Interviews

Interview mit Josef Maushart

«Kurzfristig kann man kaum nachhaltige Entwicklung betreiben»

Josef Maushart, CEO und Mehrheitsaktionär der Fraisa-Gruppe, über eine erfolgreiche Nachfolgeregelung, flexible Arbeitszeitmodelle und Nachhaltigkeit durch langfristiges Denken und Bildungsmassnahmen.
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Herr Maushart, Sie sind in Deutschland aufgewachsen, haben in Bayern studiert. Was hat Sie bewogen, in die Schweiz zu kommen?
Als junger Ingenieur habe ich mich intensiv mit der Oberflächentechnologie, die von der Firma Balzers in Liechtenstein entwickelt wurde, auseinandergesetzt. Es war schon damals klar, dass diese eine Schlüsseltechnologie zur Leistungssteigerung von Werkzeugen ist. Ende der 1980er-Jahre hatten aber nur wenige Ingenieure fundierte Kenntnisse darüber. Die Stelle als Leiter der F & E bei der Fraisa SA, für die ich mich 1990 bewarb, hat mich interessiert, weil ich mein sehr spezifisches Wissen anwenden konnte. Einen bereits in der Schweiz sesshaften und geeigneten Ingenieur konnte die Fraisa damals auch nach sechs Monaten Suche nicht finden.

Was kennzeichnet die Produkte der Fraisa-Gruppe?
Die Fraisa bietet innovative Produkte in Kombination mit einem aussergewöhnlich umfassenden Dienstleistungspaket an. Für unsere Kunden bringt das erhebliche Einsparungen und für uns einen guten Unternehmenserfolg.

Wo produzieren Sie Ihre Produkte?
Wir produzieren unsere Serienwerkzeuge in der Schweiz, in den USA und in Ungarn. Das Zentrum der Innovation befindet sich an unserem Schweizer Firmensitz in Bellach/Solothurn. Wir nutzen die anderen Standorte, um spezifische Leistungen zu erbringen. In Ungarn stellen wir einfachere Produkte in hohen Stückzahlen her, in Deutschland befinden sich die Zentren für Logistik und für die Wiederaufbereitung unserer Werkzeuge für Europa. In den USA produzieren wir die Waren nach den dortigen Zollmassen und erbringen alle Serviceleistungen für die USA vor Ort.

Sie haben ein Recyclingangebot für gebrauchte Werkzeuge. Wie funktioniert das?
Fraisa schliesst mit dem Serviceangebot «Re Tool Blue» den Stoffkreislauf zur Rückgewinnung der wertvollen Hartmetalle. Die verbrauchten Werkzeuge werden originalgetreu wiederaufbereitet. Die Mehrfachnutzung der Rohstoffe schont die Umwelt. Darüber hinaus sparen unsere Kunden Geld. Fraisa verarbeitet pro Jahr etwa 100 Tonnen der wertvollen Hartmetalle für neue Werkzeuge. Gleichzeitig bereiten wir Werkzeuge im Umfang von 60 Tonnen wieder auf und führen 20 Tonnen endgültig verbrauchtes Material dem Rohstoffkreislauf neu zu.
    
Fraisa war von 1934 bis 2005 ein reines Familienunternehmen. Warum hat die Familie den Betrieb Ihnen übertragen?
Als ich eintrat, war die Fraisa ein Familienunternehmen in der zweiten Generation. Der damalige Inhaber, Hans Stüdeli, hatte drei Töchter, die engagiert im Leben stehen, aber keine von ihnen verfügte über eine technische Ausbildung. Es war einmal geplant, dass die Schwiegersöhne die Firma leiten sollten, aber das hat sich anders entwickelt. 1995 entschied Hans Stüdeli zusammen mit der Familie, die Leitung seiner Firma einem externen, also nicht zur Familie gehörenden CEO und einem ebensolchen Verwaltungsratspräsidenten zu übergeben. Die Rolle des CEO hat er dabei mir übertragen. Die Aktien wurden 1997 an zwei Töchter übergeben, blieben also in dieser Phase noch in der Gründerfamilie. Im Jahr 2005 hat sich  diese dann entschieden, mir die Möglichkeit zu einem Management-Buy-Out zu geben. Damit war das Ziel verbunden, die Fraisa langfristig als inhabergeführtes Unternehmen zu erhalten. Den eigenständigen Fortbestand der Firma hielt die Familie für noch wichtiger als den unmittelbaren und vollständigen Firmenbesitz.

Haben Sie selbst schon eine Nachfolgeregelung geplant; werden Ihre Kinder in die Firma eintreten?
Das ist eine Option, aber ich bin genauso offen wie Hans Stüdeli und seine Töchter. Meine Frau und ich haben drei Kinder, der Älteste ist als Ingenieur mit Schwerpunkt Mikrotechnologie und Robotik perfekt ausgebildet. Die beiden anderen sind noch in Ausbildung. Unser ältester Sohn baut im Moment sein eigenes Unternehmen auf. Wir haben uns aber vorgenommen, 2021 einen Richtungsentscheid zu treffen, ob das Unternehmen innerhalb unserer Familie weitergeführt wird oder wiederum auf geeignete Führungskräfte übergehen soll. Die Belegschaft ist darüber informiert.

Und wie denken die Mitarbeiter darüber?
Unsere Nachfolgeregelung wurde als gutes Beispiel in der Öffentlichkeit thematisiert. Weil ich bereits 2005 Geschäftsleiter war, hat sich bei der Arbeit überhaupt nichts verändert. Wichtig und speziell war, dass man für 20 bis 25 Jahre – ich war damals 40 Jahre alt – die Eigentumsverhältnisse definitiv geregelt hatte. Das gibt dem Unternehmen bis heute Kraft und Stabilität.

Bleiben die Angestellten auch so lange im Betrieb?
Wir freuen uns, dass unsere Fluktuation sehr gering ist, nur zwei Prozent plus zwei Prozent Pensionierungen pro Jahr. Für die Führungskräfte, die schon 2005 mit mir in der Geschäftsleitung tätig waren, haben wir eine spezielle Beteiligungsform an der Wertentwicklung geschaffen, jedoch ohne Mitarbeiteraktien zu vergeben. Auch alle anderen Mitarbeitenden sind transparent am Unternehmenserfolg beteiligt. An unserer letzten Weihnachtsfeier konnte ich 32 Kolleginnen und Kollegen für lang-jährige Firmenzugehörigkeit ehren, einer von ihnen arbeitet seit 45 Jahren in der Firma, zwei seit 40 Jahren.

Sie sind also offen für erfahrene Mitarbeitende. Ist bei Fraisa eine flexible Pensionierung möglich?
Im Jahr 2000 haben wir unser «60plus-Modell» entwickelt. Wenn sich ein Angestellter für die Teilnahme entscheidet, zahlen wir Überzeiten, Gratifikationen und so weiter nicht mehr direkt an ihn aus, sondern legen diese auf ein «Sparkonto» und fügen pro Jahr Betriebszugehörigkeit ein Lohnprozent dazu. Mit 63 Jahren reduziert der Mitarbeitende sein Pensum auf 80 Prozent, mit 64 auf 60 Prozent, die Firma zahlt aber Sozialbeiträge für 100 Prozent. Die Mitarbeitenden können nach dem Pensionsalter mit höchstens 50 Prozent bis 67 Jahre weiterarbeiten, wenn sie das wollen.

Wie wirkt sich das Modell auf die Firma aus?
Für die Mitarbeitenden hat das Modell den Vorteil, dass sie sich langsam auf die Pensionierungssituation vorbereiten können. Wenn ein Mitarbeitender einen Tag pro Woche nicht mehr da ist, läuft der Betrieb wie vorher weiter. Wenn er aber zwei Tage fehlt, braucht man einen Stellvertreter. Mit der Reduktion auf 60 Prozent mit 64 Jahren zwingen wir uns selber, einen Nachfolger auszubilden, an den der zukünftige Pensionär seine Kenntnisse übermittelt. So verliert die Firma kein Know-how mehr.

Stellen Sie auch Personen ein, welche über 60 Jahre alt sind?
Das ist nicht die Regel, es kommt aber vor, zum Beispiel wenn wir ein Automationsprojekt entwickeln, aber bis dahin bestimmte Aufgaben noch zu erfüllen sind. So können erfahrene Leute, die andernorts freigesetzt wurden, die letzten Jahre ihres Berufslebens manchmal noch bei uns eingesetzt werden.

Gibt es bei Fraisa auch flexible Arbeitszeiten, zum Beispiel für Eltern?
Wir bieten gleitende Arbeitszeiten und Teilzeitangebote an. Wir haben viele junge Mütter und Väter bei uns, die unsere Teilzeitangebote nutzen. Beim traditionellen Schichtbetrieb waren solche Modelle schwierig durchzuführen. Dieser entfällt durch den technischen Wandel, so können wir flexible Arbeitsmodelle auch in der Produktion anbieten. Seit einigen Jahren gibt es bei uns regulär einen Vaterschaftsurlaub von zwei Wochen zusätzlich zum Mutterschaftsurlaub von 18 Wochen. Zurückhaltend sind wir in Bezug auf Arbeit zu Hause, das gestatten wir nur selten. Den direkten Kontakt zu Kollegen und Vorgesetzten und das Teamgefühl halten wir für wichtig.

Sie haben sich an dem Projekt «Go Next» des Schweizerischen Verbandes für Weiterbildung beteiligt, das die Ausbildung von geringqualifizierten Personen fördert. Warum ist denn mangelnde Ausbildung in der Schweiz ein Problem?
In der Industrie wurden im Zusammenhang mit dem verbreiteten Schichtbetrieb traditionell viele Menschen ohne Berufsausbildung beschäftigt. Im Zuge der digitalen Revolution verändern sich nun die Anforderungen. In der Schweiz haben immerhin 21 Prozent der Personen im erwerbsfähigen Alter keine Ausbildung. Bis zu 40 Prozent von ihnen sind Personen mit Migrationshintergrund, meistens Zuwanderer aus europäischen Ländern oder Grenzgänger. Diese Leute tragen auch heute noch wesentlich zum Funktionieren unserer Industrie bei.

Welche Ausbildung brauchen diese Leute jetzt?
Heute gibt es bei uns praktisch keine Schichtarbeit mehr. Die modernen Computer lenken die Produktionsprozesse so, dass nicht mehr dauernd jemand da sein muss. Aber wir brauchen qualifizierte Mitarbeitende, die diese Systeme bedienen, und diese sind heute schwer zu finden. Zudem wäre es  illoyal gegenüber den bisherigen, nicht ausgebildeten Beschäftigten, diese auf die Reise in die vierte industrielle Revolution nicht mehr mitzunehmen. Der einzige Weg ist: Wir müssen diese Leute qualifizieren und dafür sorgen, dass sie einen Berufsabschluss bekommen, egal wie alt sie sind.

Wie organisieren Sie diese Weiterbildung?
Wir bilden Anlagenführer und Produktionsmechaniker berufsbegleitend aus. 20 Personen haben diese Ausbildung bei uns im Erwachsenenalter schon absolviert  und das Eidgenössische Fähigkeitszeugnis erlangt. Der Kanton Solothurn handelt vorbildlich, man bietet Erwachsenenklassen an. Diese finden an Randzeiten statt und man kann innerhalb von zwei Jahren die Abschlussprüfung absolvieren. Mittelfristig haben wir das Ziel, jeden Mitarbeiter, gleich wie alt er ist, ausgebildet zu haben.

Wie reagieren die betroffenen Angestellten darauf?
Für die Leute ist diese Weiterbildung oft ungewohnt und anstrengend, weil sie manchmal seit Jahrzehnten keine Schule mehr besucht haben. Häufig müssen sie auch die sprachlichen Voraussetzungen für eine Ausbildung erwerben, weil ihre Deutschkenntnisse nicht ausreichen, um dem Unterricht zu folgen. Dafür bieten wir Deutschkurse an. Wir müssen die Leute wieder ans Lernen heranführen und ihnen positive Erlebnisse vermitteln, sodass sie ihr eigenes Potenzial erkennen.

Wie erreichen Sie das?
Die Grundidee ist, dass wir die «Go-Next»-Ausbildung in einer Abteilung durchführen, die in zwei bis drei Jahren automatisiert werden soll. Die Berufsschule unterstützt uns. Berufsschullehrer analysieren das Können der einzelnen Mitarbeitenden und welche Kenntnisse sie brauchen, um mit den neuen Techniken richtig umzugehen. Wir haben das in einer Abteilung mit zwölf Personen durchgeführt, die nach ihren individuellen Voraussetzungen in drei Leistungsgruppen eingeteilt wurden. Diese Gruppen wurden für spezielle Kompetenzen und bestimmte Computersysteme ausgebildet, und zwar für ihre konkrete Arbeitssituation. Idealerweise werden alle zwölf Mitarbeitenden nach den neuen, positiven Lernerfahrungen mittelfristig eine berufsbegleitende Ausbildung mit Abschluss Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis in Angriff nehmen.

Müssen sich nicht alle Mitarbeiter bei Ihnen weiterbilden?
Um eine vernünftig bezahlte Arbeit zu bekommen, wird man in Zukunft unbedingt eine Ausbildung brauchen. Es ist aber selbstverständlich, dass auch Leute mit einer Ausbildung sich ständig weiterbilden müssen. Es ist eine unternehmerische und gesellschaftliche Aufgabe, alle Mitarbeitenden zu qualifizieren. Für diese hat Fraisa auch Anerkennung erhalten, nämlich 2014 die Auszeichnung als bester Ausbildungsbetrieb im Kanton Solothurn und 2016 den Family Business Award.

Ist es heute so, dass man zu viel Gewicht auf Universitäten legt und zu wenig auf die handwerkliche und technische Ausbildung?
Hier in Solothurn haben wir bei den 19-Jährigen eine Maturaquote von 15 Prozent, in Basel oder Genf sind es 29. In unserer Region ist das duale Berufsbildungssystem also ausgesprochen stark, jeder kennt hier Leute in Spitzenpositionen, die mit einer Lehre angefangen haben. Das duale Berufssystem fördert auch die Umsetzung von Innovationen, bei denen die Schweiz bekanntlich weltführend ist. Es ist also nach wie vor eine Stärke der Schweiz, gute Universitäten, daneben aber auch mit dem dualen Berufsbildungssystem, den höheren Fachschulen und den Fachhochschulen eines der praxisorientiertesten Ausbildungssysteme der gesamten Welt zu haben.

Bei Fraisa trifft man offensichtlich langfristige Entscheide. Wir beurteilen Sie das Problem, dass man in der Wirtschaft oft zu kurzfristig denkt?
Kurzfristig kann man eigentlich nur Kosten reduzieren, aber kaum nachhaltige Entwicklung betreiben. Um einen neuen Markt aufzubauen und neue Produkte einzuführen, braucht man meist drei bis fünf Jahre, gelegentlich auch zehn. Andererseits muss man natürlich gegenüber Kapitalgebern, seien es die Aktionäre der börsenkotierten Gesellschaften oder auch Banken, jährlich vernünftige Ergebnisse liefern. Das steht auch nicht im Widerspruch. Massgeblich ist letztlich bei allen Entscheidungen, ob sie allen Stakeholdern oder nur den Shareholdern dienen.

Wie kommunizieren Sie Entscheidungen gegenüber den Mitarbeitenden?
Wir haben insgesamt 540 Angestellte. Das ist eine gute Unternehmensgrösse, die noch übersichtlich ist und dennoch eine gewisse Professionalität erlaubt. Viele Kolleginnen und Kollegen kenne ich persönlich, auch an den Standorten im Ausland. Der persönliche Bezug zu den Entscheidungsträgern ist auch für die Mitarbeitenden sehr wichtig. Das gibt ein Gefühl der Wertschätzung. Die Angestellten wissen, dass auch harte Entscheidungen – die ich ebenfalls treffen muss – nicht unpersönliche Direktiven sind, sondern dass ich die persönliche sowie auch familiäre Situation der Betroffenen kenne. Als vertrauensbildende Massnahme gegenüber den Beschäftigten legen wir auch alle Zahlen offen. Sie sollen unsere Entscheidungen stets selbst vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Situation werten können.

Herr Maushart, Sie sind auch politisch aktiv. Welche Ziele haben Sie als Kantonsrat?
Mein politischer Ansatz ist ein gesamtgesellschaftlicher und dabei denke ich pragmatisch. Die heutigen Herausforderungen betreffen die ganze Bevölkerung. Wir haben wie erwähnt viele Menschen ohne Ausbildung, die Sozialhilfe benötigen, und Rentner, die an der Armutsgrenze leben. Die Schweiz ist ein reiches Land, das heisst aber nicht, dass hier nur reiche Menschen leben. Die Leute, die überhaupt keine Ausbildung haben, stehen im Moment unter dem höchsten Druck, darum müssen wir uns  um diese besonders bemühen, damit sie nicht ohne Stelle dastehen und die Sozialsysteme belasten. Das Ziel ist, den Wohlstand für breite Kreise der Bevölkerung  dauerhaft zu sichern.

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