Interviews

Interview mit Niklaus Brantschen

«Ein Leader brennt für eine Sache, ohne auszubrennen.»

Niklaus Brantschen, Zen-Meister und Gründer des Lassalle-Instituts, über ethisches Handeln und qualitatives Wachstum, das Profil einer guten Führungskraft und die positive Kraft des Humors.
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Herr Brantschen, Sie sind Jesuit und Zen-Meister. Sie schweigen und meditieren jeden Morgen eine Stunde und in einem Zen-Kurs bis zu 40 Stunden pro Woche. Was bringt Ihnen das?

Das bringt nichts. Im Gegenteil. Zen nimmt etwas weg, nämlich die Vorstellungen und Ideen, die wir uns vom Leben machen. Diese Fantasien hindern uns, zu leben. Sie verdecken unser Dasein in seiner Vielschichtigkeit.

Das Thema Ihres nächsten Symposiums lautet «Leadership und die Goldene Regel» – Was du willst, dass dir andere tun, das tue auch ihnen. Wie wollen Sie Manager mit der «Goldenen Regel» in Form bringen?

Wer sich die Regel zu Herzen nehmen will, muss zunächst wissen, was er selbst braucht.

Beginnen wir bei Ihnen: Was brauchen Sie?

Frische Luft, Bewegung, einen achtsamen Umgang mit mir, Zeit für Begegnungen. Antworten auch auf Fragen, die über das
Tagesgeschäft hinausgehen. Solange ich auf diese grundlegenden Bedürfnisse nicht eingehe, laufe ich Gefahr, Quantität mit Qualität zu verwechseln. Ein Übel. Das Anhäufen von Mehr und Gleichem – mehr Geld verdienen, mehr Ansehen erlangen, mehr Habenwollen im weitesten Sinne – verhindert Leben. Qualitatives Wachstum ist angesagt, für mich, für den Betrieb, für die Welt. Nicht noch mehr Schritte in die Breite, sondern ein Schritt in die Tiefe.

Wie machen Sie dies einem Wirtschaftsführer beliebt, der mit den Forderungen des Marktes nach immer Mehr und Neuem konfrontiert ist?

Ein wichtiger Einwand. «The business of business is business». Ich kann Führungskräften nur raten, nicht selber masslos zu werden, sondern den Zwang zu hinterfragen, auf Teufel komm raus etwas Neues bieten zu müssen. Ein Unternehmen ist im Übrigen nur dann wirklich erfolgreich, wenn die Patrons verantwortungsvoll handeln, auch nicht-materielle Werte anstreben sowie den Erfolg für alle Beteiligten optimieren statt für wenige
maximieren.

Sie plädieren für mehr Ethik im Handeln. An welchen Werten sollen sich Führungskräfte orientieren?

Wir haben im Lassalle-Haus eine Definition entwickelt, die mir umfassend scheint: Ethik ist achtsames Wahrnehmen von Leben in all seinen Formen, kluges Urteilen und entsprechendes Handeln zum Wohl aller, Umwelt und Nachwelt eingeschlossen. Ohne Achtsamkeit ist das nicht zu haben. Wer verantwortlich handeln will, braucht Zeit. Zeit zum Überlegen.

Zeit, die oft fehlt. Was sagen Sie gestressten Managern?

Da antworte ich mit Bernhard von Clairvaux, einem bedeutenden Mystiker, Mönch und Kirchenpolitiker aus dem Mittelalter. Er riet Papst Eugen III sinngemäss: Du hast Zeit für alle Menschen. Nimm dir auch Zeit für dich, denn auch du bist ein Mensch. Wörtlich sagte er: «Gönne dich dir selbst.» Womit wir wieder beim Beginn sind, bei der Frage, die sich jede und jeder stellen sollte: Was brauche ich?

Ihr Symposium im Oktober gibt unmissverständlich ethische Anweisungen: «Töte nicht! Stehle nicht! Lü­ge nicht! Hure nicht!», lauten die Tagungsthemen. Ein provokatives Handlungsprogramm.

Ich provoziere gerne. Dabei formuliere ich diese Handlunsgsmaximen positiv: Hab Ehrfurcht vor dem Leben; handle gerecht und fair; rede und handle wahrhaftig; achtet und liebet einander. Das Symposium wird mit Sicherheit spannend. Der ehemalige Polizeidirektor Hanspeter Uster referiert zum Thema «Lüge nicht!», die UBS-Managerin Christina Novakovic zu «Stehle nicht!»

Diesen Forderungen kann sich kaum einer entziehen.   

Dann habe ich ja mein Ziel erreicht. Vor jedem ethischen Handeln steht die Betroffenheit. Wenn mir schnurzegal ist, wie gut oder schlecht ich über die Runden komme und einfach drauf­loswurstle, unsolide, unsorgfältig lebe – dann bin ich in hohem Masse passiv mir selbst gegenüber. Schlechte Voraussetzungen für menschengerechtes Handeln.

Können Sie das näher erklären?

Handeln zum Wohle aller ist das Gegenteil von blindem Aktivismus, Voranschreiten Rücksicht – also ohne zu fragen, ob andere zu kurz kommen. Wenn statt Ethik Monetik herrscht, geht die Welt drunter und drüber. Dabei definiere ich Monetik als die Herrschaft des Geldes über all mein Denken, Fühlen und Handeln. Stelle ich für mein Handeln hingegen die Ethik ins Zentrum, kommt es auf meine innere Haltung an, auf mein Verhalten. Das Wort Handeln ist übrigens ein sehr schönes Wort, da klingt vieles an: Das Arbeiten mit den Händen – abends sieht man, was man geleistet hat. Oder das Behandeln – man tut einem Mitmenschen etwas Gutes. Es ist ein Jammer, wie oft wir vom Konkreten, vom Greif- und Fassbaren abheben in eine virtuelle Welt.

Was ist daran so schlimm?

Im Zen wie auch bei der Ignatianischen Spiritualität habe ich gelernt: Es gibt nichts Banales. Jeder Schritt, den ich tue, jeder Brief, den ich schreibe, jedes Glas Wasser, jeder Atemzug, jede Begegnung, jede Berührung – all das ist das Ganze. Der Mensch selbst ist ein Kosmos im Kleinen. Ist der Mensch bei sich, kann er auch ganz bei den anderen und bei der Sache sein. Und bei der Sache sein heisst immer auch: Das Leben passiert nicht irgendwann, sondern jetzt, und es passiert nicht irgendwo, sondern hier. Im Spüren, im achtsamen Wahrnehmen mit allen Sinnen. So wird das Sehen zum inneren Schauen, das Hören zum Horchen, das Tasten zum Berührtsein, das Riechen, Schmecken zum Verkosten. Wie mein Ordensgründer Ignatius sagt: Es geht darum, die Dinge von innen her zu verkosten und sie nicht zu verschlingen.

Sie leiten seit Jahrzehnten selber Menschen an. Welche Führungsprinzipien sind Ihnen im Laufe der Zeit wichtig geworden?

Ich habe gelernt, mich mehr und mehr von dem zu verabschieden, was ich meine, tun zu müssen. So frage ich mich heute vermehrt: Was ist wirklich wichtig, was zählt? Ich habe mittlerweile eine gewisse Distanz gewonnen, um nicht zu sagen: Ich bin humorvoller geworden.

Humor ist eine anspruchsvolle Angelegenheit. Was bedeutet Humor für Sie?

Tiefer schauen und das Ganze sehen ist tatsächlich anspruchsvoll. Es hilft mir aber, nicht unterzugehen im Betrieb, im Geschehen, im Getöse der Welt, sondern Distanz zu gewinnen und den viel zitierten Überblick zu bewahren. Humor ist, wenn man trotzdem lacht – auch über sich selbst.

Über sich selber zu lachen heisst auch, sein allfälliges Scheitern zu akzeptieren. Das dürfte Führungskräften besonders schwer fallen.

Das fällt allen schwer. Die Kunst besteht darin, sich nicht nur über das zu definieren, was ich habe und mache, sondern über das, was ich bin. Das nenne ich die Seins-Macht.

Ein grosses Wort. Was meinen Sie genau damit?  

Wenn ich bewusst nichts tue, ruhig dasitze, nicht an der Vergangenheit hänge oder mich in Zukunftsplänen verliere, fange ich an, wirklich zu sein. Unabhängig von der Rolle, von der Aktivität, von der Herkunft. Ich beginne, in der einzigen Zeit zu leben, die uns wirklich gehört: in der Gegenwart. Wir sind präsent. Und wer präsent ist, ist ein Präsent. Ein Geschenk für andere. Übungen der Achtsamkeit wie Zen oder andere Formen von Meditation, wie wir sie mit Gästen im Lassalle-Haus einüben, sind ein probates Mittel dazu.

Sind Sie denn immer präsent, immer heiter gestimmt?

Schön wär es. Wenn ich müde bin, mich nicht ausruhen konnte, stur in eine Besprechung hinein- und auf Leute losgehe, kommt es nicht gut. Bin ich aber wach und präsent, gelingt es mir, ein Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern – und auf das Gesicht der anderen.  

Führen scheint in Ihrer Natur zu liegen ...

Ich habe immer gern geführt – das ist die Grundvoraussetzung, um eine Leitungsaufgabe gut zu erfüllen. Führt jemand nicht gern, ist das ungefähr das Schlimmste, was einem Betrieb, einer Organisation passieren kann. Die Mitarbeitenden wissen nicht, wer zuständig ist, wer das Sagen hat, es entsteht ein Machtvakuum und ein Chaos.

Wären Sie nicht Jesuit und Direktor des Lassalle-Hauses Bad Schönbrunn geworden, hätten Sie auch in der Wirtschaft eine Spitzenposition angestrebt?

Ich denke schon – und wenn, dann wohl in einem Wirtschaftsbetrieb im ursprünglichen Sinn.

Sie meinen in einem Gastbetrieb?

Ja, wo Menschen fürs leibliche Wohl anderer Menschen zuständig sind. Es hätte auch in der Landwirtschaft sein können. In beiden Bereichen wäre neben dem Führen auch das Ausführen möglich gewesen. In Bad Schönbrunn zum Beispiel habe ich oft den Rasen gemäht, auch als Chef. Das gehört zu einer Führungsperson: Man hat den Überblick, erkennt die grosse Linie, sieht aber auch das Detail, ohne sich darin zu verlieren. Ein Unternehmer ist immer auch ein Designer. Er sieht das Produkt in der schönen Endgestalt.

Sie aber machen keine Produkte, Sie begleiten Menschen auf ihrem Weg zu sich selbst. Wie sieht die «Endgestalt» eines guten Managers aus?

Damit stellen Sie noch einmal die Frage nach dem Profil einer Führungspersönlichkeit. Nun, ein verantwortlicher Leader schaut über den Tellerrand des eigenen Betriebs. Trägt Sorge zu den anderen – und zu sich selbst. Brennt für eine Sache, ohne auszubrennen, weil er oder sie weiss, wie hilfreich kürzere oder längere Auszeiten zur rechten Zeit sind.

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