Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Verträge: dynamisch und interdis­ziplinär

Verträge sind der Grundbaustein der Marktwirtschaft. Sie sind meist unvollständig, können hintergangen werden und kennen die Zukunft nicht wirklich. Verträge sollen darum interdisziplinär und dynamisch gestaltet werden.
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Wer Ökonomie studiert, befasst sich ganz am Anfang mit der Nachfrage und dem Angebot in einer Volkswirtschaft, und dann damit, wie diese beiden zusammentreffen, um Preis und Menge zu bestimmen. Dieses mikroökonomische Grundmodell zeigt eindrücklich, wie radikale Vereinfachungen die Sicht auf wesentliche Zusammenhänge freilegen können. Bei dieser Vereinfachung geht aber auch etwas verloren, das für eine Marktwirtschaft ebenso fundamental ist wie Nachfrage und Angebot, nämlich der freiwillige Tausch zwischen zwei Akteuren, auch Transaktion genannt. 

Tauschgeschäfte bilden die Wirtschaft

Wie der amerikanische Milliardär Ray Dalio in seinem illustrativen Video «Wie die Wirtschaftsmaschine funktioniert» erklärt, sind die Transaktionen zwischen Käufern und Verkäufern die Grundbausteine unserer Marktwirtschaft. Da Transaktionen durch Verträge besiegelt werden, kann man die Wirtschaft somit als Summe aller Verträge ansehen. Verträge, die verhandelt, unterzeichnet, erfüllt oder eben auch missverstanden, verändert oder gebrochen werden. Spätestens seit 2016 der Wirtschaftsnobelpreis für die Vertragsökonomie vergeben wurde, sind Verträge nicht mehr nur in der Rechtswissenschaft ein grosses Thema, sondern auch in der Ökonomie angekommen. Schon der Ur-Ökonom Adam Smith betonte unter anderem die Freiwilligkeit des Tausches als kennzeichnenden Vorteil des Markts.

In der Folge aber delegierte es die Ökonomie wahrscheinlich zu oft an die Rechtswissenschaft ab, wie Verträge zu schliessen und durchzusetzen sind. Ökonomische Theorie ging meist stillschweigend davon aus, dass Verträge kostenlos ausgehandelt und geschlossen werden, und dann ohne Weiteres genau so realisiert werden. Für die Wirtschaft sind das Vertragsrecht im Besonderen und die Rechtssicherheit im Allgemeinen freilich als wichtige Standortfaktoren nicht zu unterschätzen. Verträge sind dabei kaum je vollständig; es gibt also immer Dinge, die ein realer Vertrag offenlässt. Die Gründe dafür sind vielfältig: Zunächst birgt die Zukunft stets Überraschungen, die bei Vertragsschluss noch kaum zu erahnen waren – siehe nur Corona. Zweitens will man auch nicht immer alles im Detail regeln. Der Arbeitsvertrag einer Forscherin etwa sollte ihr nicht schon im Einzelnen vorschreiben, nach welchen Methoden sie vorzugehen hat, denn die Festlegung eines adäquaten methodischen Researchprogramms bildet ja gerade den Kern der Arbeit der Forscherin. Drittens, und vor allem, ist es in vielen Situationen schlicht unökonomisch, jede Eventualität in einem juristisch wasserdichten Vertrag zu regeln. Mit gewissen Vertragslücken will und soll man leben können.

Vertrauen über das Recht hinaus absichern

Wie soll man mit diesen offenbar un­umgänglichen Vertragslücken umgehen? Die kürzeste Antwort darauf lautet, dass es zwischen den Vertragspartnern Vertrauen braucht. Besser als blindes Vertrauen ist dabei ein Vertrauen, das auf irgendeine Art und Weise abgesichert ist, auch für den Fall, wenn das Vertragsrecht im engeren Sinn nicht genügend greift oder bei seiner Durchsetzung verhältnismässig (zu) teuer ist. Ein Mittel der Wahl, auf das viele auch aus Intuition und Erfahrung zurückgreifen, ist das Aufbauen von langfristigen Geschäftsbeziehungen. Die damit einhergehende gegenseitige Erwartung, dass man nicht nur heute im Tausch steht, sondern auch morgen und übermorgen, lässt den Reiz des Vertragsbruchs schwinden. Denn wer seine Geschäftspartner heute über den Tisch zieht, verpasst das Geschäft mit ihnen morgen und übermorgen und verliert damit insgesamt. Also bleibt man lieber auch heute kooperativ. Diese reziproke Absicherung kann zu Verträgen führen, die auf «Bierdeckelgrösse» schrumpfen.

Ähnlich funktionieren auch Netzwerke, in die man Zeit, Geld oder seine Ehre investiert hat: Wo man einen guten Ruf zu verlieren hat, sichert dieser Verträge ab. «Lass uns diesen Bierdeckelvertrag durchziehen – du weisst, dass ich dich nicht enttäuschen will, denn du könnest und würdest es sonst im ganzen Dorf erzählen.» «Dorf» kann man ersetzen mit Branchenverband, Gewerbeverein, Tennisclub, Handelskammer und vielem anderem mehr. Was man als Filz verschmähen mag, hat damit auch seine rationalen Vorteile für die Akteure und senkt volkswirtschaftlich gesehen Transaktionskosten. Ein guter Ruf funktioniert wie ein Pfand, das bei hinreichender Enttäuschung beschädigt wird.

Derartige Instrumente zur nicht-juristischen Absicherung von Vertragsbe­ziehungen gibt es in den unterschiedlichsten Formen, bis hin zu den sogenannten Smart Contracts. Dies sind «Wenn-dann»-Programme, die auf einer Blockchain abgebildet sind und dadurch unveränderlich werden. Das macht sie zu einer Art selbstausführendem Vertrag, der beispielsweise so lautet: «Wenn der Inhalt dieses Containers während des Transports einmal wärmer als sechs Grad Celsius wird, dann geht Betrag X in Kryptowährung in mein Wallet, andernfalls geht der Betrag Y in dein Wallet.» Und falls der Container überhaupt nicht ankommen sollte, wird automatisch nochmals etwas anderes passieren und so weiter. Man darf an Smart Contracts keine überzogenen Erwartungen haben, aber diese können durchaus sehr effizient bestimmte, klar definierte Absicherungsfunktionen übernehmen, die bislang im Rahmen von Escrow-Geschäften Banken oder anderen Vertrauens­intermediären vorbehalten blieben.

Von persönlichem Vertrauen über (Vertrags-)Recht bis Smart Contracts: Verträge haben viele interdisziplinäre Aspekte. Verbindungen, Abhängigkeiten und Vernetzungen in persönlicher, technischer, sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und natürlich auch rechtlicher Hinsicht. In diesem Sinne ist der Vertrag nicht nur ein einzelnes Ding, sondern ein ganzes Bündel von Versprechen, die eigeninteressierte und von gegenseitiger Kooperation profitierende Akteure unter bestimmten Umständen abgeben und einfordern. Die Beziehungen sind dabei dynamisch.

Die Vertragsmanager kommen

Ein einmal unterschriebenes Stück Papier allein wird einem solch umfassenden Vertragsverständnis nicht hinreichend gerecht – auch wenn darauf zentrale Eckpunkte explizit formuliert sein mögen, was natürlich ein entscheidender Anfang einer Vertragsbeziehung ist. Vertragsparteien, die sich auf unbestimmte Zeit in einer komplexen gegenseitigen Abhängigkeit befinden, tun gut daran, eine Dynamik auch in diesem Sinn und Geist in ihren geschriebenen Vertrag zu integrieren. Sie betrachten ihren Vertrag nicht einfach nur als eine einmal fixierte Vereinbarung, sondern auch als eine fortwährende Verhandlungssituation, in der die Art des Gebens und Nehmens gegebenenfalls neuen Umständen und Möglichkeiten anzupassen ist. In Unternehmen, wo regelmässig Tausende von laufenden Verträgen bestehen, wird dies selbstredend sehr anspruchsvoll.

Der geschickte Umgang mit Verträgen und Vertragsbeziehungen ist aber erfolgskritisch. Das Berufsbild der Contract Manager ist interdisziplinär und auf dem Vormarsch, weshalb es etwa an der Hochschule Luzern neu auch eine spezifische Weiterbildung zum Vertragsmanagement gibt. Ob es nun Aufgabe einer professionellen Vertragsmanagerin oder Chefsache ist: Verträge wollen nicht nur geschlossen werden, sie wollen auch gepflegt und in den grösseren Kontext des ganzen Unternehmens gesetzt werden.