Mensch & Arbeit

Schriftenpsychologie

Ein Plädoyer für die Graphologie

Die Graphologie, also das Interpretieren von Handschriften, spielt für Personalverantwort- liche keine grosse Rolle mehr. Sie scheint längst aus der Mode gekommen zu sein und wirkt im digitalen Zeitalter wie ein Relikt aus analogen Prozessen. Der Autor sieht jedoch gute Gründe für eine Wiederbelebung der Schriftpsychologie.
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Die Graphologie (oder Schriftpsychologie) ist eine traditionelle Methode, um aus der Handschrift Rückschlüsse auf die Persönlichkeit zu ziehen. Sie hatte ihre Blütezeit in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Kaum eine Kaderstelle, für deren Neubesetzung kein graphologisches Gutachten eingeholt wurde. Graphologie ist besonders gut geeignet, das vielschichtige und komplexe Konstrukt der menschlichen Persönlichkeit sinnvoll zu erfassen. Sie verlangt von ihren Anwendern aber Kennerschaft und Menschenkenntnis. 


Schwindende Bedeutung 

Basis der Graphologie ist die jahrhunderte­alte Erkenntnis, dass zwischen Merkmalen der Handschrift und der Persönlichkeit Zusammenhänge bestehen. Insofern ist die Graphologie eine Teildisziplin der Psychodiagnostik beziehungsweise der Ausdruckspsychologie. Die Graphologie erfordert zudem einen guten Blick für Formen und Bewegungen. Die Handschrift wird hinsichtlich ihrer Bewegungsabläufe, ihrer Formen und ihres Umgangs mit dem zur Verfügung stehenden Raum (das heisst dem Papier) untersucht. Dabei spielen weniger die einzelnen Schriftmerkmale als die sogenannten Ganz­heitsmerkmale und Eindruckscharaktere die Hauptrolle. Es werden etwa 300 verschiedene Variablen unterschieden. Sie haben nie eine je eindeutige Bedeutung, sondern sie sind mehrdeutig und müssen aus dem Gesamtzusammenhang heraus interpretiert werden. Handschrift ist individueller Ausdruck der schreibenden Person und lässt genau deshalb Rückschlüsse auf die Persönlichkeit zu, in ähnlichem Sinne wie die Sprache, die Mimik oder die Gestik.

Seit der Jahrtausendwende haben sich aber die meisten Personalverantwortlichen zunehmend von der Handschriftanalyse abgewendet, insbesondere weil immer wieder auf verschiedene Studien und Metaanalysen Bezug genommen wurde und wird, welche die Graphologie als pseudowissenschaftlich disqualifizieren. Zum Beispiel wurden Studierende aufgefordert, eine Schriftprobe abzu­geben. Das später ausgehändigte, an­geblich schriftpsychologische Gutachten wurde von den meisten Betroffenen als zutreffend erachtet.


Wissenschaftlich fundiert?

Was sie nicht wussten: Der Text war für alle Personen der gleiche. Dieses Ergebnis lässt aber keine Rückschlüsse auf die Qualitäten der Schriftpsychologie zu, sondern beweist lediglich, dass es möglich ist, Persönlichkeitsmerkmale so zu beschreiben, dass sich eine grössere Personengruppe als zutreffend charakterisiert empfindet. 

In einer in den 1980er-Jahren von Ben-Shakhar (et al.) veröffentlichten Unter­suchung sollten Schriftpsychologen aus der Handschrift verschiedener Personen deren Berufe ersehen, dies obwohl die Schriftpsychologie nie für sich in Anspruch genommen hat, aus der Handschrift den Beruf der Schrifturheber ersehen zu können. Vielmehr sollte für eine seriöse Analyse der Handschrift die berufliche Tätigkeit vorgängig bekannt sein. So ist es nicht erstaunlich, dass die Ergebnisse der Studie negativ sind.


Revival der Graphologie

Aus heutiger Sicht müssen die Schlussfolgerungen dieser Studien, die meist aus den 1980er-Jahren stammen, durchaus kritisch hinterfragt werden. Leider haben sich die Graphologen nicht rechtzeitig darum gekümmert, den wissenschaftli-chen Gegenbeweis zu erbringen, um dem schwindenden Ruf ihrer Disziplin entgegenzutreten, obschon bereits 1967 Wallner eindringlich an seine Berufskollegen appellierte, dass sie sich vermehrt um die wissenschaftliche Fundierung ihres Faches bemühen sollten. In etwa diesem Sinne hatte der Autor vor rund fünf Jahren die Situation der Graphologie in verschiedenen einschlägigen Medien dargestellt und dafür plädiert, dass sie von den Personalverantwortlichen wieder vermehrt in die Selektionsprozesse einbezogen wird.


Aktuelle Studien

In der Zwischenzeit hat sich in der Graphologieszene einiges getan. In verschiedenen Studien wurde die Handschriftanalyse gängigen Persönlichkeitstests mit anerkannter wissenschaftlicher Qualität gegenübergestellt. Im kürzlich erschienenen Sammelband von Chernov und Nauer wird eine Auswahl dieser Studien ausführlich referiert (vgl. Chernov, Y. and Nauer, M. A. [Eds.]: Handwriting Research. Vali­dation and Quality. IHS Institute for Handwriting Sciences, 2018). Darin berichten Chernov wie auch Toggweiler unabhängig voneinander von hohen Übereinstimmungen zwischen Schriftmerkmalen und den sogenannten «Big-Five-Dimensionen» (Offenheit, Neurotizismus, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion). 

Die Graphologie zählt zu den phänomenologisch-deutenden Methoden und ist mit den modernen, statistischen Überprüfungsmethoden in der Tat nicht ganz einfach zu validieren. Deshalb finden sich in der erwähnten Publikation auch ausführliche Beiträge zu Methodologie und Untersuchungsdesigns sowie zum Bezug der Graphologie zu den Neurowissenschaften (zum Beispiel Gruber, Caspers, Nauer). 

Computergestützte Analyse

Ohne den Einsatz neuer Technologien zur objektiven Erfassung und Verarbeitung von Schriftmerkmalen wären solche aufwendigen Studien wohl kaum realisierbar: Doch die computerunterstützte Handschriftanalyse leistet hier nicht nur für die Forschung unverzichtbare Dienste, sie kann auch in der Ausbildung und in der graphologischen Praxis unterstützend eingesetzt werden. Erwähnt seien an dieser Stelle die Tools «Grapho Pro» von Keel und «HS Detect» von Chernov, die beide im erwähnten Sammelband beschrieben sind. Mit solchen Tools kann die Handschriftanalyse kontinuierlich weiterentwickelt und für den Psychologennachwuchs attraktiv gemacht werden.

Für die Kommunikation dieser Entwicklungen braucht es die geeigneten Plattformen: Die Schweizerische Graphologische Gesellschaft (SGG, www.sgg-graphologie.ch) hat aus diesem Grund das Institut für Handschriftwissenschaften (IHS, www.ihs-sgg.ch) gegründet, welches mit Ver­anstaltungen und Publikationen zur «Rehabilitierung» der Handschriftanalyse beitragen wird. 


Nachwuchsprobleme

Aufgrund der eingangs erwähnten Entwicklungen hat die Graphologenschaft aber auch gegen ein Nachwuchsproblem zu kämpfen. Graphologie wird an (Fach-)Hochschulen nicht mehr als Ausbildungsfach angeboten. Als gleichsam letzte Bastion figurierte die ZHAW (vormals IAP), welche aber im Zuge von Rationalisierungsmassnahmen Graphologie vor einigen Jahren ebenfalls aus dem Curriculum gestrichen hat. Inzwischen bietet die SGG eine Graphologieausbildung an und bemüht sich um die Anerkennung dieser Ausbildung als MAS. 

Diese Massnahmen (die Forschung, die Computerunterstützung und die Ausbildung) erachtet der Autor als unabdingbare Voraussetzungen, damit sich die Handschriftanalyse wieder einen Platz als wertvolle psychodiagnostische Methode sichern kann. 


Die Vorteile

Und auch den Vergleich zu anderen psychodiagnostischen Verfahren muss die Graphologie keinesfalls scheuen: Die Handschrift eines Menschen lässt sich entgegen landläufiger Meinung nur bedingt willentlich verstellen. Sie bleibt verhältnismässig konstant und ist weniger situationsabhängig als fast alle anderen psychodiagnostischen Verfahren. Auch wenn heute im Alltag nicht mehr so häufig von Hand geschrieben wird wie noch vor 50 oder 100 Jahren: Die verschiedenen Merkmale der Handschrift lassen zuverlässige Rückschlüsse auf Persönlichkeitsaspekte wie die Antriebsstruktur, Vitalität, kognitive Strukturen, das Leistungsverhalten, soziale Kompetenzen oder die psychische Stabilität zu.

Der besondere Vorteil: Die graphologische Analyse erfolgt ohne die Anwesenheit der Probanden. Dadurch sind jene Störeinflüsse durch Effekte wie Sympathie beziehungsweise Antipathie in diesem Fall ausgeschlossen. Zudem handelt es sich bei den meisten anderen Methoden um Fragebogen, die letztlich immer Selbsteinschätzungen sind und somit einen Teil des eigenen Wunschbildes darstellen. Vor diesem Hintergrund ist die Handschriftanalyse ein wesentlich objektiveres Instrument. Es gibt also genügend Gründe, der Graphologie für verschiedene Fragestellungen wieder einen angemessenen Stellenwert einzuräumen. Selbstverständlich müssen dabei die einschlägigen Datenschutzrichtlinien eingehalten werden.

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