Mensch & Arbeit

Arbeitsrhythmus

Die hohe Kunst der Entschleunigung

Immer schneller muss es gehen, damit wir nicht stehen bleiben. Bei der Arbeit wie in der Freizeit. Wenn alles rascher erledigt ist, haben wir mehr Zeit für die wichtigen Dinge im Leben. Aber stimmt das wirklich? Oder müssten wir nicht eher langsamer werden, damit das, was wir gerade tun, uns Befriedigung verschafft?
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«Sie werden mehr Zeit haben für die wichtigen Dinge im Leben, wenn Sie Produkt A kaufen oder Dienstleistung B in Anspruch nehmen.» Das verspricht uns die Werbung allenthalben. «Nutzen Sie die richtigen Werkzeuge, um Ihre Arbeit, Aufgaben und ihre Projekte schneller und effektiver anzugehen», wird an unseren Nützlichkeitssinn appelliert. Dagegen lässt sich kaum etwas einwenden, denn – Hand aufs Herz – wer würde seine Routine-Jobs nicht gerne früher fertig haben? Der Haken ist nur, wer seine Aufgaben schneller erledigt hat, wendet sich in unserer Leistungsgesellschaft in der Regel nicht «den wichtigen Dingen im Leben» zu, sondern übernimmt neue Aufgaben. Die wichtigen Dinge im Leben müssen weiterhin warten: Wir arbeiten hierzulande trotz all den technischen «Beschleunigern» immer noch durchschnittlich 41,7 Stunden pro Woche (2011). Das sind lediglich 0,7 Stunden weniger als 1990.

Immer mehr ...

Deutlich zugenommen hat hingegen die Anzahl Aufgaben, die wir in unserer Arbeitszeit erledigen müssen. Die Häufung von Aufgaben führt zu Stress mit all seinen negativen Folgen für den Einzelnen wie die Gesellschaft als Ganzes. Gemäss einer Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) von 2010 fühlt sich rund ein Drittel der Erwerbstätigen in der Schweiz häufig oder sehr häufig gestresst. Dies sind 30 (!) Prozent mehr als zehn Jahre zuvor. Die jährlich entstehenden volkswirtschaftlichen Kosten von Stress am Arbeitsplatz bezifferte das Seco bereits im Jahre 2000 auf mindestens vier Milliarden Franken. Dieser Betrag dürfte heute – bedingt durch weiter wachsenden Leistungsdruck – noch um einiges höher liegen. Viele Erwerbstätige arbeiten unter derart starkem Zeitdruck, dass sie während der Arbeit nicht mehr richtig abschalten können. Pausen sind aber notwendig, damit man sich wenigstens immer wieder so weit regenerieren kann, um in den nächsten Stunden konzentriert und fehlerfrei weiterzuarbeiten. Das Vertrackte am Stress am Arbeitsplatz ist, dass Überbelastung und Überforderung von den Betroffenen meist über lange Zeit ignoriert werden. Dies bildet wiederum die Grundlagen für Burnout, Gefässkrankheiten, Stoffwechselstörungen, Organkrankheiten oder Herzinfarkt.

Der Beschleunigungswahn hat aber längst auch in unserer Freizeit Einzug gehalten. Während Jahren warb ein Schweizer Grossverteiler für eine seiner Con­venience-Food-Marken mit dem Slogan «Mehr Zeit zum Leben». Mit anderen Worten: Der Grossverteiler suggerierte den Konsumenten, das Kochen gehöre nicht zum wahren und erfüllten Leben, sondern sei etwas Lästiges, das man besser (an ihn) delegiere. Paradox ist allerdings, dass gerade die Leute, die sich hauptsächlich mit vorgekochtem Essen, Tiefkühlprodukten oder vom Take-away ernähren, klagen, sie hätten zu wenig Zeit. Das uns pausenlos eingetrichterte Mantra «Je schneller, desto besser» führt offenbar in eine Sackgasse.

Zeit also, um für einen Moment innezuhalten und tief durchzuatmen. Schieben Sie es nicht auf, sondern fangen Sie jetzt mit der Entschleunigung an, indem Sie diesen Artikel zur Seite legen, die Augen schliessen und dreimal tief ausatmen. Stellen Sie sich dann für ein paar Sekunden vor, Sie seien von weissem, schützendem Licht umhüllt. Wenn Sie danach die Lektüre wieder aufnehmen, hat sich etwas verändert: Sie sind ruhiger geworden, mehr bei sich. Die momentane Leere und Stille, die Sie für einen kurzen Moment gespürt haben, lässt Sie langsamer werden. Über den Tag verteilt, helfen solche Mikropausen besser mit Stresssituationen fertig zu werden. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen seit Langem die wohltuende Wirkung von Kurzpausen auf den menschlichen Organismus. Mikropausen von einigen Sekunden bis wenigen Minuten Dauer bauen negativen Stress ab, verringern die Fehlerhäufigkeit und steigern die Konzentrationsfähigkeit. Regelmässige kurze Bewegungs- und Entspannungsübungen senken zudem die Gefahr von muskulären Erkrankungen bei langem Sitzen bzw. bei lang andauernder Arbeit am Computer. Selbstredend, dass man die Zeit, welche man für Mikropausen einsetzt, beim effektiveren und effizienteren Arbeiten danach mehr als kompensiert. «

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