Wir werden überflutet: von Reizen, schlechten Nachrichten, Workload und Fremderwartungen. Gerade Führungskräfte sind derzeit an vielen Fronten gleichzeitig gefordert: Corona-Krise, Homeoffice, ein Wandel bei den Arbeitsprozessen und im Führungsverständnis, neue technologische Anforderungen und dazu kommt noch das Tagesgeschäft mit Quartalszielen und ein enormer Erfolgsdruck. Was übrig bleibt, ist häufig das Gefühl, alles irgendwie schaffen zu müssen.
Bewusst verzichten
Die Lösung liegt hier paradoxerweise im Weniger und nicht im Mehr – also im bewussten Verzicht im Denken, Sagen und Tun: «Wir haben oft die Angst, dass, wenn wir auf etwas verzichten, uns et-was verloren geht», sagt Helga Pattart-Drexler, Head of Executive Education an der WU Executive Academy.
Dabei liegt im Verzicht immer ein Gewinn – an mehr Fokus, mehr Qualität im Tun, mehr Raum für neue Ideen und Lösungen. Das bestätigt auch Nathalie Karré, Managing Partner von Accelor – the Transformation Company. Seit mehr als zwei Jahrzehnten begleitet sie Menschen und Organisationen in Veränderungs- und Entwicklungsprozessen.
In ihrem Buch «Der Jungbrunnen-Effekt» propagiert sie das 16-Stunden-Fasten: Durch Phasen der Enthaltsamkeit und des bewussten Verzichts (auf Essen) haben die Zellen im Körper die Möglichkeit, sich zu erneuern. Ähnlich können auch Führungskräfte in ihrem Unternehmen eine Zellauffrischung vorantreiben. «In der Enthaltsamkeit beim Fasten oder Meditieren erhält man mehr Klarheit, mehr Kraft und Energie, eine intensivere Wahrnehmung. Alles, was man einschränkt, nimmt man danach verstärkt wahr», so Karré. Dann setzen die Autophagie, die Abfallvernichtung und Reinigung ein. Der Körper verbrennt belastende Rückstände in den Zellen und repariert sie.
Von Altlasten befreien
Ähnlich der Autophagie können Führungskräfte bei sich, in ihrem Team und im Unternehmen einen Reinigungsprozess in Gang setzen und so Raum und Kraft für Neues schaffen – wenn sie sich bewusst von Folgendem trennen:
Energiefresser im Unternehmen
Gerade in grossen Unternehmen haben sich häufig Projekte, Prozesse und Strukturen angesammelt, die – manchmal aus machtpolitischen Gründen, manchmal aufgrund mangelnder Reflexionsfähigkeit – weiterverfolgt werden, obwohl sie niemand vermissen würde. Dabei binden sie Ressourcen, Arbeitszeit und Arbeitskraft. Das System mit zu vielen Projekten und Tools vollzustopfen, sorgt für Verzögerungen, Überforderungen, Ineffektivität und Frust im Team. «Energiefresser gemeinsam mit den eigenen Mitarbeitern zu identifizieren und mal ordentlich zu entrümpeln, macht Raum, Zeit und Energie für neue Projekte und effektivere Abläufe frei», sagt Helga Pattart-Drexler.
Macht und Ego
Gerade in traditionellen, sehr hierarchisch strukturierten Unternehmen würden Machtverhältnisse zementiert und die, die am lautesten schreiben, mit dem Aufstieg belohnt. «In solchen Strukturen nutzen Menschen oft die Leistung, Ergebnisse und Netzwerke anderer zu ihrem Vorteil», sagt Karré. Dass einzelne Führungskräfte sich Lorbeeren für die Leistungen ihres Teams abholen, müsse der Vergangenheit angehören, meint auch Pattart-Drexler. Sich mit lauter Mini-Mes zu umgeben, die das eigene Verhalten bestätigen, sei kontraproduktiv.
«Führungskräfte sollten nach Mitarbeitern Ausschau halten, die besser und anders sind als sie», sagt Karré. Denn nicht der Vorteil für den Einzelnen zähle: «Erfolg setzt sich schliesslich aus der Summe der Leistungen aller im Team zusammen.» Wichtig sei, sich zurückzunehmen und den Mitarbeitern und ihren Meinungen Raum zu geben. Das führe auch dazu, dass man wirksam für andere werde, wie es Management-Vordenker Fredmund Malik schon lange propagiere.
Blockierende Glaubenssätze
Oft sind Führungskräfte von ihren eigenen Glaubenssätzen geprägt. Nicht selten werden Experten zu Führungskräften befördert – wegen ihres ausgezeichneten Fachwissens, nicht aber wegen ihrer Führungskompetenz – trotzdem mit einem riesigen Hebel für 10, 50, 100 Mitarbeiter. Sich zu verabschieden von althergebrachten Praktiken, sei unbedingt notwendig, wie etwa die Idee, als Führungskraft kein Feedback zu benötigen, so Karré.
Eine Führungskraft, die nie ehrliches Feedback erhält, könne kaum zu einer positiven Unternehmenskultur beitragen. «Führungskräfte müssen lernen, sich selbst ständig zu hinterfragen und zu reflektieren. Ich kann nur wachsen und mein Team mit mir, wenn wir uns die eigenen blinden Flecken regelmässig ansehen», sagt Pattart-Drexler. «Leider sparen wir alle oft mit Lob und Anerkennung, gerade aber Führungskräfte brauchen positives Feedback. Aber: Konstruktives Feedback zu geben und anzunehmen, will gelernt sein», sagt sie.