Forschung & Entwicklung

Industrie 4.0 (Teil 2 von 2)

Leadership und HR-Politik im digitalen Wandel

Der erste Teil dieser zweiteiligen Serie beleuchtete am Beispiel von «Industrie 4.0» die Besonderheiten des Wandels und welche Herausforderungen mit Blick auf die Belegschaften bestehen. Nachfolgend wird dargestellt, wie neue Technologien auf herkömmliche Spielregeln des Wirtschaftens stossen und welche Weichenstellungen für Unternehmen wichtig sind.
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In der Diskussion über die neue Führungskultur werden immer mehr die «Autonomie des Einzelnen» und die «Demokratisierung» genannt. Eine Entwicklung in Richtung dieser Kultur ist nötig, da – wie bereits im vorausgehenden Techniksprung – erweiterte Handlungsspielräume geschaffen werden, die es auszufüllen gilt. Auch sind hohe Freiräume grundsätzlich sehr motivierend.

Widersprüchliche Anforderungen

Je nach Organisation des Wertschöpfungsprozesses und Gestaltung der Anreizsysteme besteht die Gefahr, dass der Abbau von Hierarchie widersprüchliche Anforderungen immer weniger strukturell auffängt, und die bestehenden Konflikte auf unteren Hie­rarchieebenen «en passant» zu lösen sind. Je mehr sich die Anreizsysteme dann an kurzfristigem Erfolg und Wettbewerb orientieren, um­so mehr bergen sie das Risiko, «Systeme permanenter Bewährung» zu schaffen. Selbstständigkeit – oft verstanden als ein «kümmere dich selbst darum» – stösst vielfach auf ein «Du stehst ja im Wett­bewerb zu anderen». In solchen Arbeits- oder Auftragsverhältnissen ist der Einzelne gefordert, seine «Vertragsverlängerung» und Zugehörigkeiten durch kurzfristige individuelle Erfolge immer wieder zu erneuern (Kämpf 2015). Das «Selbst» wird unter Umständen zum «Joker»: Autonomie im Hinblick auf zu erbringende Leistung wird gewährt, aber nicht unbedingt zur Mitdefinition der zu ihrer Erstellung notwendigen Ressourcen.

Die permanente Konfrontation mit widersprüchlichen Anforderungen und die Notwendigkeit, sie ad hoc zu bewältigen, können auf die Dauer zur Auszehrung der Betroffenen führen. Dies gilt sowohl innerhalb bestehender Organisationen als auch für Mitarbeitende, die innerhalb von Netzwerkbeziehungen Leistungen erbringen. Auch ist die Entwicklung von Vertrauen – was als Erfolgsfaktor für die Umsetzung von Industrie 4.0 gilt – in permanent widersprüchlichen Situationen nahezu unmöglich.

Vor diesem Hintergrund bergen auch Einsatzmöglichkeiten neuer Technologien besondere Risiken, selbst wenn sie an sich die Übernahme von Eigenverantwortung ermöglichen sollen, wie zum Beispiel das Tracken der Leistung.

Es erfordert keine Kontrollkultur, um dysfunktionale Wirkungen zu erzeugen. Hoher Wettbewerbsdruck um Aufträge zum Erhalt der eigenen Position führt dazu, dass man sich freiwillig selbst kontrolliert. Und wenn nötig auch andere, zum Beispiel mit Kooperationssoftware. Wahlfreiheit, wie sie im Hinblick auf Kontrolle oder Selbstverantwortung bisweilen unterstellt wird, besteht angesichts bestehender Spielregeln des «Doing Business» tatsächlich oft nicht.

Bemerkenswert ist dabei, dass der Einzelne die zunehmende Einschränkung der eigenen Entscheidungsfreiheit durch Systeme vielfach nicht wahrnimmt, sondern sie unter Umständen sogar als «Selbststeigerung» erlebt. Problematisch ist aber die Verdrängung des inhaltlichen Sinns der Arbeit durch Selbstbeobachtung und -übertrumpfen. Ausserdem sind Unternehmen Inkubatoren für Praktiken, die nach und nach auch in der Gesellschaft als «normal» erlebt werden, sogenannte «shifting baselines» (Pfeiffer 2015, S. 7).

Bestehende Empfehlungen

Diese Art des «Doing Business» – verstanden als die Art und Weise, wie Unternehmen den Prozess der Wertschöpfung tatsächlich realisieren – ist keine neue Entwicklung, sondern ein sich seit Langem ereignender Prozess. Es geht um die bestehende Art der Bewältigung von wettbewerblichen Anforderungen, wie sie auch mit dem aus dem militärischen Bereich stammenden Begriff «VUCA» (Volatility – Uncertainty – Complexity – Ambiguity) umrissen werden.

Immer ambitioniertere Produktivitätsziele bei zeitgleicher Reduktion der verfügbaren Mittel und starker Druck, kurzfristig Erfolg haben zu müssen, schlagen sich zum Beispiel in Form der Vernach­lässigung von Investi­tionen in den Erhalt von Human- und Sozial­kapital nieder und einer Verdichtung des Arbeitsalltags. Die tatsächliche Bewältigung der Anforderungen in Anwendungssituationen weicht in der Regel erheblich von rational durchdachten Soll-Vorstellungen ab.

In Anbetracht wachsender psychischer Belastungen wird empfohlen, sich in der Analyse und Gestaltung von Arbeit an Zusammenstellungen zu orientieren, wie sie beispielhaft der Index «gute Arbeit» oder «INQA – Qualität der Arbeit» vorsehen. Geprüft werden sollte ihre inhaltliche Passung für «moderne» Arbeitssituationen. Traditionelle Gestaltungsempfehlungen wie die, mehr Autonomie zu gewähren, führen unter Umständen dazu, dass Mitarbeitende zum «Mittäter» am Raubbau ihrer eigenen Gesundheit werden. Des Weiteren sind Unterstützungsangebote nur nützlich, wenn sie nicht daran hindern, dem gerecht zu werden, was vorrangig gefordert wird, nämlich Leistung. Einige Beispiele hierzu sind:

  • Technische Unterstützung wird nur dann akzeptiert, wenn sie nicht behindert, wie z. B. der ‹Klassiker› der Arbeitshandschuhe.
  • Ein Gesundheitsseminar kann zum Beispiel eher kontraproduktiv wirken, wenn man Erlerntes in der eigenen Arbeitssituation gar nicht umsetzen kann und infolgedessen nicht nur überlastet ist, sondern auch noch als lernunfähig gilt.
  • Bezogen auf Industrie 4.0 ist äusserst fraglich, ob die zu der Erhaltung von Handlungsfähigkeit denkbaren Trainingsmöglichkeiten u.ä. genutzt würden, wenn sie nicht unmittelbar die geforderte Produktivität fördern.

Es ist zu vermuten, dass viele herkömmliche Empfehlungen oft nicht (ausreichend) nützlich sind. Entscheidungen über geeignete Massnahmen der Per­sonalführung sollten entlang der Ziele, Wirkungsbeziehungen und Wirkungen getroffen werden: Welche Investitionen in Human- und Sozialkapital, in welchem Umfang und wie kombiniert sind sowohl mit Blick auf Leistung als auch den Erhalt der Ressourcen sinnvoll? Auch gilt es, unnötige Investitionen zu vermeiden. Massnahmen, die als «sozial» dargestellt werden, sind es tatsächlich nicht immer, wenn komplexere Ursache-Wirkungsbeziehungen betrachtet werden.

Man kann in der bestehenden Konstellation nicht davon ausgehen, dass Wirtschaft, Technik, Mensch und Gesellschaft automatisch «intelligent» und «vernetzt» sein werden. An vielen Stellen wird suggeriert, dass Industrie 4.0/ die Digitalisierung einer unausweichlichen Ausrichtung folgt. Technologie ist keineswegs etwas, was wie eine Naturgewalt einfach über uns hereinbricht, sondern etwas, das gestaltbar ist.

Geht man davon aus, dass insbesondere soziales und humanes Kapital schwer kopierbare und damit langfristige Wettbewerbsvorteile bleiben, sind Digitalisierung, Industrie 4.0 und ein nachhaltiger Umgang mit humanen und sozialen Kapitalien gemeinsam zu denken. Dies setzt voraus, dass Technologie so eingesetzt wird, dass sie die Nutzung der besonderen Stärken von Menschen unterstützt.

Stehen angesichts unserer Art des «Doing Business» Menschen und Beziehungen unter Druck und werden langfristig orientierte Investitionen in das Humankapital vernachlässigt, so lässt sich langfristig kaum ein auf ihnen basierender Wettbewerbsvorteil aufbauen.

Ansätze für Alternativen

Vorsichtige Ansatzpunkte für eine Personalpolitik sowie für die Ausrichtung von HR-Strategien, die auch in Bezug auf den Menschen und Beziehungen intelligent sind, sind nachfolgend dargestellt:

  1. Wie zu Beginn erwähnt gilt es, die Zielsetzungen des Technologieeinsatzes abgestimmt auf andere Elemente einer Gesamtstrategie zu präzisieren. Dabei ist vermutlich weniger von «dem grossen Wurf» auszugehen, sondern von vielen mosaikartigen und iterativen Umsetzungen im Sinne einer «Industrie 4.0».
     
  2. Sinnvoll ist, Geschäftsstrategie, Technik und Mensch gemeinsam zu denken: Dominant ist die Denkrichtung, wonach sich primär der Mensch an einen definierten Technologieeinsatz anzupassen hat. Dreht man dies um und stellt die Fragen danach, welche individuellen und auf Zusammenarbeit bezogenen Kompetenzen in der Lage sind, einen nachhaltigen Wett­bewerbsvorteil zu bilden und wie die Technik den Menschen unter lang­fristiger Perspektive bestmöglich unterstützt, so bleibt Raum für alternative Konzepte und Stärken. Technologien können beispielsweise erfahrene Ältere in körperlicher Arbeit unterstützen. So bleibt Expertise nutzbar, die bei Jüngeren noch gar nicht verfügbar sein kann. Agieren und realisieren in einer realen Welt bleibt immer noch etwas anderes als in einer virtuellen. Dies sollte bei der Zusammenarbeit mitberücksichtigt werden. Eine Betrachtung, die die Stärken der verschiedenen Menschen an den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen stellt und einen Austausch auf Augenhöhe ermöglicht, wird andere Effekte und Nutzen erkennbar werden lassen als eine technikdominierte, «digitale Einbahnstrasse». Neben Chancen (vgl. Remdisch 2016) durch den Einsatz digitaler Technologien sind Risiken in Form von «unerwünschten Nebenwirkungen» zu berücksichtigen, wie sie beispielhaft in der Tabelle dargestellt sind.
     
  3. Eine Neudefinition dessen ist erforderlich, wer die «Belegschaft» ist und wie diese von HRM-Strategien in welcher Weise erfasst wird. Zu sehr sind viele Unternehmen noch dem Bild verhaftet, Humankapital-Strategien für die Mitarbeitenden der eigenen Organisation zu entwickeln. Längst ist eine «multiple Workforce» Realität und sind Fragen zur Entwicklung humaner und sozialer Kapitalien in neuer Form und im Netzwerk zu klären.
     
  4. Die Vielfalt verschiedenster Arbeitssituationen lässt kaum mehr pauschale Empfehlungen zu. Eine Leistungs- sowie Human- und Sozialkapital bezogene Steuerung ist zu bevorzugen. Im Vergleich zu einer inputorientierten Definition von Massnahmen der Personalführung entlang von Benchmarks ermöglicht ein am Human- und Sozialkapital orientiertes Controlling die Identifikation dessen, was tatsächlich geeignete Investitionen sind und was gegebenenfalls auch zu lassen ist. Es gilt, die auf das Human- und Sozialkapital bezogenen Wirkungen und Wirkungszusammenhänge des aktuellen Handelns im Blick zu behalten und im Hinblick auf ihre Entwicklung zu antizipieren.

Fragmentiertes Wissen wird zusammengeführt und das Erkennen von Zusammenhängen und Mustern fördert eine «shared awareness» für bestehende Herausforde­rungen im Unternehmen, auch wenn unter Umständen nur auf unscharfe Daten zurückgegriffen werden kann. Die Zusammenstellung von in sich und zur Strategie konsistenten Systemen der Personalführung – des Leadership und Personalmanagements – wird unterstützt. Des Weiteren braucht es eine Übernahme gemeinsamer Verantwortung für Leistungs- sowie Human- und Sozialkapital-bezogene Ergebnisse.

Abschliessend sollte man die Art und Weise des «Doing Business» und das «Mindset im Management» in den Blick nehmen und prüfen, wie gut sie die Konzeption und Realisierung ausgewogener Strategien im Dreiklang «Strategie-Technik-Soziales» zulassen. Dabei geht es auch um die Frage, welche Manager/Führungskräfte es auf Ebene Top- und Middle-Management braucht. Die zunehmend ins Management vordringenden IT-Spezialisten haben zunächst nur selten die Rolle des «Bedenkenträgers» inne. Zu fragen ist insbesondere,

  • ob sie ausreichend über spezifisches Produktions- und Prozesswissen verfügen,
  • ob sie die Besten sind, um Weichenstellungen zu definieren, wie man Human- und Sozialkapital am intelligentesten entwickelt und zusammenbringt und
  • wie sehr sie es gewöhnt sind, andere – jenseits der IT – mitgestalten zu lassen.  

Nach wie vor sind es viele IT-Experten eher gewohnt, dass sie mit ihren Prozessen die Arbeitsweisen für andere weitgehend vorschreiben können und weniger, mit anderen interdisziplinär zusammen- zuarbeiten (Baxter 2012). Prozesse und auch Instrumente werden so bereits jetzt in hohem Masse von IT-Spezialisten definiert, während anderes Expertenwissen bisweilen auf der Strecke bleibt.

Auch ist zu gewährleisten, dass die Verarbeitung von Daten ausreichend offengelegt wird, damit andere die darauf basierenden Aussagen in ihrer Qualität und Reichweite beurteilen können. Dies ist neben Kompetenzen des Einzelnen eine notwendige Voraussetzung für die Akzeptanz und den verantwortlichen Umgang mit Aussagen, die von Maschinen/ Technik bereitgestellt werden («Big Data Kompetenz»).

Kooperation und Fairness

Es geht bei Digitalisierung und Industrie 4.0 um Vernetzung und Kooperation und einen gemeinsamen Effort, damit sich die mit Industrie 4.0 verbundenen Hoffnungen langfristig erfüllen werden. Hierfür muss sich die Art des «Doing Business» ändern. Zunehmend finden sich Belege dafür, dass kurzfristiges Denken tatsächlich Investitionen in das Humankapital verhindert, aber vom Finanzmarkt belohnt wird, obwohl es nicht die optimale langfristige Lösung darstellt.

Die Veränderung des «Doing Business» ist Aufgabe der Unternehmensführung. Das Human Resource Management könnte ein wichtiger Mitstreiter einer solchen Organi­sationsentwicklung sein. Voraussetzung dafür ist, dass Legitimation, Bereitschaften und Digitalisierungs-Kom­petenzen auf Seiten des HR bestehen, berechtigtes, nicht immer als «flashy» geltendes Wissen einzubringen. Des Weiteren geht es im Zuge von Industrie 4.0 und Digitalisierung auch um unternehmensübergreifende Vernetzung und Kooperation. Eine unternehmensübergreifende Zusammenarbeit setzt voraus, dass Investitionsrisiken und Ertragschancen auf die verschiedenen Beteiligten fair verteilt werden. Zu gewährleisten ist sowohl in der unternehmensübergreifenden als auch der internen Zusammenarbeit, dass diejenigen, die die (ausführende) Hauptarbeit und den tatsächlichen Beitrag zur Wertschöpfung leisten oder unbeliebte Nebenaufgaben übernehmen, gerecht an der entstehenden Rente  beteiligt sind. So lässt sich Vertrauen nur erhalten, wenn der geleistete Einsatz in seinem Verhältnis zum Ertrag als «fair» erlebt wird.

Porträt