In der Diskussion über die neue Führungskultur werden immer mehr die «Autonomie des Einzelnen» und die «Demokratisierung» genannt. Eine Entwicklung in Richtung dieser Kultur ist nötig, da – wie bereits im vorausgehenden Techniksprung – erweiterte Handlungsspielräume geschaffen werden, die es auszufüllen gilt. Auch sind hohe Freiräume grundsätzlich sehr motivierend.
Widersprüchliche Anforderungen
Je nach Organisation des Wertschöpfungsprozesses und Gestaltung der Anreizsysteme besteht die Gefahr, dass der Abbau von Hierarchie widersprüchliche Anforderungen immer weniger strukturell auffängt, und die bestehenden Konflikte auf unteren Hierarchieebenen «en passant» zu lösen sind. Je mehr sich die Anreizsysteme dann an kurzfristigem Erfolg und Wettbewerb orientieren, umso mehr bergen sie das Risiko, «Systeme permanenter Bewährung» zu schaffen. Selbstständigkeit – oft verstanden als ein «kümmere dich selbst darum» – stösst vielfach auf ein «Du stehst ja im Wettbewerb zu anderen». In solchen Arbeits- oder Auftragsverhältnissen ist der Einzelne gefordert, seine «Vertragsverlängerung» und Zugehörigkeiten durch kurzfristige individuelle Erfolge immer wieder zu erneuern (Kämpf 2015). Das «Selbst» wird unter Umständen zum «Joker»: Autonomie im Hinblick auf zu erbringende Leistung wird gewährt, aber nicht unbedingt zur Mitdefinition der zu ihrer Erstellung notwendigen Ressourcen.
Die permanente Konfrontation mit widersprüchlichen Anforderungen und die Notwendigkeit, sie ad hoc zu bewältigen, können auf die Dauer zur Auszehrung der Betroffenen führen. Dies gilt sowohl innerhalb bestehender Organisationen als auch für Mitarbeitende, die innerhalb von Netzwerkbeziehungen Leistungen erbringen. Auch ist die Entwicklung von Vertrauen – was als Erfolgsfaktor für die Umsetzung von Industrie 4.0 gilt – in permanent widersprüchlichen Situationen nahezu unmöglich.
Vor diesem Hintergrund bergen auch Einsatzmöglichkeiten neuer Technologien besondere Risiken, selbst wenn sie an sich die Übernahme von Eigenverantwortung ermöglichen sollen, wie zum Beispiel das Tracken der Leistung.
Es erfordert keine Kontrollkultur, um dysfunktionale Wirkungen zu erzeugen. Hoher Wettbewerbsdruck um Aufträge zum Erhalt der eigenen Position führt dazu, dass man sich freiwillig selbst kontrolliert. Und wenn nötig auch andere, zum Beispiel mit Kooperationssoftware. Wahlfreiheit, wie sie im Hinblick auf Kontrolle oder Selbstverantwortung bisweilen unterstellt wird, besteht angesichts bestehender Spielregeln des «Doing Business» tatsächlich oft nicht.
Bemerkenswert ist dabei, dass der Einzelne die zunehmende Einschränkung der eigenen Entscheidungsfreiheit durch Systeme vielfach nicht wahrnimmt, sondern sie unter Umständen sogar als «Selbststeigerung» erlebt. Problematisch ist aber die Verdrängung des inhaltlichen Sinns der Arbeit durch Selbstbeobachtung und -übertrumpfen. Ausserdem sind Unternehmen Inkubatoren für Praktiken, die nach und nach auch in der Gesellschaft als «normal» erlebt werden, sogenannte «shifting baselines» (Pfeiffer 2015, S. 7).