Forschung & Entwicklung

Industrie 4.0 (Teil 1 von 2)

Leadership und HR-Politik im digitalen Wandel

Dieser Artikel beleuchtet am Beispiel des Zukunftsprojektes Industrie 4.0 und der «cyber­physischer Systeme», was die Besonderheiten des digitalen Wandels sind und welche Herausforderungen mit Blick auf die Belegschaften bestehen. Trends, Dilemmata und Empfehlungen für eine alternative Ausrichtung der Personalführung werden dargestellt.
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Kaum ein Thema erfährt im Moment so gros­­se Aufmerksamkeit wie die Digitalisierung und in etwas konkreterer Darstellung zum Beispiel «Industrie 4.0». Die Schwerpunkte der Diskussion weisen nicht nur eine deutliche technische Schlagseite auf. Bezogen auf Anwenderunternehmen werden vor allem die Vorzüge von Industrie 4.0 und die einer digitalen Arbeitswelt dargestellt. Mehr Effizienz, Effektivität, Entfaltungsmöglichkeiten für Beschäftigte sowie Wettbewerbsfähigkeit stehen im Raum. Unscharf sind dennoch die konkreten Ziele, die Unternehmen mit zum Beispiel einer Industrie-4.0-Strategie verfolgen sollten. Eine fehlende Zielorientierung und ein eher noch geringer Umsetzungsstand sollten Zweifel an der Aussagekraft der zahlreichen bestehenden konkreten Gestaltungsempfehlungen für das Management von Unternehmen und ihre Personalführung aufkommen lassen.

HR-Politik erneuern

Insbesondere die auf die Menschen und ihre Zusammenarbeit bezogene Diskussion ist wenig tief greifend und erfolgt tendenziell emotional. Während die einen in ihren Vorstellungen einer digitalisierten Arbeitswelt «schwelgen», zeichnen andere Szenarien einer menschenentleerten Arbeitswelt auf. Dabei sind Konzepte der «Voll- und Superautomatisierung» nichts Neues, genauso wenig wie ihr Scheitern (dazu Fuchs-Kittowski 2016).

Die für eine Umsetzung von Digitalisierungs- beziehungsweise Industrie-4.0-Strategien benötigten relevanten Kompetenzen werden durch den Technologieeinsatz selbst nicht unbedingt gefördert. Neben erwarteten Wirkungen bestehen zahlreiche Nebenwirkungen, die es zu antizipieren gilt. Entsprechend sind Strategien mit Blick auf soziale und humane Kapitalien bereits heute so zu konzipieren und umzusetzen, dass Chancen im Hinblick auf den Aufbau eines schwer imitierbaren Wettbewerbsvorteils im Unternehmen nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.

Darüber hinaus muss das Verständnis dessen, was eigentlich die Belegschaft ist, erneuert werden und es gilt die Strategien der Personalführung entsprechend zu erweitern. Es lohnt ein etwas nüchternerer Blick auf die mit Digitalisierung beziehungsweise Industrie 4.0 verbundenen Anforderungen an Menschen und ihre Zusammenarbeit. Betrachtet man zunächst exemplarisch für Digitalisierung die Implementierung von Industrie-4.0-Technologien, sind dies typische Phasen der Einführung (siehe Abb.):

  1.  Zunächst das generelle Funktionieren der Technik sowie ihrer Anwendung durch den Menschen,
  2.  die Integration in ein «soziales System»,
  3.  die Realisierung eines weiteren organisatorischen oder technischen Niveaus (sog. «Asymptotenwechsel»).

Dabei sind die Übergänge jeweils sehr kritisch: Was technisch machbar ist, muss sich von Schritt eins zu Schritt zwei im sozialen System bewähren. Machbares und Zeitbedarf für eine funktionierende Anwendung werden dabei oft unterschätzt. Die Wirkung von Massnahmen des Empowerments zeigte z. B. nach ein bis vier Jahren sichtbaren Erfolg, teilautonome Gruppenarbeit brauchte sechs bis neun Jahre dazu (Birdi 2008). Namhafte Unternehmen haben bei der Einführung von Gruppenarbeit eine Kehrtwende eingeleitet, da ihnen die Konzepte nicht früh genug den von ihnen gewünschten Erfolg bescherten.

Die Stärken und Schwächen im Zuge der Technikimplementierung wirken sich insbesondere in langfristiger Perspektive aus. Was sich in dem sozialen System ereignet hat, ist nicht nur bestimmend für die aktuelle Produktivität, sondern ist darüber hinausgehend die Basis für die Realisierbarkeit künftiger Technologiesprünge. Man tut gut daran, eine langfristige, vorausschauende Perspektive einzunehmen und eine Analyse des «Doing Business» vorzunehmen, inwiefern es tatsächlich langfristige Humankapitalinvestitionen unterstützt. Wer sich heute stark für das Erreichen kurzfristiger Leistungsziele und für harte Produktivität entscheidet und Zeiten für Erneuerung weglässt, wird morgen wenig Innovationspo­tenzial beziehungsweise Humankapital in den eigenen Reihen verfügbar haben.

Wachsender Vernetzungsgrad

Durch die weiter zunehmende Übertragung immer anspruchsvollerer Tätigkeiten an die Technik sind zentrale Entwicklungen, die sich im Rahmen der Umsetzung von Industrie 4.0 fortsetzen, «Job Enrichment» und «Job Enlargement»:

  • Planungs- sowie Steuerungsfunktion werden nach unten abgegeben (soweit nicht automatisiert),
  • Troubleshooting wird bedeutsamer; früher getrennte Aufgaben und Kompetenzen müssen kombiniert werden.

Beides ist bereits charakteristisch für Entwicklungsziele der letzten 20 Jahre. Das konkret «Neue» mit Blick auf humane und soziale Ressourcen sind insbesondere der «Vernetzungsgrad» und das weiterhin steigende Ausmass an horizontaler und vertikaler Integration. Sie führen unter anderem dazu, dass sich die Belegschaft anders zusammensetzt und eine «multiple Workforce» entsteht, die aus Menschen mit verschiedenen Vertragsarten, Organisationszugehörigkeiten, Standorten und so weiter besteht, was im Rahmen der Ausrichtung der Personalführung und alltäglicher Zusammenarbeit zu berücksichtigen ist. Weiterhin ist der Automatisierungsgrad fortgeschritten und es bestehen andere Methoden /Möglichkeiten digitaler Art in der technologischen Assistenz des Einzelnen und von Teams sowie in der Art und Weise, wie kooperiert wird. Handlungskompetenz in diesen intelligenten, vernetzten Situationen erfordert,

  • dass der Einzelne seine fachliche Kompetenz zügig erneuern kann. Um dies leisten zu können, werden immer mehr Informations- und Wissensangebote zum Beispiel durch moderne Technologien bereitgestellt. Das gelieferte Wissen gilt es in seiner Qualität schnell adäquat zu bewerten und in Zusammenhang zu bestehendem Wissen und Können zu setzen. Neben profundem fachlichem Know-how erfordert dies in hohem Mass:
  • Metakompetenzen, um «aktiver Träger von Entscheidungen und Optimierungsprozessen» in Ausnahmesituationen oder bei Sonderfällen sein zu können;
  • Programmierkenntnisse: Man geht von einer Anreicherung sämtlicher Funktionen um IT-Kompetenzen aus. Auch ist es notwendig, die Mechanismen der Programmierung zu verstehen, um die Leistungsfähigkeit der Technik und ihre Grenzen bewerten und Fehlsteuerungen antizipieren zu können;
  • hohe soziale Kompetenzen und Schnittstellenkompetenzen in den unterschiedlichsten Settings: Intelligente Systeme und der erwähnte steigende Vernetzungsgrad erfordern, unterschiedliche Ansprüche und Anforderungen auszutarieren.
     

Bestehende Empfehlungen

Es gibt zahlreiche Empfehlungen dazu, wie ideale Mitarbeitende in einer Arbeitswelt 4.0 aussehen und funktionieren sollten: «Digital Natives» agieren weitgehend selbstständig und erhalten möglichst unmittelbar bedarfsgerechte technische Unterstützung, falls notwendig. Doch sowohl die Diskussion einer besonderen Handlungskompetenz von «Digital Na­tives» als auch von «Demokratisierungsempfehlungen» weisen neben zahlreichen nützlichen Hinweisen einige Schwächen auf. Kaum wird darauf eingegangen, dass die Nutzung moderner Technologien auch weniger sinnvolle Wirkungen ent­falten kann, zum Beispiel in Form von Myopien («Kurzsichtigkeiten»), «Ironies of Automation» und Dilemmata. Auch kann man nicht davon ausgehen, dass bestehende Gestaltungsempfehlungen von Arbeit auch in Zukunft unveränderte Gültigkeit besitzen werden.

Zunächst stehen «Digital Natives» oft im Fokus des Interesses, da man davon ausgeht, dass sie im Unterschied zu ihren Vorgängern selbstverständlich mit modernen Technologien aufgewachsen sind und sie daher in besonderer Weise über die erforderlichen Kompetenzen verfügen. Es wird argumentiert, dass sich Unternehmen mit ihnen aufgrund ihrer begrenzten Verfügbarkeit infolge veränderter demografischer Strukturen «eindecken» sollten.

Wenig differenziert wird betrachtet, ob «Digital Natives» älteren Personengruppen wirklich umfassend überlegen sind oder ob sie nicht bezogen auf einzelne der oben genannten Teilaspekte von Handlungskompetenz als «Digital Naïves» gelten können. Die den «Digital Natives» zugeschriebene Fähigkeit zum «Multitasking» könnte tatsächlich in einer «Fractured Attention» münden. Ein «Grazing» von Informationen aus dem Internet mag zwar schnell zu Ergebnissen führen, aber nicht unbedingt zu einer tief gehenden Auseinandersetzung mit einem Sachverhalt. Umgekehrt gilt langjährige Erfahrung als Grundlage gelingender Zusammenarbeit von Experten. Die Beteiligten verstehen sich «blind», indem sie die verschiedenartigen Handlungen der anderen in ihrer Abfolge einschätzen und auf ihre eigenen beziehen und die an sie gestellten Anforderungen ableiten können.

Bainbridge warf bereits 1983 die Frage nach Rückkopplungseffekten zwischen Mensch und Technik auf, die sich langfristig als kontraproduktiv erweisen können. Sie werden von Baxter (2012) in ihrem Fortbestand bestätigt. Automatisierung überlässt den Menschen zunehmend komplexere Eingriffe in unbekannten Situationen, zum Beispiel Störfällen. Dies erfordert ein regelmässiges Training, das der Ablauf selbst durch die Automatisierung nicht mehr vorsieht. Simulatoren werden als mögliche präventive Massnahme betrachtet. Allerdings muss den Mitarbeitenden ausreichend Zeit für ihre Nutzung zur Verfügung gestellt werden. Es ist fraglich, ob man Massnahmen, die dem langfristigen Kompetenzerhalt dienen und kurzfristig sogar die Produktivität des Einzelnen reduzieren können, der Freiwilligkeit überlassen darf.

Risiko Kreativitätsverlust

Weiterhin gibt es Anzeichen eines wachsenden «Cyborism» und einer zunehmenden Akzeptanz «maschinenähnlichen Verhaltens», das auch von anderen erwartet wird: Aussagen müssen beispielweise sofort verfügbar sein. Prozesse der Ideengenerierung laufen Gefahr, als «unproduktive Zeitverschwendung» zu gelten. Kollaborationssoftware wird pragmatisch genutzt, um sich gegenseitig im Hinblick auf effiziente Erledigung von Aufgaben zu kontrollieren, und eher wenig dazu, gemeinsam die Ausarbeitungen weiterzuentwickeln (dazu Turkle 2015).

In Konsequenz besteht das Risiko, dass schleichend und zunächst unbemerkt genau die Kompetenzen durch den Einsatz von Technologien verloren gehen, die es zu ihrer Nutzung braucht. Kreativität entsteht gerade aufgrund von Andersartigkeit und dem Versuch, den anderen tatsächlich zu verstehen. Eine fehlende Einbettung von Informationen in einen persönlichen Wissensvorrat und eine technische Überformung der Menschen lässt die Grundlage von Kreativität verblassen. Dies im Unterschied zu der gängigen Annahme, wonach Kreativität durch Digitalisierung gefördert wird, da Wissen schneller zusammengetragen wird. Letztlich wird gerade durch vereinseitigte Darstellungen möglicherweise genau das Umfeld geschaffen, in dem die spezifischen Stärken des Menschen gar nicht mehr umfassend abgefragt werden, obwohl sie relevant sein könnten. Nicht nur, dass damit wesentliche Kompetenzen verloren gehen, die langfristig eine besondere Wettbewerbsstärke begründen können. In diesen selbst geschaffenen Situationen könnten darüber hinaus Technologie oder Roboter tatsächlich dem Menschen überlegen sein.

In Konsequenz gilt es nicht nur die unmittelbar für die Technologienutzung relevanten Kompetenzen im Blick zu behalten, sondern gerade auch jene, die zwar bedeutsam sind, aber in ihrem Erhalt nicht selbstverständlich durch moderne Arbeitssituationen gefördert werden.

In der folgenden Ausgabe des «KMU-Magazin» wird dargestellt, inwiefern bestehende Empfehlungen in der Führungs­gestaltung und solche zur Analyse und Gestaltung von Arbeit mit Blick auf moderne Technologien, überdacht werden sollten. Auch wird dargestellt, welche alternativen Empfehlungen sich zu der Ausrichtung von intelligenten HR-Politiken im Rahmen von Digitalisierungs- und Industrie-4.0-Konzepten eignen.

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