Forschung & Entwicklung

Whistleblowing (Teil 2 von 2)

Offene Ansprache von Missständen kultivieren

Prof. Dr. Christian Hauser, Schweizerisches Institut für Entrepreneurship (SIFE), Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Chur, über die Einführung von Whistleblowing-Systemen bei KMU und deren Auswirkungen auf die Unternehmenskultur.
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Herr Professor Hauser, welche Bedeutung wird dem Thema Whistleblowing in den nächsten Jahren bei KMU zukommen?

Das Thema wird aufgrund des gesetzlichen und wirtschaftlichen Umfeldes in den kommenden Jahren sicherlich wichtiger werden. Die grösseren Unternehmen werden inskünftig immer stärker darauf drängen, dass sich ihre kleinen und mittleren Zulieferer an den geltenden Standards orientieren, weil die Grossunternehmen ihrerseits daran gemessen werden, wie es in ihrer Supply Chain aussieht. Auf diese Weise wird auch das Thema Whistle­blow­ing über die Lieferkette in die Breite der Unternehmen hineingetragen. Daher gehe ich davon aus, dass das Thema Whistleblowing zunehmend auch bei KMU an Bedeutung gewinnt. Denn es ist ein Instrument, um aufzudecken, wenn es bei Zulieferern zu Missständen kommt. Deshalb wird es voraussichtlich so sein, dass die grösseren Unternehmen ihre Zulieferer immer stärker dazu drängen werden, solche Systeme zu implementieren.

Was kann passieren, wenn ein KMU sich weigert, ein Whistleblow­ing-System einzuführen?

Es ist durchaus vorstellbar, dass potenzielle Firmenkunden mit einem Zulieferer in einem solchen Fall keinen Vertrag abschliessen, weil in den vertraglichen Bestimmungen stehen wird, dass ein Meldesystem vorhanden sein muss. In zahlreichen Verträgen finden sich heute zum Beispiel bereits Antikorruptionsbestimmungen, das heisst, dass sich der Zulieferer zur aktiven Korruptionsprävention bekennen und effektive Massnahmen ergreifen muss, um Korruption zu verhindern. Derartige Klauseln müssen Zulieferer heute bereits vielfach unterschreiben, wenn sie einen Vertrag mit einem Firmenkunden abschliessen, und bereits bestehende Zulieferer müssen sich nachträglich dazu verpflichten.

Was gilt es bei der Einführung eines Whistleblowing-Systems besonders zu beachten?

Zum einen muss das System zum Unternehmen und seiner Kultur passen. Einfach gesagt, sind die Mitarbeitenden eher in der Lage und bereit, einen Missstand über einen klassischen Briefkasten oder eine mobile App zu melden. Zum anderen muss man bezogen auf die Unternehmenskultur darauf achten, dass man die Mitarbeitenden mitnimmt und ihnen eindeu­tig klarmacht, dass die Einführung eines Whistleblowing-Systems kein Misstrauensvotum gegen sie ist. Sondern eingeführt wird, weil es zum Beispiel internationalen Best Practice Standards entspricht. Ganz zentral ist hier das mittlere Kader. Diesem muss man deutlich sagen: «Es geht nicht darum, euch stärker zu kontrol­lieren, sondern unsere offene Unternehmenskultur zu stärken, um ein Element zu erweitern und zu strukturieren.» Ausserdem ist entscheidend, dass die Unternehmensleitung klar hinter der Einführung steht, so dass die Mitarbeitenden das Gefühl bekommen, dass die offene Ansprache von Missständen etwas ist, das das Unternehmen wirklich möchte. Daher muss man zweideutige Aussagen auf jeden Fall vermeiden. Etwa nach dem Motto: «Wir führen das System jetzt ein, aber eigentlich wurde es uns von aussen aufgedrängt und wir sehen auch keinen Sinn darin.» Vielmehr muss man darauf achten, über alle Hierarchiestufen hinweg positiv in das Unternehmen hinein zu kommunizieren, warum das System wichtig und notwendig ist.

Welche Risiken bestehen bei der Implementierung eines solchen Systems für das Unternehmen?

Die Unternehmensführung muss unbedingt verhindern, dass bei den Mitarbeitenden Zweifel aufkommen, was mit den Meldungen passiert. Ein wichtiger Punkt ist daher, wie das Unternehmen mit den Meldungen umgeht. Nur wenn diese professionell und systematisch verarbeitet werden, kann ein Whistleblowing-System positive Wirkungen entfalten. Wenn die Verantwortlichen jedoch ein System einführen und die eingehenden Meldungen einfach liegen lassen, wird der Schuss nach hinten losgehen, weil sie dann ne-gative Reaktionen und Frustration erzeugen. Nach der zukünftigen Gesetzeslage werden Whistleblower in diesem Fall auch die Möglich­keit haben, die Missstände an eine exter­ne Stelle zu melden, was natürlich zu Re­putationsschäden und so weiter führen kann. Daher ist es wichtig, dass die Unternehmen das Management der Meldungen gut im Griff haben. Ausserdem müssen sie den Mitarbeitenden die Angst davor nehmen, dass ihnen durch das Whistleblowing-System irgendetwas unterstellt werden kann; dass anonyme Vorwürfe erhoben werden können, gegen die sie sich dann nur schwer oder gar nicht wehren können. Wenn die Grundeinstellung gegenüber dem Thema «offene Ansprache von Missständen» positiv ist und die Prozesse gut gemanagt werden, überwiegen die Chancen deutlich die Risiken.

Könnte eine Auflistung oder genaue Eingrenzung der Missstände, welche gemeldet werden sollen, die Effizienz des Whistleblowing-Systems erhöhen?

Dass das Essen in der Kantine nicht schmeckt oder ähnliche Themen, sollten natürlich nicht als Missstände an ein Whistleblowing-System gemeldet werden. Um das zu verhindern, kann man eine Positivliste erstellen, in der die Themen aufgelistet sind, zu denen Meldungen gemacht werden sollen. Die Problematik einer Positivliste ist, dass neue Delikte, Methoden und Tatmuster auftauchen können, die in einer derartigen Positivlis­te zunächst nicht erfasst sind. Um auch neue Tatmuster identifizieren zu können, muss man wohl mit einer gewissen Unschärfe bei den Meldungen leben. Das Management kann auch mit einer Ne­gativliste arbeiten, also Themen explizit ausschlies­sen, zu denen nicht gemeldet werden soll. Beispielsweise kann festgelegt werden, dass HR-Themen nicht über das interne Whistleblowing-System gemeldet werden sollen, sondern direkt an die Personalabteilung.

Wie schätzen Sie die Notwendigkeit und Wirksamkeit eines Whistleblowing-Reglements ein, das den genauen Zweck, Verlauf und das Verfahren des Systems definiert?

Wichtig ist, dass ein Reglement verständlich ist. Es hilft nichts, Reglemente und Weisungen zu erlassen, die dann keiner liest, oder wenn sie gelesen werden, die wenigsten sie verstehen, weil sie in Juristen-Deutsch gehalten sind oder in einer Fremdsprache. Wenn das Reglement auf Englisch verfasst ist, aber die Mitarbeitenden zum Beispiel in Tschechien, in China oder in Brasilien sprechen kaum Englisch, dann führt das nicht unbedingt dazu, dass die Mitarbeitenden den Sinn des Systems verstehen und Missstände melden werden. Viel erfolgsversprechender ist, eine Kultur der Offenheit zu schaffen mit klaren, einfachen Botschaften; einem Tone from the Top, in dem die Unternehmensleitung Offenheit pflegt und Vorbild gibt. In Unternehmen funktioniert sehr viel über Vorbilder. Das für den normalen Mitarbeitenden relevante Vorbild ist dabei jedoch meistens nicht die Unternehmensleitung, sondern der direkte Vorgesetzte also das mittlere Kader. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, welche Haltung die Manager in der mittleren Führungsebene an den Tag legen. Studien zeigen, dass wirtschaftskriminelle Handlungen oft von Personen im mittleren bis oberen Management begangen werden. Wenn ein Unternehmen eine Kultur hat, in der die Mitarbeitenden das Gefühl haben, das Führungspersonal nehme es selbst nicht so genau und man bekommt nur immer einen auf den Deckel, wenn man einen Missstand anspricht, dann werden sie keinen Erfolg haben. Die Leute werden sich maximal anonym melden oder sich direkt an eine externe Stelle wenden. Dann ist es häufig schon zu spät, weil sie das Thema nicht mehr einfangen können. Wenn aber eine Kultur herrscht, in der Fehlentwicklungen frühzeitig angesprochen werden, wird dies vermieden. Ein Whistleblowing-System muss also ganz klare Regeln und Prozesse haben, es darf aber auch nicht ausschliesslich re­gelbasiert sein, son­-dern es muss eben­falls werte- und kulturbasiert sein. Denn erst wenn es der Unternehmungsleitung gelingt im Un­ter­nehmen eine Kultur zu schaffen, in der Schwierigkeiten und Problemen offenen angesprochen und kommuniziert werden, wird sie zu guten Ergebnissen kommen.

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