Forschung & Entwicklung

Innovationsmanagement

Sicher durch Veränderungsprozesse in reifen Märkten

Wahre Innovationen, also vollkommen neue Produkte und Lösungen, sind selten. Aber auch wenn Unternehmen an der Weiterentwicklung ihres Portfolios feilen, sollten sie zur Abwehr ihrer Mitbewerber an Veränderungsprozessen arbeiten. Welche Phasen ein erfolgreiches Unternehmen in einem reifen Markt durchläuft, zeigt dieser Beitrag.
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Im täglichen Arbeitsalltag arbeiten die meisten technischen Unternehmen mit sogenannten Innovationsprozessen. An Messen und Kundenveranstaltungen präsentiert sich praktisch jedes Unternehmen als Innovationsführer seiner Branche. Der Unternehmensstandort Schweiz führt das Innovationsranking Europas. Doch wenn man dies an den Fakten widerspiegelt, ergibt sich ein anderes Bild. Wie viel Prozent des R&D-Budgets werden in Produkte und Lösungen investiert, die in ihrer Art vollkommen neu sind? Wann erfuhr die Branche zum letzten Mal einen technologischen Sprung, der die Karten unter den Marktplayern neu gemischt hat? Und wie lange ist das Ökosystem der Branche bereits unverändert?

Der Veränderungsprozess

Wenn diese und ähnliche Fragen ehrlich beantwortet werden, kommt man meist zum Schluss, dass wahre Innovation im jeweiligen Geschäft kaum stattfindet und man in einem reifen Markt arbeitet.

Dies soll aber nicht heissen, dass die Unternehmensleitung nun beruhigt auf eine inkrementelle Weiterentwicklung des bereits vorhandenen Portfolios setzen sollte. Vielmehr sollte die zur Verfügung stehende Zeit besser genutzt werden, um sich auf die Konkurrenz von Billiganbietern und Mitbewerbern von aussen vorzubereiten. Nach unserer Erfahrung beinhaltet dieser Veränderungsprozess in Unternehmen vier aufeinander aufbauende Schritte.

Phase 1: Das Eingeständnis

Wir wagen die These zu stellen, dass die Nutzung des Wortes Innovation innerhalb eines Unternehmens negativ mit seiner tatsächlichen Innovationskraft am Markt korreliert. Dies deshalb, weil der Begriff in sich in einer konkreten Branche nicht mehr als eine leere Worthülse darstellt.Deshalb sollte der Startpunkt der Überlegungen sein, dass das in den letzten Jahren Erreichte zwar sinnvoll und richtig war, aber nicht innovativ.

In der beraterseitigen Begleitung hilft bei diesem Schritt oft die beruhigende Tatsache, dass auch die meisten Mitbewerber in der Zwischenzeit nicht weiter gekommen sind. Der Beginn der Arbeit ist daher das Eingeständnis, dass das Portfolio dem der Mitbewerber stark gleicht.

Aus Sicht des Kunden stellen die heutigen Produkte und Dienstleistungen einen austauschbaren Baustein dar, dessen er oder sie sich bedient, um eine definierte Funktion zu erfüllen. Den Abschluss der ersten Phase bildet folgerichtig die Identifikation der Kernfunktion aus Kundensicht, so wie sie vom Unternehmen und seinen Mitbewerbern heute erfüllt wird.

Phase 2: Maximierung des Nutzens der Kernfunktion

Nun, da die Kernfunktion des Portfolios bekannt ist, sollte zunächst alles daran gesetzt werden, diese Funktion für Endkunden so angenehm und günstig zu machen. Der Schlüssel hierzu liegt in ei­nem intimen Marktverständnis der Kernfunktion. In Workshops und Kundeninterviews sollte man sich daher von folgenden Fragen leiten lassen:

  • Wieso erwirbt ein Anwender diese Kernfunktion?
  • Wie integriert der Anwender diese Kernfunktion in sein Unternehmen?
  • Wie bedient der Anwender die Kernfunktion?
  • Mit welchen vor- und nachgelagerten Schritten hängt die Kernfunktion beim Anwender zusammen?
  • In welchen unterschiedlichen Applikationen und Situationen setzt ein Anwender Ihre Kernfunktion ein?

Ein Beispiel für ein Unternehmen, welches das Verständnis dieser Fragen perfekt beherrscht, ist das Schweizer Unternehmen Belimo. Belimo ist Weltmarktführer für Stellantriebe in Heizungs-, Lüftungs- und Klimaanlagen. Rein technisch ist die Lösung zur Erfüllung dieser Kernfunktion lediglich ein einfacher Elektromotor. Der Schlüssel zum Erfolg des Unternehmens liegt jedoch im Verständnis des Kontextes innerhalb dessen Belimo-Kunden, das heisst, die HLK-Installateure und Hersteller von Gesamtsystemen, die Funktion einsetzen.

Um dies zu erreichen, hat Belimo Produktmanagement und R & D nach Kundenapplikationen strukturiert und arbeitet bei der Entwicklung eng mit den entsprechenden Kunden zusammen. Daneben interagiert Belimo in diversen Arbeitsgruppen mit den Anbietern vor- und nachgelagerter Funktionen. Als Resultat dieser Anstrengungen haben sich bei Belimo ein Markt- und ein Kundenverständnis etabliert, die sich in Produkten und Marketing widerspiegeln und dem Unternehmen einen einzigartigen Marktanteil sichern.

Wie dieses Beispiel zeigt, braucht es für diese Phase wie auch die folgenden vor allem zwei Dinge: tiefe Industriekenntnis und ein strukturiertes, sorgfältigen Vorgehen. Der Schlüssel hierfür ist ein guter Austausch zwischen Produktmanagement und Vertrieb. Ferner sollten Schlüsselkunden in die Definition neuer Produkte einbezogen werden. Resultierende Funktionsmuster sollten wiederum durch diese Schlüsselkunden auf Usability und Market Fit geprüft werden. Als allgemeine Massnahme hat es sich auch bewährt, jeden Mitarbeitenden im Unternehmen von Entwicklung, Produktmanagement, Produktion, Dokumentation bis hin zum Management einmal im Jahr für zwei bis drei Tage an die Front zum Kunden zu schicken. Diese Zeit ist besser investiert als so mancher interne Strategieworkshop.

Phase 3: Erforschung der Nachbarbranchen

Der obige Schritt der Verbesserung der Kernfunktion trägt auch in reifen Commodity-Märkten sehr weit. Selbst wenn die Produkte langsam zur Massenware werden, werden Kunden die aus der Industriekenntnis resultierenden Feinheiten honorieren. Irgendwann kommt jedoch der Punkt, dass auch bei genauer Kenntnis der Kernfunktion und der umgebenden Prozesse beim Anwender kaum noch Mehrwert erzielbar ist. Nun ist der Zeitpunkt, den Blick auf die Nachbar­branchen zu lenken. Die Leitfrage ist, ob mit dem vorhandenen Portfolio, dem Entwicklungs-Know-how, der Infrastruktur und dem Kundennetz Zugang zu Nachbarbranchen erlangbar ist und dadurch neuer kombinatorischer Kundennutzen entsteht. Mögliche kombinatorische Nutzen könnten sein:

  • Reduktion der Schnittstellen für den Anwender durch «Alles-aus-einer-Hand»-Lösungsanbieter
  • Kostenreduktion durch Mehrfachnutzung von Ressourcen
  • Neue Funktionen oder bessere Erfüllung bestehender Funktionen durch Integration mit vor- oder nachgelagerten Prozessschritten

Demgegenüber stehen jene Aufwände, die investiert werden müssen, um die Nachbarbranche zu erschliessen. Diese hängen unter anderem von den folgenden Aspekten ab:

  • Welche technischen Anpassungen sind notwendig, damit das Portfolio die Funktionen der Nachbarbranche erfüllen kann?
  • Sind die heutigen Methoden des Vertriebs und die aktuellen Vertriebsbeziehungen auch auf die Nachbarbranche übertragbar?
  • Ist die Nachbarbranche durch regulatorische oder normative Anforderungen geschützt?

Dass der Eintritt in eine Nachbarbranche nicht ausschliesslich in Eigenregie erfolgen muss, sondern auch durch Partnerschaften mit anderen Unternehmen in dieser Branche erreicht werden kann, zeigt das Beispiel des Unternehmens Tecan. Das Schweizer Unternehmen Tecan ist Experte in der Laborautomation, um beispielsweise in Kliniken und der Pharmaforschung vollautomatisiert Proben zu analysieren. Auf diesem Gebiet versteht Tecan die Prozesse, die bei den Anwendern ablaufen und bildet diese mit Automaten ab. Hierzu gehören zum Beispiel Pipettierautomaten, die bis zu mehrere Hundert Reagenzien auf den Mikroliter genau dispensieren können.

Eine Nachbarbranche der Firma Tecan ist die der Diagnostik, in der die resultierenden Substanzen analysiert werden. Hier ist die Firma Dako, eine Tochter des amerikanischen Konzerns Agilent Technologies, führend im Bereich der Krebsdiagnostik. Tecan hat 2013 im Rahmen einer Entwicklungskooperation seine Kom­petenz in der Automatisierung mit dem Dako-Diagnostikwissen im neuen Produkt «Omnis» kombiniert.

Dadurch ergibt sich durch die einfachere Nutzerschnittstelle eine Vereinfachung für den Anwender. Und schliesslich resultiert auch eine Kostensenkung durch den erhöhten Durchsatz.

Phase 4: Nutzenstiftung für Beeinflusser innerhalb des Ökosystems

Die bisherigen Überlegungen gingen davon aus, dass der Anwender einer Funktion auch die Kaufentscheidung trifft. Je mehr jedoch eine Funktion standardisiert ist, desto mehr wandert die Kaufentscheidung vom eigentlichen Anwender zu Einkaufsorganisationen und Zwischenhändlern. Der eigentliche Anwender sieht gar nicht mehr die Notwendigkeit, sich mit den technischen Details, der Ausschreibung und Lieferantenauswahl der Funktion zu beschäftigen. Als illustratives Beispiel soll der Betrieb einer Raffinerie zur Herstellung von Fahrzeugtreibstoff dienen. Der Anwender des Produkts, d.h. der Fahrzeugbetreiber, hat in diesem Fall praktisch keinen Einfluss auf die Auswahl der Raffinerie. Viel entscheidender hingegen wären die Zwischenhändler. Diese Situation trifft man mittlerweile in vielen Branchen an, da nur wenige Produkte und Lösungen für den Anwender so interessant und so konfigurierbar sind, dass ein direkter Zugriff vom Anwender auf den Hersteller sinnvoll ist.

In dieser Situation ist es angebracht, das gesamte Ökosystem des Marktes zu analysieren:

  • Welche Rollen kommen mit den Produkten und Lösungen in Kontakt, bevor sie schlussendlich vom Anwender eingesetzt werden? Wichtige Rollen sind beispielsweise Reseller, Planer, Logistikunternehmen und Installateure.
  • Wie laufen die Entscheidungsprozesse ab, die dazu führen, dass die eigenen Produkte und Lösungen oder die eines Mitbewerbers präferiert werden?
  • Welche Interessen vertreten die verschiedenen Parteien im Hinblick auf die Kernfunktion?
  • Welche Interessen und Bedürfnisse vertreten die verschiedenen Parteien prinzipiell?

Um diese Aspekte zu identifizieren sollten Interviews mit allen relevanten Rollen geführt werden. Bei diesen Gesprächen soll-te nicht die eigentliche Kernfunktion, sondern die tägliche Arbeit dieser Rolle, zum Beispiel eines Resellers, in den Vordergrund gestellt werden. Was bewegt ihn oder sie, was könnte verbessert werden? Das Gespräch sollte locker strukturiert werden und es kann hilfreich sein, einen externen Partner mit der Gesprächsführung zu beauftragen, der nicht mit der Kernfunktion identifiziert wird.

Die Firma Geberit hat diesen Prozess bereits durchlaufen. Das Schweizer Unternehmen Geberit stellt Sanitär- und Rohrleitungssysteme her und agiert damit auf einem höchst preissensitiven Markt, in dem der Endanwender nur wenig Einfluss auf die Kaufentscheidung nimmt. Viel wichtiger sind für Geberit die Installateure und Planer, deren Hauptinteresse in schneller Planung und einfacher Installation liegt. Aus diesem Grund entwickelte Geberit schon vor vielen Jahren die Sanitärplanungssoftware «ProPlanner». Diese Software wird von Geberit in der Grundversion kostenlos an Planer abgegeben und beschleunigt so deren Arbeit. Natürlich erlaubt die Software quasi als Neben­effekt eine besonders einfache Erstellung eines Leistungsverzeichnisses für Geberit-Produkte. Geberit hat es somit trotz Commodity-Markt geschafft, zum Innovationsführer zu werden, indem das Leistungsangebot auf einen nachfolgenden Schritt der Wertschöpfungskette erweitert wurde.

Schlussfolgerung

Im vorliegenden Artikel haben wir die verschiedenen Phasen beschrieben, die ein erfolgreiches Unternehmen in einem reifen Markt durchläuft. Dies beginnt mit der Identifikation und Verbesserung der Kernfunktion des Portfolios. Anschlies­send wird die Eleganz dieser Funktion mithilfe des Industrieverständnisses maximiert. Im nächsten Schritt wird geprüft, ob sich durch Erweiterung der Funktion auf die Nachbarbranchen ein kombina­torischer Zusatznutzen realisieren lässt. Schliesslich wird in Nutzen für verschiedene Rollen innerhalb des Ökosystems investiert, die jedoch nicht der Endanwender sind.

Wichtig ist, bevor man in die Folgephase übergeht, zuerst alle Möglichkeiten der vorhergehenden Phase auszuschöpfen. So wäre es in einem noch innovativen, beweglichen Markt fatal, die Investitionen auf die Marktbeeinflusser zu konzentrieren. Die Mitbewerber hätten aus Sicht der Endanwender das leistungsfähigere Produkt oder Dienstleistung. Der Fokus auf das Wesentliche ist erfolgsentscheidend. Dies muss jedoch dann mit der entsprechenden Gründlichkeit und Nachhaltigkeit umgesetzt werden.