immerhin 16 Prozent der Unternehmen in der deutschsprachigen Schweiz nutzen auch heute noch Grafologie als Unterstützung der Personalauswahl. Aber kann die Handschrift tatsächlich Aufschluss über Persönlichkeitsmerkmale geben? Und wie ernst sind grafologische Gutachten zu nehmen? Ein Beitrag über das Für und Wider von Grafologie.
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Seit Jahrhunderten sind Menschen von der Idee fasziniert, dass sich unsere Persönlichkeit in unserer Handschrift widerspiegeln müsste. Und in der Tat spricht auf den ersten Blick einiges für diese Idee. Schliesslich erhalten wir alle – in etwa – in der Schule die gleiche Anleitung, wie die Handschrift aussehen sollte und dennoch entwickelt jeder von uns eine individuelle Schrift. Kleine, grosse, aufstrebende, rückwärts geneigte, leserliche oder unleserliche Schriften begegnen uns in unserem Alltag. Was liegt da näher, als eine Verbindung zwischen den Merkmalen der Handschrift und dem Charakter des oder der Schreibenden herzustellen? Unsere Intuition liefert zudem viele plausible Interpretationen von Schriftmerkmalen. Eine kleine Handschrift könnte für Bescheidenheit stehen, grosse Handschriften für Egoismus. Rückwärts geneigte Schriften wiederum mögen ein Indiz für Zurückhaltung sein, weite Schwünge weisen vielleicht auf einen überschwänglichen Charakter hin.

In der deutschsprachigen Schweiz setzen heute noch 16 Prozent der Unternehmen Grafologie zur Auswahl von Bewerbern ein, in der französischsprachigen Schweiz und übrigens auch in Frankreich liegt der Anteil noch darüber. Damit gehören die Schweizer Unternehmen international zu der Spitzengruppe, was den Einsatz von grafologischen Gutachten anbetrifft. In den USA, in Deutschland oder auch in anderen nordeuropäischen Ländern spielt die Grafologie so gut wie keine Rolle. Interessanterweise wird die Grafologie hierzulande nicht nur in beruflichen Belangen konsultiert. Die Schweizerische Grafologische Gesellschaft bietet neben der Erstellung von Persönlichkeitspro­filen für die Mitarbeiterauswahl auch Hilfestellung in persönlichen Fragestellungen sowie bei der Laufbahnplanung. Grafologie als Breitbandantibiotikum!

Was ist nun dran an der Grafologie? Drücken wir tatsächlich unsere Individualität in unserer Handschrift aus? Hängt der Schriftausdruck mit Persönlichkeitsmerkmalen oder mit dem Erfolg im Beruf zusammen, und lassen sich Aussagen über die Stabilität und Zufriedenheit in der Partnerschaft aus der Schrift ableiten? Bei der Beantwortung dieser Fragen sind wir glücklicherweise nicht auf Spekulationen angewiesen, sondern können unser Urteil auf Basis zahlreicher Studien fällen, die die Aussagekraft von grafologischen Gutachten intensiv untersucht haben. Im Kern geht es in diesen Studien darum, ob grafologische Experten imstande sind, die Persönlichkeit eines Untersuchten treffend zu charakterisieren und ob die erstellten Prognosen über die berufliche Eignung auch tatsächlich stichhaltig sind. Wurden in einem Forschungsgebiet genügend Studien durchgeführt, ist es möglich, diese Studien zu einer Übersichtsarbeit zusammenzufassen. In der Medizin werden Entscheide beispielsweise über die Einführung von neuen Wirkstoffen durch solche Übersichtsarbeiten abgesichert, da diese Arbeiten besonders aussagekräftig sind.

Der Inhalt zählt

Innerhalb der Psychologie wurden gleich zwei Übersichtsarbeiten zur Aussagekraft der Grafologie erstellt und beide kommen übereinstimmend zu dem gleichen Ergebnis: Die Aussagekraft eines grafolo­gischen Gutachtens hängt ganz ent­scheidend davon ab, ob und wie viel biografische Informationen in der zu beurteilenden Schriftprobe enthalten sind. Dienen Lebensläufe den Grafologen als Untersuchungsgrundlage, dann werden tatsächlich immer wieder treffende Diagnosen gestellt. Liegt aber ein neutrales Schriftstück zugrunde, dann sinkt die Aussagekraft von grafologischen Expertisen gegen null. Mit anderen Worten basiert die Substanz der Gutachten nicht auf den Merkmalen der Handschrift, sondern sie basiert in Wirklichkeit auf dem Inhalt der Schriftstücke. Für die Interpretation der Inhalte eines Schriftstücks ist jedoch kein Grafologe notwendig, sondern das können die Auftraggeber von grafologischen Gutachten mindestens genauso gut und meist noch besser selber leisten.

Mit der Entdeckung, dass die Aussagekraft von grafologischen Gutachten auf der inhaltlichen statt der formalen Analyse der Schrift beruht, kann ein Teil der immer noch beträchtlichen Nachfrage nach grafologischen Dienstleistungen erklärt werden. Offenbar sind einige Gutachten aussagekräftig – auch wenn die Aussagekraft nicht auf der eigentlichen Schriftanalyse beruht! Der Rest der beharrlichen Nachfrage ist vermutlich auf ein psychologisches Phänomen zurückzuführen, das als Barnum-Effekt be­zeichnet wird. Dieser Effekt tritt bei Feedbacks ein, die in einer ganz bestimmten Art und Weise verfasst werden. Denn Gutachten werden immer dann als treffend erlebt, wenn in ihnen auf vage Charakterisierungen mit hoher Grundwahrscheinlichkeit zurückgegriffen wird.

Mit anderen Worten: Wir halten ein Feedback dann für zutreffend, wenn es uns Merkmale bescheinigt, die für nahezu jedermann zutreffen. Dieses Phänomen wurde zum ersten Mal in den 1940er-Jahren in einem Experiment mit Managern nachgewiesen. Man liess die Manager einen längeren vermeintlichen Persönlichkeitsfragebogen ausfüllen und gab allen Personen im Anschluss die exakt gleiche Rückmeldung, die aus vagen und auf viele Menschen zutreffenden Aussagen bestand. Beispielsweise wurde den Managern gesagt, dass sie eine Neigung dazu haben, besonders kritisch zu sich selbst zu sein. Eine weitere Rückmeldung bekräftigte die Teilnehmer darin, dass sie nach aussen diszipliniert und kontrolliert wirken, aber innerlich dennoch oft grüblerisch und unsicher sind. Ergebnis: Über die Hälfte der Manager hatte das Gefühl, dass die Rückmeldung eine treffende Beschreibung ihrer Persönlichkeit lieferte. Nachfolgende Studien haben dieses Phänomen immer wieder bestätigt und gezeigt, dass das Feedback umso eher angenommen wird, je detaillierter der vermeintliche Test ist und je mehr der Gutachter den Status eines Experten hat. Mit dem Barnum-Effekt lässt sich also die Wirkung von grafologischen Gutachten erklären. Diese Gutachten basieren auf einer detaillierten Analyse eines längeren Schriftstücks (also ein detaillierter Test!) und der grafologische Gutachter bringt eine Zusatzausbildung und grosses rhetorisches Geschick mit (Experte!). Darüber hinaus sind die Aussagen in den Gutachten vielfach äusserst vage formuliert und weisen eine hohe Grundwahrscheinlichkeit auf.

Übrigens funktioniert der Barnum-Effekt auch bei Horoskopen ausgezeichnet und er kann auch die Magie von chinesischen Glückskeksen erklären. Wer würde nicht den folgenden Aussagen zustimmen: Sie sollten sich vor unüberlegten Entscheidungen hüten. Sie sollten kleine Unstimmigkeiten im Bekanntenkreis di­plomatisch ausräumen. Stellen Sie am Ar­­beitsplatz Ihre Fähigkeiten in das rechte Licht. Oder, in Zeiten von Burn-out: Nehmen Sie gesundheitliche Alarmsignale ernst! Obwohl solche Aussagen äusserst banal sind, führt das subjektive Gefühl des «vielleicht ist ja doch etwas daran» dazu, dass viele doch gelegentlich ihr Horoskop lesen. Immerhin 12 Prozent der Schweizer glauben immer noch fest an den Wert von Horoskopen.

Die Grafologie trägt Züge einer Pseudowissenschaft: Die Bewegung versucht, vom Ansehen anerkannter Wissenschaften zu profitieren. Hierzu wird in der Aussendarstellung der Anschein erweckt, dass die Grafologie innerhalb der Psychologie weithin anerkannt ist. Man nutzt eine vermeintlich wissenschaftlich fundierte Ausdrucksweise und wählt auch sonst eine möglichst grosse Nähe zur Psychologie, ohne aber deren wissenschaftliche Standards umzusetzen. Weitere Merkmale einer Pseudowissenschaft wie ein mangelnder theoretischer Fortschritt, innere Widersprüche sowie fehlender Anschluss an die anerkannten Wissenschaften treffen auf die Grafologie ebenfalls zu. Die enttäuschenden Befunde über die geringe Aussagekraft von Schriftanalysen liegen nun bereits seit Jahrzehnten vor und der grafologischen Bewegung ist es bis heute nicht gelungen, diesen Ergebnissen tragfähige Nutzennachweise in wissenschaftlich anerkannten Zeitschriften entgegenzusetzen. So lange es bei dieser Situation bleibt, rate ich davon ab, grafologische Gutachten ernsthaft zu verwenden. «

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