Marketing & Vertrieb

Vertriebsprozesse

Wie ein Vertrieb aus einem Guss entstehen kann

Während in Herstellungsprozessen meist alle Schritte klar definiert und harmonisiert sind, läuft es im Vertrieb oftmals eher nach Bauchgefühl. Dadurch wird viel Potenzial verschenkt. Aus diesem Grund ist es ratsam, den Vertrieb ebenso klar zu strukturieren wie die Produktion und alle Mitarbeiter in klar definierte Prozesse einzubinden.
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Eine mittelständische Produktionsstrasse irgendwo in der Schweiz. Jeder Handgriff sitzt. Alles läuft wie geschmiert. Jeder Mitarbeiter weiss genau, welches Arbeitspaket er wann und wie abzuarbeiten und in welchem Status er es an den nächsten Kollegen zu übergeben hat. Das System dokumentiert penibel, wie viele Pakete erfolgreich fertiggestellt werden und wie hoch der Ausschuss ist. Leider ist das, was in der Herstellung lebenswichtig ist, in anderen Bereichen häufig unterentwickelt.

Während die Produktion wie am Schnürchen läuft, weil alle Schritte exakt definiert und harmonisiert sind, gilt bei Neukundenakquisition, Anfragemanagement und Kundenbetreuung immer noch das Pi-mal-Daumen-Prinzip: Die Verkäufer holen den Auftrag herein und übergeben ihn an den Innendienst, der schnellstens den Schreibkram erledigt und bald darauf die Produktion auslöst. Das klingt nach «bester Ordnung», ist es aber nicht.

Potenziale entdecken

Viele Unternehmen wissen nicht, wie viel Potenzial in ihren Vertriebsaktivitäten ungenutzt bleibt oder welche Massnahmen wirkungslos verpuffen, weil ihre Vertriebsprozesse nicht exakt definiert sind. Zu viele Vertriebsmitarbeiter arbeiten aus dem Bauch heraus, legen Terminvorgaben als Gummi-Paragrafen aus und weisen die Schuld weit von sich, wenn ein Auftrag verloren wird.

Aus diesem Grund ist es ratsam, den Vertrieb ebenso klar zu strukturieren wie die Produktion. Alle Mitarbeiter werden in klar definierte Prozesse eingebunden. Sie beurteilen, bearbeiten und übergeben nach festen qualitativen und zeitlichen Kriterien und dokumentieren jederzeit, wann welcher Schritt mit welchem Ergebnis abgeschlossen wurde. Vom Vertrieb über die Produktion bis zu Lieferung und After-Sales-Service entstünde eine Organisation aus einem Guss.

Ein für alle verbindliches Vertriebshandbuch entsteht, das idealerweise durch eine neue Sales-Software, die den Prozess grafisch abbildet, flankiert werden kann. Oft ist zwar vorher schon eine Vertriebsunterlage vorhanden, existiert aber nur zu Zwecken einer ISO-Zertifizierung oder wird im Tagesgeschäft weitestgehend ignoriert.

Das Anfragemanagement

Im ersten Schritt werden die Kernprozesse im Vertrieb identifiziert. Diese Prozesse können je Unternehmen durchaus unterschiedlich sein, beinhalten aber in aller Regel immer:

  • Neukundenakquisition
  • Bestandskundenmanagement
  • Anfragemanagement

In grösseren Unternehmen kommen meist mit dem Innovationsmanagement und dem Marketing zwei weitere Kernprozesse mit Vertriebsrelevanz hinzu. Im Hinblick auf Aufwand und Erfolgswahrscheinlichkeit stellt das Anfragemanagement den schnellsten und wirkungsvollsten Hebel dar. Bei seiner Optimierung geht es nicht nur um eine perfekte Abwicklung für den Nachfrager. Gleichberechtigt im Zentrum steht eine Typisierung des potenziellen Kunden im Hinblick auf die Erfolgs- und Ertragschancen seines Ansinnens. Viele Unternehmen erstellen überflüssige Angebote, weil das Gegenüber nur einen Richtpreis einholen möchte oder eine Alibianfrage startet, um ein anderes Angebot gegenzuchecken. Hier gilt: Nicht jede Anfrage hat auch ein Angebot verdient.

Der Sollprozess

Zunächst wird die Anfrage in einen Sollprozess mit mehreren, sauber umrissenen und nacheinander zu durchlaufenden Unterprozessen überführt. Jeder Unterprozess erhält eine konkrete Verantwortlichkeit durch einen festen Mitarbeiter. Ein Laufzettel listet bindende interne Fristen auf und dokumentiert, in welchem Stadium sich die Anfrage zu jeder Zeit befunden hat. Der jeweilige Fortschritt in der Bearbeitung kann grafisch, gegebenenfalls in Prozentpunkten, erfasst werden. Besonders elegant wirkt hier eine allen relevanten Personen zugängliche, serverbasierte Softwarelösung.

Nun werden den Unterprozessen Ziele und Handlungsanweisungen zugeordnet. So würden die Ziele des ersten Unterprozesses «Annahme» lauten, dass alle Anfragen freundlich und professionell aufgenommen und innerhalb eines Arbeitstages bestätigt werden. Dazu müssen die Eingangsbestätigung formuliert und eine Prüfliste erstellt werden, die ausser technischen Hinweisen auch Erinnerungen an praktische Verhaltensregeln enthält. So wird etwa bei einer Telefonanfrage nicht nur festgelegt, wann spätestens abgenommen wird und wie lange ein Anruf in der Warteschleife bleiben darf. Ebenso wird erinnert, dass aufmerksames Zuhören in eine Bestätigung der Hauptgesprächspunkte am Ende des Telefonats zu münden hat.

Die Vorteile eines solchen Vorgehens sind eindeutig. Nicht nur, dass der Vertriebsprozess im Unternehmen harmonisiert wird – seine Transparenz macht ihn eindeutig messbar, und seine Messbarkeit erlaubt einen effektiven und kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP).

Eine Beispiel-Segmentierung im Vertriebsprozess Anfragemanagement kann folgendermassen aussehen (siehe Abb. 2): Jedes Segment dient dabei spezifischen Zwecken und ist durch eigene Tools und Checklisten unterfedert. Für jeden Übergabepunkt sind Kriterien definiert, die erfüllt sein müssen, damit eine Weiterleitung an der Schnittstelle erfolgen darf:

1. Anfrageannahme: Formale Kriterien, Regeln zur Erreichbarkeit, nötige Tools und Checklisten, Bearbeiter und Weiterleitungskriterien an die Fachabteilung beziehungsweise Verantwortlichen.

2. Klassifizierung: Eine Erstbewertung nach A-, B- und C-Kriterien sowie der generellen Machbarkeit findet statt. Die dafür nötigen Kriterien werden individuell festgelegt. So etwa kann ein Bestandskunde immer mindestens ein B erhalten, der direkte Entscheiderzugang ein ursprüngliches B zum A machen oder der kleine Neuauftrag eines bekannten Unternehmens ein C-Kriterium in ein B oder gar ein A verwandeln. Wichtig dabei: Jede dieser Kategorisierungen hat Konsequenzen auf der Handlungsebene. Ein Kunde im A-Feld beispielsweise erhält Sofort-Feedback und wird auf Vertriebsleiterebene persönlich besucht. Ein B-Kunde erhält eine 24-Stunden-Rückmeldung per individueller E-Mail, erweiterten Support und persönlichem Ansprechpartner. Anfragen in der C-Kategorie werden ausschliesslich vom Innendienst bedient.

 

Hier packt auch der erste Türsteher zu: Wenn etwas nicht zum Unternehmen passt, sei es im Bereich, Technik, Preis oder Kompetenzspektrum, wird freundlich, aber bestimmt abgesagt. Als hilfreiches Tool in dieser Phase hat sich eine grafische Bewertungsspinne erwiesen, die objektive, feste Faktoren wie etwa die Unternehmensgrösse des Interessenten und beeinflussbare Elemente wie die Ertragsaussichten gemeinsam in eine bildhafte Form bringt (siehe Abb. 3).

3. Vorangebotsgespräch: Dieser Kontakt ist besonders wichtig und soll grundsätzlich vor jedem Angebot stattfinden. Meistens wird es sträflich vernachlässigt oder fällt ganz aus. Sinnvoll ist es deshalb, weil ein persönlicher Draht zum Anfrager die Chancen auf den Zuschlag erhöht und die Investitionsentscheidung begünstigt. Zusätzlich dient es der Informationsgewinnung und erlaubt, die Ernsthaftigkeit und die Kompetenz des Ansprechpartners auszuloten. Das Vorangebotsgespräch wird anhand einer Checkliste kontrolliert, die dem vierten Schritt zur Verfügung stehen muss. Zielfragen können unter anderem lauten:

  • Wann wird das Projekt konkret, hat es Priorität?
  • Wie hoch ist das Budget?
  • Wie läuft der Entscheidungsprozess, wer hat das letzte Wort?
  • Was ist dem Interessenten besonders wichtig?
  • Handelt es sich womöglich nur um eine Richtpreisanfrage?
  • Wann wird das Angebot benötigt und ab wann hat ein Nachfassen Sinn?

4. Anfragepriorisierung: In dieser Phase werden die Klassifizierungen aus Phase 2 auf der Basis neuer Informationen aus der Vorangebots-Checkliste verifiziert oder revidiert. Bleibt es bei der Machbarkeit und den entsprechenden Erfolgschancen, kommt es zu einer terminlich festgelegten Angebotszusage dem Kunden gegenüber.

5. – 7. Die Schritte 5 – 7 dienen der Angebotsfindung und Angebotserstellung: In ihnen werden die Zeit optimiert und alle Folgeschritte terminiert. A-Anfragen etwa werden um einen Termin für eine Angebotspräsentation gebeten. Ausserdem sollen komplexe Projekte zum Festpreis verhindert werden. In einem solchen Fall ist die Konzeptphase herauszulösen und ein anderes Projektmodell muss gewählt werden. Das abschliessende Angebot fasst die wichtigsten Punkte des Vorabgesprächs noch einmal zusammen und spiegelt, was dem Interessenten wichtig ist und dem Produzenten hilfreich sein kann. Falls machbar, weist es drei verschiedene Varianten der Art «Basic», «Erweitert» und «Premium» mit entsprechenden Preisen aus. Wichtig auch hier: Saubere Dokumentation anhand einer Checkliste, die an alle Einzelschritte und verbindlichen Vorgaben erinnert.

8. Angebotsverfolgung/Verhandlung: Hier sind konstante Durchführung und konsequente Abwicklung Trumpf. Bei der Behandlung von Einwänden sind Findigkeit und Fleiss gefragt. Eine einheit­liche Argumentationskette zu jedem denkbaren Einwand entsteht, damit fortan verschiedene Mitarbeiter nicht etwa unterschiedlich und damit verwirrend argumentieren. Bestimmt durch das Anfrage-ABC wird festgelegt, welcher Mitarbeiter wann und wie aktiv wird und welche Entscheidungsfreiheit er hat. Eine vorgefertigte Nutzenargumentation, gegebenenfalls anhand von Opal-Fragen (Orientierungsfragen, Problemfragen, Auswirkungsfragen, Lösungsfragen), liegt vor und trifft auf die besten Ansprechpartner im Buying Center des Nachfragenden. Wiederum wird an jedes Vorgehen und jede Muss-Technik wie etwa Opal erinnert und deren Anwendung formell bestätigt.   

9. – 10. Projektumsetzung/After Sales: Hier beginnt den Übergang zu weiteren Phasen des Kundenkontaktes, die nur noch indirekt dem Anfragemanagement zugeordnet werden können. Wichtig sind sie deshalb, weil an ihrer Demarkations­linie alle entscheidenden Punkte nicht nur abgearbeitet, sondern auch auf dem Laufblatt oder in der Software als erledigt abgehakt sein müssen.

Vertrieb im 21. Jahrhundert

Nach einer solchen Strukturierung aller Vertriebskernprozesse liegt ein verbindliches Vertriebshandbuch vor. Jeder Mitarbeiter verpflichtet sich, nach den Statuten des Vertriebs zu handeln. Der befürchtete Verlust an Individualität seitens der Mitarbeiter wird durch sichere Orientierung und zunehmende gemeinsame Erfolgs­erlebnisse kompensiert. Zusätzlich zum Handbuch kann eine schlanke Stand-alone-Software die Prozesse begleiten, ohne aufwendig ins CRM integriert zu werden. Bei entsprechendem Engagement und angemessenen Investitionen ist sogar eine individuelle Tablet-App denkbar, die jedem Mitarbeiter im Vertrieb zur Verfügung gestellt wird.

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