Forschung & Entwicklung

Krisenmanagement

Mit altersspezifischen Massnahmen aus dem Corona-Teufelskreis

Jetzt im Herbst steigen die Corona-Fallzahlen wieder an. Die internationale Politik reagiert mit Verschärfungen, was bei Jungen und Mittelalterlichen den Teufelskreis aus mangelnder Akzeptanz und risikoreichem Verhalten befeuert. Besser geeignet ist ein alters- und segmentspezifischer Ansatz. Der Beitrag beschreibt die Problematik.
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Die Corona-Fallzahlen steigen in vielen Ländern an, in manchen ist die zweite Welle da. Israel, ein Musterknabe im Frühling, hat vor Kurzem den zweiten Lockdown verfügt. Das ist besorgniser­regend, zeigen doch die Zahlen zu den wirtschaftlichen Einbrüchen im Zuge der ersten Drosselungsmassnahmen im Frühjahr, dass Länder mit weniger Einschränkungen (wie die Schweiz, Schweden oder Deutschland) deutlich besser durch die Krise kommen als Länder mit hartem Lockdown (wie Spanien, Italien oder Frankreich). 


Harter und weicher Lockdown

Die Unterschiede sind relevant: Die Corona-Pandemie hat fast allen Nationen die grösste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg beschert, aber Staaten, die die Gesundheitskrise mit weicheren Dros­selungen managen, werden massiv ge­ringere Folgekosten tragen. Hundert­tausende Bürger werden nicht arbeits­los oder arm werden, unzählige Firmen am Leben bleiben, viele wirtschaftliche Strukturen überleben. Abbildung 1 zeigt exemplarisch anhand neuester Daten und Prognosen, dass die Schweiz mit einem Rückgang des Bruttoinlandprodukt (BIP) von rund acht Prozent im zweiten Quartal viel glimpflicher davongekommen ist als zum Beispiel Spanien mit einem Einbruch von mehr als 20 Prozent. 

Aber: Corona ist zurück. Die Fallzahlen klettern fast überall, die Freiheitsbeschränkungen nehmen in der Folge wieder zu. Die Gefahr besteht allerdings, dass die Regierungen mit der bisherigen Einheitspolitik den Corona-Teufelskreis weiter anfachen.


Der Corona-Teufelskreis

Warum ist das Verhältnis zwischen Infizierten und Todesfällen deutlich günstiger als im Frühling? Eine methodisch sehr hochstehende Studie für den Kanton Genf («The Lancet Infectious Diseases», Juli 2020) schätzt das Sterberisiko für Corona-Infizierte über 65 auf 5,6 Prozent, für 50- bis 64-Jährige auf 0,14 Prozent und für 20- bis 49-Jährige auf 0,0092 Prozent. 

Wir alle haben verstanden, dass die Todesgefahr für Ältere ungleich grösser ist als für Jüngere und dass bei Todesfällen von über 65-Jährigen in der Regel Multimorbidität vorliegt. 

Die Wirtschaftsprofessoren Eichenberger und Stadelmann sprechen von einer «doppelten Betroffenheitsschere» (Finanz und Wirtschaft, 30.9.2020): Junge und Mittelalterliche stehen im Arbeitsprozess und sind von den staatlichen Einschränkungen massiv, teils existenziell betroffen. Gleichzeitig wissen sie um ihr verhältnismässig geringes Gesundheitsrisiko. Mangelnde Regeleinhaltung und unvorsichtiges Verhalten sind die Folgen. Die kürzlich publizierten Bilder von unbekümmert feiernden Gästen eines Partyschiffes auf dem Bodensee mögen als treffendes Beispiel gelten. Dagegen sind Ältere gesundheitlich deutlich mehr betroffen, haben als Renter aber viel weniger wirtschaftliche Risiken als die Jungen. In den beiden Segmenten der arbeitenden Bevölkerung ist ein Teufelskreis am Werk, der wohl international in vielen Ländern wirkt: Weil die Fallzahlen – ein zentraler KPI (Key Performance In­dicator) der staatlichen Corona-Politik – steigen, zurren die Behörden das Kor­sett der Schutzmassnahmen enger. Dies verstärkt das wirtschaftliche Risiko der Arbeitnehmer, ihre aktuellen und künftigen wirtschaftlichen Probleme nehmen zu. Die Zukunftsängste steigen und das Verständnis für die Drosselungen schwindet dahin.

Mit der fehlenden Akzeptanz der staatlichen Politik wächst die Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien. Das alles führt dazu, dass immer mehr Bürger, die sich im Frühling noch verständnisvoll und solidarisch hinter die Einschränkungen gestellt haben, nun nicht mehr bereit sind, den amtlichen Vorgaben zu folgen. Die Fallzahlen schiessen weiter in die Höhe, was die Regierungen dazu motiviert, die scheinbar Unvernünftigen mit härteren Massnahmen zur Vernunft zu bringen. Die Medizin wirkt zu wenig, also wird die Dosis erhöht. Abbildung 2 zeigt den Corona-Teufelskreis für Bürger im Arbeitsprozess auf. Schrauben sich die Fallzahlen weiter in die Höhe, drohen härtere Einschnitte (mit den bekannten wirtschaftlichen Folgeschäden). Kaum bestreitbar ist: Kommt es zum Äussersten und damit zu einem zweiten Lockdown, weil die Fallzahlen im Zuge des Teufelskreises entgleisen (siehe Abbildung 3), hat die staatliche Politik offensichtlich ihre Glaubwürdigkeit verspielt.

Altersspezifische Massnahmen

Gerechtigkeit bedeutet bekanntlich, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Nach Eichenberger und Stadelmann ist die bisherige Corona-Einheitspolitik am Ende. Alle über den gleichen Leisten zu schlagen, mache immer weniger Sinn. Sie schlagen segmentspezifische Massnahmen vor: Während die Einschränkungen für die Gruppe der 20- bis 64-Jährigen im Arbeitsprozess substanziell gelockert werden können, sind sie für über 65-Jährige aufrechtzuerhalten. Allenfalls ist zu prüfen, die Massnahmen für spezifische ältere Risikogruppen punktgenau zu verschärfen. Gerade die bisherige geografische Differenzierung je nach Gefährdungslage in einzelnen Kantonen oder städtischen Hotspots zeigt auf, dass die Menschen nachvollziehbare risikoadjustierte Massnahmen meist problemlos akzeptieren. Schliesslich sind auch die Immunen differenziert zu behandeln. Viele Studien zeigen eine hohe Dunkelziffer. In Genf hatten schon Anfang Juni geschätzte 11 Prozent der Bevölkerung Antikörper, was auf Immunität hinweist und nach heutigem Wissen weitgehend vor schwerer Wiedererkrankung in den folgenden Monaten schützt. Immune können von vielen Einschränkungen ausgenommen werden. Ausserdem kann ihr Potenzial noch gezielter genutzt werden (zum Beispiel für freiwillige Einsätze in Pflegeheimen).


Fazit

Die aktuelle Corona-Einheitspolitik ist ein Prokrustesbett: Alle werden auf das gleiche Mass gezerrt oder zurechtgestutzt. Mangels Akzeptanz der arbeitenden Bevölkerung droht die Entgleisung des Gleichheitsansatzes in einen sich verstärkenden Teufelskreis aus unvorsichtigem Verhalten, weiter steigenden Fallzahlen und schärferen Einschränkungen. Eine alters- und segmentspezifische Differenzierung, eingebettet in eine informativere, evidenzbasiertere Kommunikation hinsichtlich altersbezogener Ri­siken, ist die bessere Medizin.

Der Artikel gibt die persönliche Meinung der Autoren wieder.

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