Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Lasst es weihnachten – das ganze Jahr

An Weihnachten passiert das, woran Organisationen im ­digitalen Zeitalter oft scheitern: Nähe zu erzeugen, über Raum und Zeit hinweg.
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Weihnachten ist ein sinnliches Fest. Nicht nur wegen Kerzenlicht, Musik und dem Duft von Zimt und Tannen. Weihnachten berührt uns, weil es uns das Gefühl vermittelt, Teil von etwas Grösserem zu sein. Wir haben einerseits das Bedürfnis nach Nähe, Zugehörigkeit sowie Bedeutung und haben deshalb die Sehnsucht, uns um unsere Liebsten zu scharen. Andererseits entsteht das Gefühl von Nähe, Zugehörigkeit und Bedeutung aber gerade durch die Tatsache, dass sehr viele zur gleichen Zeit an vielen Orten etwas sehr Ähnliches tun, aus dem gleichen Grund. So entsteht ein Ritual, das bei uns zu Hause gelebt wird, aber letztlich keinen festen Ort hat. Damit sind wir Teil von etwas Grösserem, das wir in seinen Ausmassen nur erahnen können; und gerade dadurch entsteht für uns die erwähnte Nähe, Zugehörigkeit und Bedeutung.

Die Symbolkraft von Weihnachten

Ich möchte gegenüber Weihnachten nicht respektlos sein, wenn ich dieses beschriebene Phänomen nun auf den Arbeits­kontext übertrage, und argumentiere: An Weihnachten passiert das, woran Organisationen im digitalen Zeitalter oft scheitern: Nähe zu erzeugen, obwohl man nicht im selben Raum ist; Zugehörigkeit zu ermöglichen, obwohl man sich nicht sieht; Sinn zu vermitteln, obwohl man nicht alles überblicken kann. Denn es ist das kollektive Ritual, das Menschen, die sich kaum oder nie begegnen, verbindet. Diese Symbolkraft ist es, die Zugehörigkeit und Bedeutung stiftet – mehr noch als der physische Ort, den wir für das Weihnachtsfest zu Hause herrichten. 

Meine Kollegin Helena Pleinert nutzt für diese Art von Erfahrung den Begriff «metalokal». Ein metalokaler Raum ist ein Ort der Verbindung, der nicht geografisch definiert ist – sondern symbolisch, emotional und kulturell. In einer zunehmend hybriden Arbeitswelt gewinnen solche metalokalen Räume an Bedeutung. Teams arbeiten über Arbeitsorte verteilt, Kommunikation ist asynchron via Chat, das Büro ist mal Treffpunkt, mal leer. Die Bedeutung der klassischen Nähe am Arbeitsplatz – Flurgespräch, Kaffeepause, Schulterblick – nimmt ab. Und mit ihr verschwindet tatsächlich oft auch das Gefühl von Zugehörigkeit.

Das Gefühl von Zugehörigkeit über Raum und Zeit hinweg

Meistens geben wir dann der Technologie die Schuld. Aber das greift zu kurz. Der Fehler liegt vielmehr in der Vorstellung, dass Nähe und Zugehörigkeit nur dort entstehen kann, wo Menschen physisch zusammentreffen. Doch genau das Gegenteil zeigt uns das Weihnachtsfest: Es ist gerade deshalb so bedeutsam, weil es über Räume und Zeiten hinweg wirkt – durch Symbole, Rituale, Musik, Geschichten etc. Und weil es in Millionen Köpfen dieselbe emotionale Architektur auslöst, selbst wenn Menschen geografisch weit voneinander entfernt sind.

Und genau die Erarbeitung einer solchen emotionalen Architektur ist auch in hybriden Arbeitskontexten wichtig. Denn in diesen Arbeitskontexten geht es darum, Verbindung und Bedeutung herzustellen, zwischen Menschen, die zwar zusammenarbeiten, aber selten oder vielleicht sogar nie physisch im selben Raum sitzen. Und dies bedeutet wiederum, dass wir ein Verständnis davon entwickeln müssen, wie das geht.  

Rituale und Symbolik verbinden

Das ist gar nicht so schwierig, wie es vielleicht tönen mag. Denn wir haben über Jahrhunderte gut gelernt, Nähe, Zugehörigkeit und Bedeutung in Situationen herzustellen, in denen wir uns nicht physisch sehen. Nochmals die Religion: In der katholischen Liturgie wird die Eucharistie täglich rund um den Globus gefeiert. Die Gläubigen erleben sich als Teil einer Handlung, egal ob in einem Dorf in Afrika, einer Kathedrale in Rom oder einem Altenheim in der Schweiz. Im Islam beten Millionen Gläubige weltweit zur selben Zeit in Richtung Mekka – unabhängig davon, wo sie sich befinden. In der jüdischen Tradition versetzt das Pessachfest die Gläubigen symbolisch zurück in die Zeit des Auszugs aus Ägypten. Allen Beispielen gemeinsam ist, dass es nicht der Ort ist, der die Menschen verbindet. Es ist das Ritual, das Narrativ, die Wiederholung – die symbolische Struktur. Zeit und Raum werden dabei zu Trägern von Sinn, die über physische Präsenz hinausreichen.

Auch das Theater kennt diese Form eines metalokalen Raums. Wenn Shakespeares Chor im Prolog von König Heinrich der Fünfte das Publikum bittet, den engen Raum der Theaterbühne mit eigenen ­Gedanken zu füllen, entsteht ein kollektiver Akt der Imagination. Oder in Beethovens Fünfter Symphonie ist das berühmte viernotige Motiv («ta-ta-ta-taaa») so markant gesetzt, dass es auch dann hörbar bleibt, wenn es nicht mehr gespielt wird. Es hallt nach. Es ist da, obwohl es nicht da ist. 

Physische Zwänge überwinden

Was bedeutet das nun aber für unsere moderne Arbeitswelt? Es bedeutet erst einmal nicht, hybride oder virtuelle Orte so zu gestalten, dass sie wie physische wirken. Es bedeutet auch nicht, alle wieder zu zwingen, immer vor Ort physisch präsent zu sein; das ist in den meisten Arbeitskontexten sowieso unrealistisch. Wir brauchen also keinen physischen Zwang oder digitale Kopien von Konferenzzimmern. Vielmehr brauchen wir eine neue metalokale Haltung, die der Frage nachgeht, wie wir Nähe, Zugehörigkeit und Bedeutung jenseits des physischen Raums herstellen. 

Wichtig zu betonen ist, dass diese Haltung nicht darauf fokussiert, die beste Kommunikationstechnologie auszuwählen oder Mitarbeitende in der Verwendung von digitalen Tools zu schulen. Denn es geht nicht um digitale Kompetenzen, sondern darum, Resonanz zu erzeugen. Das beginnt beispielsweise bei der bewussten Wiederholung: Ein Meeting, das immer mit derselben Einstiegsfrage beginnt, ein kurzer Moment des Innehaltens, bevor ein Projekt lanciert wird, oder eine symbolische Geste zur Verabschiedung eines Kollegen – all das schafft Kontinuität und Orientierung. Präsenz entsteht nicht durch grosse Inszenierung, sondern durch Regelmässigkeit und Wiedererkennbarkeit.

Auch die Sprache spielt eine zentrale Rolle. Begriffe, Metaphern und Narrative, die konsequent verwendet werden, schaffen ein gemeinsames mentales Bezugssystem. Was «Kunde», «Erfolg» oder «Verantwortung» bedeutet, sollte nicht von Standort zu Standort neu erfunden werden – sonst geht der kulturelle Klebstoff verloren. Ebenso tragen Symbole zur Stärkung der Verbindung bei. Ein gemeinsam gewählter Projektname, eine visuelle Startseite im Intranet, ein kleines, ideell aufgeladenes Willkommensgeschenk für neue Mitarbeitende – solche Zeichen wirken oft stärker als jedes Handbuch.

Orte für Austausch und ­Anerkennung schaffen

Digitale Kommunikationskanäle sollten also nicht nur effizient eingesetzt, sondern bewusst als kulturelle Räume gestaltet werden. Eine Kollaborationsplattform kann mehr sein als ein Ort für Aufgabenverteilung – sie kann auch Ort für Austausch und Anerkennung werden. Selbst scheinbar banale Elemente wie eine Chatgruppe für informelle Gespräche oder ein virtueller Kaffeepausenraum haben hier ihren Platz. Sie ersetzen nicht die Begegnung am Kaffeeau­tomaten, aber sie erinnern daran, dass auch das Zufällige, das Persönliche, das Menschliche seinen Raum braucht.

Schliesslich kommt es auch darauf an, Übergänge zu gestalten: der Einstieg neuer Teammitglieder, der Abschluss eines Projekts, die Bewältigung eines Konflikts. Gerade im digitalen Raum werden solche Übergänge oft übergangen. Doch gerade hier haben kleine Rituale – be­wusst inszenierte Anfänge und Abschlüsse – eine besondere Kraft. Sie markieren Bedeutung, sie geben Orientierung, sie erzeugen Nähe und Zugehörigkeit.

Weihnachten erinnert uns daran, dass Nähe und Zugehörigkeit nicht nur dort entsteht, wo Menschen beisammensitzen – sondern dort, wo Bedeutung geteilt wird. Genau darin liegt die Chance des metalokalen Arbeitens: Verbindung zu schaffen, wo keine Räume verbinden – sondern Sinn. Metalokale Räume sind nicht die digitale Kopie des Büros. Sie sind ein neues Spielfeld – und sie gehören gestaltet.

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