Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Vorbereitungen auf die «neue Zeit»

Mit der Aussicht auf Impfstoffe gegen das Coronavirus wachsen auch die Anstren­gungen, Antworten darauf zu finden, wie die Arbeitswelten und Unternehmensführung nach der Pandemie zu gestalten sind.
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Im Frühjahr stand die Frage im Vordergrund: Wie kommen wir durch diese dunkle Zeit? Mit der zweiten Corona-Welle im Herbst, und mit der konkreten Aussicht auf wirksame Impfstoffe in naher Zukunft, stellt sich nun die Frage: Was für eine Zeit beginnt danach? Die Wissenschaft fühlt sich angesichts solcher Fragen stets bemüht, entsprechende Prognosen zu formulieren, obwohl wir Wissenschaftler auch über keine Glaskugel verfügen. Wenn es um Zukunftsprognosen geht, sehe ich die Rolle der Wissenschaft deshalb auch weniger darin, Antworten zu prognostizieren, sondern vielmehr darin, die richtigen Fragen zu stellen. Denn mit den richtigen Fragen, mit dem richtigen Fokus, aktivieren wir den Forschergeist und die Lösungsfindung in uns allen. Und genau ein kollektiver Effort zum Auffinden von guten Lösungsansätzen für eine zukünftige «neue Zeit» des Zusammenarbeitens in unseren jeweiligen Arbeitskontexten ist meines Erachtens nun nötig. Deshalb möchte ich Ihnen im Folgenden einige meiner Beobachtungen anbieten, die zu Leitfragen bezüglich der Gestaltung der «neuen Arbeitswelt» in der Zeit nach Covid-19 führen, die sowohl die Wissenschaft als auch Sie sich selbst in Ihrem jeweiligen KMU zugunsten einer konstruktiven Zukunftsplanung stellen sollten.

Neue Arbeitsformen

Die Corona-Situation hat in fast allen KMU der Schweiz zu einer Dislokalisierung und Virtuali­sierung des Arbeitens geführt. Zwar suchen KMU nicht erst seit Covid-19 nach Lösungen für Heraus­for­derungen des dislokalen und virtuellen Arbei­-tens. Denn auch zuvor führten die überlappenden Mega-Trends «Globalisierung», «Digitalisierung» und «Nachhaltigkeit» zur Frage, welche Formen des virtuellen Arbeitens auf welche Art und Weise in der Berufspraxis gelebt werden sollen. Die Sache ist nur die: Wir finden im Moment nach wie vor eine Lücke vor bezüglich konkreter und skalierbarer Lösungen und Vorgehensweisen des dislokalen und virtuellen Arbeitens in KMU – trotz aller in den letzten Jahren geführten Diskussionen um «agiles Arbeiten». Wenn Sie sich also nach wie vor fragen, was die «neue Zeit» für das Zusammenarbeiten in meinem KMU nun ganz konkret bedeuten soll: Willkommen im Club! Denn kurz vor der Corona-Pandemie hat RW3 1620 Manager aus 90 Ländern befragt und herausgefunden, dass nur 22 Prozent der Mitarbeitenden sich vertraut fühlen mit Best Practices des dislokalen und virtuellen Zusammenarbeitens und nur 15 Prozent der Führungskräfte sich als effektiv bezeichneten bezüglich des Führens in derartigen Arbeitskontexten.

Auch wenn diese Zahlen sich als Folge der gelebten Erfahrungen der letzten Monate – hoffentlich – nach oben entwickelt haben, so müssen wir diese Lücke in der notwendigen Kompetenz und im Selbstverständnis ernst nehmen. Dies bedeutet, dass wir alle uns in unseren jeweiligen Unternehmen mit folgenden Fragen beschäftigen sollten: Wie müssen wir Arbeits- und Führungsstile sowie Prozesse konkret anpassen? Braucht es dazu eine Restrukturierung unserer Hierarchien und Prozesse? Verfügen wir über die nötigen Kompetenzen, diese neuen dis­lokalen und virtuellen Arbeits- und Führungsstile zu leben? Wie ermögliche ich das Erlernen der nö­tigen Kompetenzen, und wie geht dies effizient?

Benötigen wir andersartige Persönlichkeits- und Jobprofile für unsere Mitarbeitenden? Welche Nuancen – zum Beispiel Ansprüche und Kompetenzen Mitarbeitender unterschiedlicher Generationen und Hintergründe – berücksichtige ich hierbei auf welche Art und Weise? Wie baue ich trotz grösserer geografischer Distanzierung Zugehörigkeits­gefühl und Loyalität auf? In welchem Ausmass und in welchen Situationen setzen wir weiterhin konsequent auf Präsenzpflicht und die direkte Interaktion? 

Neuer Energie-Haushalt

Es ist nicht ganz klar, wer genau den Begriff Vuca (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität) prägte. Sicher ist aber, dass er zuerst in US-ameri­kanischen Militärkreisen Ende der 1980er- /und zu Beginn der 1990er-Jahre verwendet wurde, zur 
Beschreibung einer vielschichtigeren geopolitischen Weltordnung nach dem Ende der bipolaren Welt  des Kalten Krieges. Sicher ist auch, dass der Begriff Vuca heute insbesondere zur Beschreibung der Herausforderung des Wirtschaftens im Kontext einer sich rapide verändernden Welt benutzt wird. Vieles – wenn nicht alles – erscheint uns heutzutage volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig. Die Corona-Situation hat dieses Empfinden nachweislich verstärkt und  zum Teil zu tiefen existenziellen Fragen und gar Ängsten geführt.

Paradoxerweise verstärken sich diese Fragen und Ängste genau zu einer Zeit, in der das dislokale und virtuelle Arbeiten zunimmt. Dies bedeutet oftmals, dass Mitarbeitende mit ihren existenziellen Fragen zu­nehmend (geografisch) alleine sind und weniger Möglichkeiten haben, sich über diese Fragen auszutauschen, was das Risiko negativer Konsequenzen auf die physische und psychische Gesundheit der Mitarbeitenden weiter erhöht. Um diese Dynamik zu durchbrechen, müssen wir uns verstärkt folgenden Fragen stellen: Welche Rolle sollen Führungs- und Kommunikationsroutinen dabei spielen, Mitarbeitende in ihrem jeweiligen Umgang mit einer volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Welt zu unterstützen? In welchem Ausmass und auf welche Art und Weise soll in diesem Kontext subjektiv Empfundenes thematisiert werden? Welche Arbeitsroutinen erhöhen die empfundene Sicherheit und damit das Selbst­vertrauen der Mitarbeitenden, dass eine jeweilige Situation – trotz Vuca – bearbeitbar und lösbar ist? Welches Selbstverständnis ist zu fördern, sodass Mitarbeitende nachhaltig «durchhalten» können und wollen, auch wenn die jeweilige Lösung oder der Erfolg nicht unmittelbar absehbar ist? In welchem Ausmass kann ich Mitar­beitende «ungeschützt» mit Unsicherheit konfron­tieren, um kollektive Lösungsfindungsprozesse zu stimulieren? Welche Haltungen und Kompetenzen brauchen Mitarbeitende, um konstruktiv und gesund zu derartigen kollektiven Lösungsfindungsprozessen beizutragen?

Neue Performanz

Als Folge der oben genannten Fragestellungen stellt sich implizit die Frage, wie wir im Kontext der «neuen Zeit» Arbeitsleistungen messen. Wenn wir Leistung wie bisher messen, dann nehmen wir uns die Luft zur Beantwortung der oben genannten Fragestellungen und es verändert sich nichts. Für neue Haltungen und Verhaltensweisen in der «neuen Zeit» braucht es also – wenn wir es wirklich ernst meinen – auch eine kritische Hinterfragung der Messung von Arbeitsleistung, dazu folgende Leitfragen: Wie belohnen wir Führungskräfte, wie Mitarbeitende auch für ihre Verdienste in der Herstellung von einer Atmosphäre des Vertrauens und der Menschlichkeit? Wie bewerten wir Verhaltensweisen, die nicht unmittelbar zur kurzfristigen Bottom-Line beitragen, aber dafür zur mittel- und langfristigen Erhöhung der organisationalen Widerstandsfähigkeit? In welchem Ausmass gehört die Förderung von Gesundheit und Sicherheit zur Kernaufgabe unseres Wirtschaftens? Auf welche Art und Weise müssen unsere existierenden KPIs entsprechend ergänzt werden?  

Ich bin mir bewusst, dass dies zum Teil sehr anspruchsvolle Fragen sind und nicht zu jeder Frage unmittelbar eine Antwort formuliert werden kann. Aber ich bin überzeugt, dass wir uns dennoch – oder gerade deshalb – mutig und in aller Konsequenz diesen Fragen stellen sollten, um gerüstet zu sein für die «neue Zeit» nach Corona, die nun hoffentlich schon sehr bald beginnt.

Porträt