Forschung & Entwicklung

Produktrisiken

Sicherheit bei der Entwicklung von Nanomaterialien schaffen

Die Entwicklung von neuen und oft hochinnovativen Chemikalien wie Nanomaterialien und darauf basierenden Produkten ist sehr oft mit grossen Unsicherheiten verbunden. Dieser Beitrag beleuchtet den Umgang mit Unsicherheiten und Risiken während der Entwicklung von Nanomaterialien.
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Heutzutage ist es Teil der gesetzlich vorgeschriebenen industriellen Selbstkontrolle, mögliche Risiken einer Chemikalie für die Umwelt und die Gesundheit des Menschen bereits während ihrer Entwicklung zu berücksichtigen. Dazu gibt es gesetzliche Auflagen für bestimmte Verwendungszwecke beziehungsweise Arten von Chemikalien (Medikamente, medizintechnische Produkte, Lebensmittel, Kosmetika, Kinderspielzeuge, Biozidprodukte, VOC und so weiter). Ebenso ist es industrielle «best practice», für neue Produkte andere Risiken (Funktionalität, Finanzen, Reputation etc.) während der Entwicklung abzuklären.

Grosse Unsicherheiten

Die Entwicklung von neuen und oft hochinnovativen Chemikalien wie Nanoma­terialien und darauf basierenden Pro­dukten ist aber oftmals mit grossen Unsicherheiten verbunden, so dass mögliche Risiken und  der Nutzen im Voraus kaum abgeschätzt werden können (Anmerkung: Aus Gründen der Lesbarkeit wird nur von Nanomaterialien gesprochen, auch wenn alle Aussagen in diesem Text über Nanomaterialien auch auf Produkte, die diese enthalten, anwendbar sind). Dies gilt ins­besondere für kleine und mittelgrosse Unternhemn mit ihren spezifischen Ressourcen (Personal, Kapital, Know-how, Apparate, Kapazität).

Unsicherheit über die gesetzliche Regulierung von Nanomaterialien

Auch regulatorische Organisationen wie Swissmedic oder Behörden wie zum Beispiel das Schweizer Bundesamt für Gesundheit BAG und benannte Stellen wie beispielsweise Swiss TS haben Mühe damit, wie sie mit Nanomaterialien umgehen sollen, da sie auf wissenschaftliche Ergebnisse angewiesen sind. Deswegen herrscht zurzeit grosse Unsicherheit darüber, wie Nanomaterialien in Zukunft durch die regulatorischen Organisationen bewertet werden:

«Die EU-Verordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien (REACH-Verordnung) regelt den Einsatz von Nanomaterialien nur in Ansätzen», erklärt Dr. Anke Jesse, im deutschen Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) Leiterin des Referats für Nanotechnologie und synthetische Na­nomaterialien. (Anmerkung: EU-Verordnungen als Teil des Sekundärrechtes sind allgemeine Regelungen mit unmittelbarer innerstaatlicher Geltung, die im innerstaatlichen Recht einem Gesetz entsprechen.) So schreibt die REACH-Ver­ordnung bisher keine spezifischen Untersuchungen für Nanomaterialien vor.

Dies wird sich ändern. Die alte EU-Kommission (Barroso II) stellte im Mai 2014 erste Vorschläge zur nanospezifischen Anpassung von Reach zur Diskussion. Seitdem warten EU-Staaten und Unternehmen auf die konkrete Ausgestaltung der Vorschläge durch die neue EU-Kommission (Juncker) und Europäische Chemikalienagentur (ECHA).

Zusätzlich zur inhaltlichen Unsicherheit gibt es auch eine Unsicherheit über den geografischen Geltungsbereich der Reach-Verordnung: Sie gilt nicht nur im ganzen EWR (EU und EFTA), sondern auch in mit der EU assoziierten Staaten wie Türkei oder Serbien. Daher gilt die Reach-Verordnung auch für in den EWR exportierende Schweizer Firmen.

Es gibt auch Länder wie die Schweiz, die zwar nicht Mitglied des EWR sind, in denen aber die Chemikaliengesetzgebung an die Reach-Verordnung angelehnt ist. Für den Schweizer Markt sind weiterhin das Schweizer Chemikaliengesetz und die Schweizer Chemikalienverordnung mit Unterschieden zur REACH-Verordnung massgeblich. Vor allem erfolgt die Zulassung beziehungsweise Registrierung einer Chemikalie nicht durch die Europäische Chemikalienagentur, sondern durch die Anmeldestelle Chemikalien des Bundes.

Nicht nur auf europäischer Ebene gibt es Bestrebungen, die Chemikaliengesetzgebung inklusive der Nanomaterialien zu harmonisieren, sondern auch auf globaler Ebene: So vereinheitlicht das «Global harmonisierte System zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien» (GHS) der Vereinten Nationen, das in der EU mit der CLP-Verordnung und in der Schweiz mit der Chemikalienverordnung umgesetzt wird, die Kennzeichnungen (vor allem die altbekannten Gefahrensymbole) auf Verpackungen und Sicherheitsdatenblättern.  Ebenso sind solche Harmonisierungen ein Teil der Verhandlungen über Freihandelsabkommen (TTIP, TPP etc.).

Unsicherheit über die Eigenschaften von Nanomaterialien wegen fehlender Testmethoden

Bei Nanomaterialien besteht ein grosses Problem darin, dass allgemein akzeptierte Testmethoden zur Charakterisierung von Nanomaterialien (Partikelgrös­senverteilung, Form etc.) in vielen Fällen fehlen. Zudem müssen einige der für herkömmliche Chemikalien entwickelten Testmethoden zur Bestimmung toxiko­logischer und ökotoxikologischer Eigenschaften angepasst werden. Valide Testmethoden sind aber notwendig für das Verständnis des Zusammenhangs zwischen den physikalisch-chemischen Eigenschaften und der biologischen Wirkung eines Nanomaterials.

Unternehmen lassen bereits Eigenschaften ihrer Nanomaterialien untersuchen: «Viele Versuchsergebnisse sind aber nicht vergleichbar», bemängelt Dr. Tom van Teunenbroek, «Senior Policy Coordinator / Health expert» im niederländischen Ministerium für Umwelt und Infrastruktur, und ergänzt: «So prüfen Firmen ihre Materialien unter unterschiedlichen Bedingungen. Regulatorische Organisationen bräuchten aber Ergebnisse, die einen hohen wissenschaftlichen Standard erfüllen und nach gleichen Testvorgaben untersucht werden und somit untereinander vergleichbar wären.»

Das EU-Projekt «Nanoreg»

Um das zu erreichen, initiierten Jesse und van Teunenbroek das EU-Forschungsprojekt «Nanoreg». Das Projekt begann im März 2013 und wird im Oktober 2016 enden. Ein Fokus des «Nanoreg»-Projektes ist die Validierung bestehender Daten mit einheitlichen Anweisungen: In 63 Laboratorien in 16 Staaten – darunter auch in der Schweiz – werden dazu Tests von 19 verschiedenen Nanomaterialien (17 granuläre Partikel und zwei faserartige Materialien) validiert.

Der zweite Fokus des «Nanoreg»-Projektes ist es, Unternehmen darin zu unterstützen, sichere Nanomaterialien zu entwickeln. Dafür entwickelt das Schwei­zer Beratungsunternehmen Temas AG gemeinsam mit dem niederländischen Reichsinstitut für Umwelt und Volksgesundheit (RIVM) das «Nanoreg Safe-by-Design»-Konzept. Mit diesem sollen Unternehmen bereits im Vorfeld der Marktreife – in einem möglichst frühen Stadium der Entwicklung – eines Nanomaterials mögliche Unsicherheiten und Risiken einschätzen und bewerten können. Dadurch können Unsicherheiten reduziert und Risiken gemanagt werden.

«Zeigt sich, dass Unsicherheiten oder Risiken sehr hoch sind, kann ein Unternehmen eine Entwicklung frühzeitig ab­brechen oder alternative Lösungswege einschlagen – und so Kosten einer langen Fehlentwicklung einsparen. Das bedeutet nicht, künftig nur noch risikolose Nanomaterialien zu entwickeln», so Karl Höhener von der Temas AG. «Aber wir müssen die Risiken und Unsicherheiten kennen und sie auf ein akzeptables Mass reduzieren.»

«Das «Nanoreg Safe-by-Design»-Konzept schützt zwar keine Firma vor nicht erwarteten gesetzlichen Regelungen», ergänzt Höhener. «Es bietet aber eine gute Wissensgrundlage, um selber Unsicherheiten und Risiken gut einschätzen zu können und damit auf zukünftige Regulierungen vorbereitet zu sein.»

«Nanoreg Safe-by-Design»

Für das «Nanoreg Safe-by-Design»-Kon­-zept wird ein bereits verbreiteter Innovationsmanagementprozess, das sogenannte «Sta­ge-Gate»-Modell für Forschungs- und  Entwicklungsprojekte, mit den – heutzutage in den Unternehmen schon vorhandenen – Ma­na­gementprozessen für Risiken, Regula­tio­nen sowie Sicherheit /Gesundheit / Umwelt («EHS», «Responsible Care», «LCA bzw. Lebenszyklusanalyse») gekoppelt. Idealerweise fliessen die Erkenntnisse dieser Prozesse in die Entwicklung ein (z. B. in einem iterativen Prozess), sodass die Entwicklung so gesteuert werden kann, dass von vornherein möglichst sichere Produkte entwickelt werden, ohne Kosten in zu riskanten Produkten zu versenken.

Im «Stage-Gate»-Modell und verwandten Innovationsmanagementprozessen wird der Entwicklungsprozess in Entwicklungsphasen («stages») und Entscheidungstore («gates») unterteilt; dabei wird jeweils in einem Entscheidungstor die Projektarbeit der vorhergehenden Entwicklungsphasen beurteilt und darüber entschieden, ob und wie ein Projekt in der nächsten Entwicklungsphase weitergeführt wird. Dafür sollten in jeder Phase Alternativen und Optionen entwickelt werden. Die erfolgversprechendsten darunter werden dann von den Entscheidern («gatekeeper») im Entscheidungstor ausgewählt. Ebenso sollten für das integrierte Risikomanagement Risikobehandlungsoptionen entwickelt werden, über die dann in den Entscheidungstoren entschieden wird.

Exemplarische Darstellung

Am Anfang des Entwicklungsprojektes wird das zu entwickelnde Nanomaterial im Rahmen des ersten Schrittes der Selbstkontrolle technisch und regulatorisch kategorisiert (inklusive der Abgrenzung des Produkts), um herauszufinden, welche der eingangs erwähnten regulatorischen Vorgaben berücksichtigt werden müssen.

Dann wird die aktuelle Datenlage auf mögliche Unsicherheiten, Risiken und Wissenslücken geprüft sowie mögliche Expositionsszenarien identifiziert (sollen etwa Verbraucher mit einem Nanomaterial direkt in Kontakt kommen, braucht es mehr Information über deren gefährliche Eigenschaften, als wenn ein Nanomaterial fest in einer Matrix fixiert ist). Für solche Abklärungen eignen sich sogenannte «Control Banding»-Instrumente wie der Vorsorgeraster für synthetische Nanomaterialien (Schweizer Bundesamt für Gesundheit BAG, Temas AG).

Dann versucht man, mit den vorhandenen Daten mittels Abschätzungen sowie vereinfachter Simulationen beziehungsweise Modellierungen die Wissenslücken zu schlies­sen, um Unsicherheiten reduzieren und Risiken abschätzen zu können. Daran schliesst sich eine erste theoretische Risikoeinschätzung («Risk Assessment», bestehend aus Risikoanalyse und Risiko­bewertung) und die Entwicklung von Risikobehandlungsoptionen an.

Dabei werden in der Regel nur existierende Daten (zum Beispiel Referenzwerte aus einer Referenzdatenbank) verwendet, auch von verwandten Nanomaterialien («grouping», «read-across»), um auf (teure) experimentelle Arbeiten verzichten zu können und somit den Aufwand in Grenzen zu halten. Für diese oftmals nur qualitativen Betrachtungen reichen aber weniger genaue Daten aus. Diese Arbeiten dienen auch der Vorbereitung und Planung der experimentellen Arbeiten in der nächsten Entwicklungsphase.

Während der eigentlichen Entwicklungsphase sollten alle Wissenslücken entweder experimentell oder durch genaue
Simulationen sowie Modellierungen geschlossen werden, so dass man Unsicherheiten reduzieren und die Risiken genau beurteilen kann. Darauf basierend können schliesslich Massnahmen ergriffen werden, wie mit diesen Risiken umge­gangen werden soll (in Sinne eines Risikomanagements).

Weiterentwicklung des Konzepts

Unsicherheiten und Risiken können jedoch nicht alleine durch die Installation eines Managementprozesses wie des «Nanoreg Safe-by-Design»-Konzepts reduziert werden. Deswegen muss das «Nanoreg Safe-by-Design»-Konzept unterstützt werden durch:

  • spezifische Testverfahren für Nano­materialien aus verschiedenen Quellen (EU-Forschungsprojekte, öffent­liche sowie private Forschung und so weiter) gesam­melten Daten von Nanomaterialien;
  • einen «Werkzeugkasten», der sowohl normale wie speziell auf die Charakteristika von Nanomaterialien angepasste Managementmethoden enthält;
  • das Durchführen von Teilforschungsprojekten im Rahmen eines EU-Forschungsprojektes.

Um das «Nanoreg Safe-by-Design»-Konzept auf diese Art weiterzuentwickeln und zu optimieren, benötigt es Partner für die industrielle Umsetzung, um echte, relevante Daten zu erhalten. Die industrielle Umsetzung wird im Rahmen mehrerer Forschungsprojekte über Ausschreibungen gefördert, auch in der Schweiz.

Porträt