Herr Brantschen, Sie sind Jesuit und Zen-Meister. Sie schweigen und meditieren jeden Morgen eine Stunde und in einem Zen-Kurs bis zu 40 Stunden pro Woche. Was bringt Ihnen das?
Das bringt nichts. Im Gegenteil. Zen nimmt etwas weg, nämlich die Vorstellungen und Ideen, die wir uns vom Leben machen. Diese Fantasien hindern uns, zu leben. Sie verdecken unser Dasein in seiner Vielschichtigkeit.
Das Thema Ihres nächsten Symposiums lautet «Leadership und die Goldene Regel» – Was du willst, dass dir andere tun, das tue auch ihnen. Wie wollen Sie Manager mit der «Goldenen Regel» in Form bringen?
Wer sich die Regel zu Herzen nehmen will, muss zunächst wissen, was er selbst braucht.
Beginnen wir bei Ihnen: Was brauchen Sie?
Frische Luft, Bewegung, einen achtsamen Umgang mit mir, Zeit für Begegnungen. Antworten auch auf Fragen, die über das
Tagesgeschäft hinausgehen. Solange ich auf diese grundlegenden Bedürfnisse nicht eingehe, laufe ich Gefahr, Quantität mit Qualität zu verwechseln. Ein Übel. Das Anhäufen von Mehr und Gleichem – mehr Geld verdienen, mehr Ansehen erlangen, mehr Habenwollen im weitesten Sinne – verhindert Leben. Qualitatives Wachstum ist angesagt, für mich, für den Betrieb, für die Welt. Nicht noch mehr Schritte in die Breite, sondern ein Schritt in die Tiefe.
Wie machen Sie dies einem Wirtschaftsführer beliebt, der mit den Forderungen des Marktes nach immer Mehr und Neuem konfrontiert ist?
Ein wichtiger Einwand. «The business of business is business». Ich kann Führungskräften nur raten, nicht selber masslos zu werden, sondern den Zwang zu hinterfragen, auf Teufel komm raus etwas Neues bieten zu müssen. Ein Unternehmen ist im Übrigen nur dann wirklich erfolgreich, wenn die Patrons verantwortungsvoll handeln, auch nicht-materielle Werte anstreben sowie den Erfolg für alle Beteiligten optimieren statt für wenige
maximieren.
Sie plädieren für mehr Ethik im Handeln. An welchen Werten sollen sich Führungskräfte orientieren?
Wir haben im Lassalle-Haus eine Definition entwickelt, die mir umfassend scheint: Ethik ist achtsames Wahrnehmen von Leben in all seinen Formen, kluges Urteilen und entsprechendes Handeln zum Wohl aller, Umwelt und Nachwelt eingeschlossen. Ohne Achtsamkeit ist das nicht zu haben. Wer verantwortlich handeln will, braucht Zeit. Zeit zum Überlegen.
Zeit, die oft fehlt. Was sagen Sie gestressten Managern?
Da antworte ich mit Bernhard von Clairvaux, einem bedeutenden Mystiker, Mönch und Kirchenpolitiker aus dem Mittelalter. Er riet Papst Eugen III sinngemäss: Du hast Zeit für alle Menschen. Nimm dir auch Zeit für dich, denn auch du bist ein Mensch. Wörtlich sagte er: «Gönne dich dir selbst.» Womit wir wieder beim Beginn sind, bei der Frage, die sich jede und jeder stellen sollte: Was brauche ich?
Ihr Symposium im Oktober gibt unmissverständlich ethische Anweisungen: «Töte nicht! Stehle nicht! Lüge nicht! Hure nicht!», lauten die Tagungsthemen. Ein provokatives Handlungsprogramm.
Ich provoziere gerne. Dabei formuliere ich diese Handlunsgsmaximen positiv: Hab Ehrfurcht vor dem Leben; handle gerecht und fair; rede und handle wahrhaftig; achtet und liebet einander. Das Symposium wird mit Sicherheit spannend. Der ehemalige Polizeidirektor Hanspeter Uster referiert zum Thema «Lüge nicht!», die UBS-Managerin Christina Novakovic zu «Stehle nicht!»
Diesen Forderungen kann sich kaum einer entziehen.
Dann habe ich ja mein Ziel erreicht. Vor jedem ethischen Handeln steht die Betroffenheit. Wenn mir schnurzegal ist, wie gut oder schlecht ich über die Runden komme und einfach draufloswurstle, unsolide, unsorgfältig lebe – dann bin ich in hohem Masse passiv mir selbst gegenüber. Schlechte Voraussetzungen für menschengerechtes Handeln.
Können Sie das näher erklären?
Handeln zum Wohle aller ist das Gegenteil von blindem Aktivismus, Voranschreiten Rücksicht – also ohne zu fragen, ob andere zu kurz kommen. Wenn statt Ethik Monetik herrscht, geht die Welt drunter und drüber. Dabei definiere ich Monetik als die Herrschaft des Geldes über all mein Denken, Fühlen und Handeln. Stelle ich für mein Handeln hingegen die Ethik ins Zentrum, kommt es auf meine innere Haltung an, auf mein Verhalten. Das Wort Handeln ist übrigens ein sehr schönes Wort, da klingt vieles an: Das Arbeiten mit den Händen – abends sieht man, was man geleistet hat. Oder das Behandeln – man tut einem Mitmenschen etwas Gutes. Es ist ein Jammer, wie oft wir vom Konkreten, vom Greif- und Fassbaren abheben in eine virtuelle Welt.
Was ist daran so schlimm?
Im Zen wie auch bei der Ignatianischen Spiritualität habe ich gelernt: Es gibt nichts Banales. Jeder Schritt, den ich tue, jeder Brief, den ich schreibe, jedes Glas Wasser, jeder Atemzug, jede Begegnung, jede Berührung – all das ist das Ganze. Der Mensch selbst ist ein Kosmos im Kleinen. Ist der Mensch bei sich, kann er auch ganz bei den anderen und bei der Sache sein. Und bei der Sache sein heisst immer auch: Das Leben passiert nicht irgendwann, sondern jetzt, und es passiert nicht irgendwo, sondern hier. Im Spüren, im achtsamen Wahrnehmen mit allen Sinnen. So wird das Sehen zum inneren Schauen, das Hören zum Horchen, das Tasten zum Berührtsein, das Riechen, Schmecken zum Verkosten. Wie mein Ordensgründer Ignatius sagt: Es geht darum, die Dinge von innen her zu verkosten und sie nicht zu verschlingen.