Forschung & Entwicklung

Organisationsentwicklung

Risiken und Erfolgsfaktoren auf dem Weg zur Selbstorganisation

Die überwiegende Mehrheit der Schweizer Unternehmen ist noch immer hierarchisch organisiert. In einem Umfeld, das zunehmend schnelllebiger und komplexer wird, ist der selbstorganisierte Ansatz eine mögliche Antwort darauf. Eine Studie zeigt die wesentlichen Stolpersteine und Erfolgsfaktoren auf dem Weg zur praktizierten Selbstorganisation.
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Neue und modernere Organisationsformen werden in naher Zukunft immer komplexer, und ein sich schneller änderndes Unternehmens- und Marktumfeld wird an Wichtigkeit zunehmen (Ayberk et al., 2017, S. 7). Einige Unternehmen haben sich bereits von der klassischen hie­rarchischen Organisation verabschiedet und wenden eine Form der Selbstorga­nisation an. Gerade auch im Hinblick auf die heranwachsende Generation Y, welche man mit Attributen wie Eigeninitiative und Verantwortungsbewusstsein beschreibt, lässt sich interpretieren, dass Vertreter der Generation Y selbstständiger sind und mit weniger Führung auskommen (Robbins & Judge, 2016, S. 127–163). Nun stellt sich die Frage, wo die Herausfor­derungen und Erfolgsfaktoren in Selbst­organisationen liegen.

Klare Regeln

Es haben sich bis heute bereits einige unterschiedliche Formen der Selbstorgani­sation etabliert. Die bekanntesten Or­ganisationsmodelle tragen Namen wie Holacracy, Liberated Company oder Scaled Agile  Framework 5 (SAFe) (Morisse, 2019). Häufig geht man davon aus, dass in einer Selbstorganisation Hierarchie und Führung überflüssig werden und alle Personen tun und lassen können, was sie möchten. Eine Selbstorganisation setzt voraus, dass klare Verantwortlichkeiten sowie Regeln definiert sind. Zudem ist Führung weiterhin wichtig und auch notwendig (Schellinger, Tokarski & Kissling-Näf, 2021).

In der Selbstorganisation wird die Autorität üblicherweise auf die gesamte Organisation verteilt. Dadurch soll die Organisation maximal flexibel und agil werden, um den Anforderungen der VUCA-Welt  gerecht zu werden. So ersetzt beispielsweise der holokratische Ansatz die klassische pyramidenförmige Hierarchie durch Personenkreise, auch Circles genannt, welche sich aus mehreren Rollen zusammensetzen und entsprechend eine gemeinsame Funktion bilden. Die gebildeten Teams arbeiten gemeinsam für einen klar definierten Zweck der Unternehmung und richten ihre Entscheidungen, Prioritäten und Handlungen an diesen Vorgaben aus (Morisse, 2019).

In der Praxis

Es gibt in der Schweiz einige Unternehmen, welche in selbstorganisierten Strukturen arbeiten und entsprechend erste ­Erfahrungen gemacht haben. Bekannte Unternehmen wie Freitag, welches in Zürich  Taschen aus alten LKW-Blachen herstellt, oder Flaschenpost als Schweizer Onlinehändler von Weinen, aber auch die NGO Greenpeace Schweiz sind ho­lokratisch und somit selbstorganisiert aufgestellt. Ivo Bättig hat sich dem Thema verschrieben und führt einen eigenen Blog und stellt auf seiner Homepage ­ivobaettig.com eine Übersicht zu Unternehmen mit Holacracy zur Ver­fügung (Bättig, 2021).

Die Forschungsmethodik

Das Forschungsteam der Fachhochschule OST hat einen klaren Plan zur Daten­erhebung und -validierung erstellt und eine entsprechende Timeline erarbeitet. Im ersten Schritt wurden die Forschungslücken durch eine vertiefte Literaturanalyse definiert und entsprechend ausgearbeitet. Basierend auf diesen Erkenntnissen wurde die darauffolgende qualitative Befragung bei qualifizierten Experten durchgeführt. Es wurden insgesamt 15 Experteninterviews mit Schweizer Un­ternehmen durchgeführt, transkribiert, codiert und anschliessend ausgewertet. 

Aus den Interviews wurden diverse Herausforderungen und Erfolgsfaktoren im Zusammenhang mit dem Transformationsprozess und der praktizierten Selbstorganisation genannt. Die meistgenannten Begriffe und Aussagen wurden anschliessend in eine quantitative Umfrage integriert, welche mit dem von der Fachhochschule zur Verfügung gestellten Tool «Unipark» erstellt wurde. Die Befragung sollte anschliessend eine breitere Teil­nehmerschaft mit Expertise im Bereich Selbstorganisation erreichen. 

Es wurden rund 29 Unternehmen an­geschrieben und um die Teilnahme an der Umfrage gebeten. Mit diesem Vor­gehen beabsichtigte die Forschungsgruppe, die in den qualitativen Interviews genannten Begriffe zu validieren. Aus den beiden durchgeführten Studien konnte das Team anschliessend Hand­lungsemp­fehlungen für Interessierte des Themas Selbstorganisation ableiten und zur Verfügung stellen.

Wie aus der Abbildung 1 ersichtlich ist, sind 8 der 14 Unternehmungen holo­kratisch organisiert. Ein Teil davon hat die Verfassung ratifiziert, 2 arbeiten ohne Verfassung. Die übrigen Unternehmen verteilen sich auf andere Modelle.

Die Abbildung 2 zeigt auf, dass die Befragten den Einbezug der Mitarbeitenden in den Transformationsprozess als wich­tigsten Faktor in der Transformation zur Selbstorganisation empfinden. Dies sorgt für Commitment bei den Mitarbeitenden und entsprechend wird dies durch eine breitere Menge mitgetragen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist ein strukturierter und durchgehender Schulungsprozess von Schlüsselpersonen, welche die Transformation als führende Persönlichkeiten mitprägen und die Kollegen im Change-Prozess unterstützen.

Stolpersteine in der Umsetzung

Nachfolgend werden einige Stolpersteine aufgeführt, welche den Transforma­tionsprozess behindern oder verunmöglichen.

  • Fehlendes Verständnis für neue Or­ganisationsform: Den höchsten Wert von 4.1 (siehe Abbildung 3) erreicht das fehlende Verständnis für die neue Organisationsform und ist somit der grösste Stolperstein. Dies zeigt auf, dass es in der Tat wichtig ist, dass die Mitarbeitenden tiefgründige Schulungen erhalten, wie dies bereits bei den Erfolgsfaktoren beschrieben wurde.
  • Verdeckte Hierarchie: Eine verdeckte Hierarchie neben der Selbstorgani­sation bremst den Transformationsprozess ebenfalls aus und kann diesen sogar verunmöglichen. Entsprechend soll die bestehende Hierarchie abgeschafft werden und die Prozesse auf die neue Organisationsform abgestimmt werden.

Erfolgsfaktoren 

In den nächsten zwei Abschnitten geht es um die Erfolgsfaktoren und Stolpersteine in der umgesetzten und entsprechend praktizierten Selbstorganisation.

  • Gemeinsamer Zweck: In der Selbst­organisation basieren viele Vorgehensweisen auf einem gemeinsamen Zweck oder Unternehmensziel. Auf Basis dieses Ziels sollen die Mitarbeitenden ­befähigt werden, die Entscheidungen selbst und im Sinne der Unternehmung und des angezielten Zwecks zu treffen. Ohne diesen wissen die Mitarbeitenden in der Selbstorganisation nicht, ob die Entscheide zielführend sind und zum Unternehmenserfolg beitragen.
  • Passende Kultur: Die Selbstorganisation braucht eine passende Kultur. So ist aus der Literaturrecherche bereits bekannt geworden, dass eine Fehlerkultur gelebt wird und die Mitarbeitenden sich somit auch trauen, Entscheide zu treffen. Die Kultur muss entsprechend auf die neuen Aspekte der Selbst­organisation adaptiert sein.

Stolpersteine in der Anwendung

Nachfolgend werden die wichtigsten Stolpersteine der praktizierten Selbst­organisation erwähnt.

  • Verantwortung übernehmen: 16 der 53 Teilnehmenden der Befragung gaben an, dass die Übernahme von Verantwortung in der Selbstorganisation die grösste Herausforderung darstellt. Somit ist es wichtig, dass die Mitar­beitenden die Bereitschaft haben, in der Organisation entsprechende Verantwortung zu übernehmen, welche im  Kontext zu ihrer Rolle steht.
  • Verantwortung abgeben: Gegenteilig ist als weiterer Faktor die Abgabe der Verantwortung die zweihäufigste Nennung. Führungskräfte der alten Or­ganisation verlieren gewisse Kompetenzen und Verantwortungsaufgaben. Diese abzugeben, ist essenziell für den Erfolg der Selbstorganisation.

Fazit 

Das Thema Selbstorganisation kann für Unternehmer im ersten Moment schwer vorstellbar sein. In der Schweizer Unternehmenslandschaft arbeitet die Mehrheit in hierarchisch organisierten Organisa­tionen. Entsprechend sind dort Verantwortungen häufig nach Funktion, Verant­wortungsbereichen und Hierarchiestufen definiert und entsprechend einfach ab­zuleiten. In Selbstorganisationen löst man dieses Konstrukt auf, verteilt die Aufgaben, Verantwortungen und Kompetenzen auf die einzelnen Rollen und Kreise. Diese orientieren sich an dem gemeinsamen «Purpose», treffen Entscheide und setzen Prioritäten anhand des gegebenen Zwecks und der gesteckten Ziele. 

Es braucht sicherlich eine Portion Mut, sich in einer solchen Selbstorganisation zurechtzufinden. Bei der Transformation muss sich jeder Unternehmer bewusst sein, welche Abteilungen gegebenenfalls selbstorganisiert funktionieren und welche entsprechend nicht funktionieren. Das Beispiel der Unternehmung Freitag aus Zürich zeigt, dass ganze Organisa­tionen mit den unterschiedlichsten Abteilungen und Aufgaben durchgehend in ­einer Selbstorganisation funktionieren können. 

In einem immer schnelllebigeren und wechselhaften Unternehmensumfeld müssen sich Unternehmen befähigen, diesen Anforderungen gerecht zu werden und Organisationen agil und zielgerichtet zu organisieren. Eine Möglichkeit, der VUCA-Welt gerecht zu werden, ist der selbst­organisierte Ansatz. Die durchgeführte Forschung zeigt aber auf, dass ­einige Dinge zu beachten sind, damit die Umsetzung zum Erfolg wird.

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