Marketing & Vertrieb

Social Media

Die unterschätzte Kommunikationsrevolution

Social Media sind mehr als blosse Kommunikationskanäle. Sie stehen für ein neues Kommunikationsverständnis, das auf einer völligen Dialogfreiheit beruht. Diese Freiheit ist das eigentlich Revolutionäre an den Social Media. An ihnen kommt heute kein Unternehmen mehr vorbei.
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Die Social Media sind in ihrer Auswirkung auf die Gesellschaft mit der Erfindung des Buchdrucks vor über 500 Jahren vergleichbar. Damals hat der Buchdruck mit beweglichen Lettern die Verbreitung von Wissen und damit die wissenschaftlichen, agrartechnischen, industriellen, gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen der Neuzeit ermöglicht. Auf
der Basis des World Wide Web erlaubt der «virtuelle Stammtisch», als den die Social Media gerne bezeichnet werden, heute jederzeit und sofort den unbegrenzten Meinungsaustausch. Damit lassen sich sogar Revolutionen aus­lösen, wie wir im arabischen Raum sehen konnten.

Marke als Gemeinschaftsgut

Wir sprechen von einer «enthierarchisierten Dialogkultur». Enthierarchisiert, weil klassisches Opinion-Leader-Denken ausgehebelt wird, alle Teilnehmenden sind in diesem Dialog einander gleichgestellt. Bildung, Erfahrung oder gesellschaftlicher Status sind nebensächlich. Dialog, weil Nachrichten über das Unternehmen nicht mehr von diesem selber beeinflusst werden, sondern irgendwo im Netz ihren Anfang nehmen und sich von dort weiterentwickeln. Ein Auseinanderhalten von Nachrichten-Absender und Nachrichten-Empfänger ist kaum mehr möglich. Der öffentliche Dialog steuert und bestimmt Kauf- und Markenentscheidungen, bevor eine herkömmliche Marketingaktion eines Unternehmens überhaupt greifen kann. Die Social-Media-Community verfügt über mehr Informationen, als die Unternehmen selbst preisgeben, und sie versteht die Marke nicht als Eigentum des Unternehmens, sondern als Gemeinschaftsgut.

Dazu kommt: Im Grunde herrscht auf dem Netz eine Informationsanarchie. Jeder und jede kann sich über alle und alles äussern, ohne Hemmungen, ohne Regeln, ohne geografische Grenzen und ohne gesellschaftliche Normen. Über Social Media können Ansichten, Meinungen, Halb- und Ganzwahrheiten umgehend geteilt oder widersprochen werden. Das Bild wird zunehmend zum primären Informationsinstrument. Was zählt, sind immer weniger die Fakten, sondern vielmehr die Emotionen.

Emotionen statt Fakten

Konnte man früher mit einer eigenen, mehr oder weniger offensiven Medienstrategie die Kommunikation noch einigermassen erfolgreich steuern, indem man Inhalt, Adressatenkreis und Zeitpunkt einer Verlautbarung bestimmte, läuft heute ein grosser Teil des Informationsaustauschs ohne eigenen Einfluss, ja sogar ohne dass man davon weiss. Es genügt ein verärgerter Kunde, der ein negatives Erlebnis auf Facebook postet oder sich über Twitter Luft verschafft. Im schlimmsten Fall trifft er damit auf Gleichgesinnte und löst so eine Kettenreaktion aus. Einen solchen sogenannten «Shitstorm» erlebte vergangenes Jahr ein bekannter Bergsportausrüster. Dabei hatte der Vorfall nichts mit den Produkten des Unternehmens zu tun, sondern mit Klimapolitik. Neben den Kunden-, Stakeholder- und Mitarbeiterbeziehungen gewinnt das soziale – und damit auch politische – Umfeld durch die Social Media enorm an Bedeutung.

Die klassischen Medien spielen zwar auch weiterhin eine bedeutende Rolle. Aber sie treiben diese Entwicklung selber an. Journalisten starten ihre Recherchen heute mit Suchmaschinen im Internet. Informationen über Personen erheben sie zuerst über Facebook, Twitter, Google+ und ähnliche Kanäle. Sensa­tionsverdächtige Storys werden mit dem Schleppnetz gesucht, nicht mehr mit der Angel. Dies bedeutet, dass klassische Medienarbeit allein heute nicht mehr genügt. Die Social Media sind auch als Informationsquelle der Medienschaffenden zum zentralen Faktor geworden.

Neue Strategien

In naher Zukunft wird es auch möglich sein, Suchresultate im Internet mit Informationen aus der Social-Media-Communitiy zu verknüpfen. Auf diesem Weg sind Google mit Google+ oder Facebook mit «Bing» von Microsoft. Mit 800 Millionen Nutzerdaten ist Facebook die grösste, je zusammengestellte Datenbank. Und jeder ist drin, ob er bei Facebook dabei ist oder nicht. Entscheidend ist nur, ob er namentlich in Dialogen der Facebook-Gemeinschaft erwähnt, verlinkt oder bewertet wird.

Für die Werbeindustrie eröffnen sich dadurch ungeahnte Perspektiven. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich zuerst diese Seite der Kommunikationsbranche mit dem Thema Social Media befasst hat. Die klassische PR dagegen steht hier erst am Anfang, obwohl sie den Dialog zum Kerngeschäft der Unternehmenskommunikation zählt. Marketing und PR vermischen sich zusehends. Die Kommunikationswelt pulsiert heute rund um die Uhr. Die sorgfältige Vorbereitung eines Communiqués, das Briefing vor einem Medienauftritt, die Absegnung einer Sprachregelung verlieren gegenüber der raschen Reaktion auf Entwicklungen in den Sozialen Netzwerken an Bedeutung. Aus Sicht der PR befinden wir uns aber immer noch in der Pionierphase im Umgang mit den Social Media. Da wird naturgemäss viel ausprobiert. Einiges wird weiterentwickelt, vieles bewährt sich nicht. Nicht wenige steigen über kurz oder lang aus den Social Media wieder aus. Doch wer einmal damit an­gefangen hat, kann nicht mehr einfach so zurück. Das wird von der Community als Versagen gewertet.

Deshalb müssen Kommunikationsstellen zum Vornherein über einen genügend grossen Handlungsspielraum verfügen. Dessen Grenzen sind so eindeutig wie möglich festzulegen, um Unsicherheiten zu verringern. Denn für fallweise Absprachen fehlt in der Regel die Zeit. Dazu gehört ein effizientes Monitoring. Während sich die Print- und TV-Medien verhältnismässig einfach überblicken lassen, sprengen das World Wide Web und die Sozialen Netzwerke jede Dimension. Verlangt sind daher heute moderne Instrumente, die den schier endlosen Raum des Internets scannen können. Das braucht intelligente Filtersysteme und gezielte Analysen. All dies erfordert von den Kommunikationsverantwortlichen sehr viel Erfahrung und auch Überzeugungsarbeit nach innen. Und von den Unternehmen ein grundsätzliches Überdenken ihrer Unternehmenskommunikation.

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