Forschung & Entwicklung

Personalentwicklung

Kompetenzen in der Welt der Sicherheit

Im Sicherheitsbereich gibt es viele Berufe mit ganz unterschiedlichen Eignungsvoraussetzungen. Das Institut für Angewandte Psychologie IAP der ZHAW hat ein übergreifendes sicherheitspsychologisches Kompetenzmodell entwickelt, das Personalentwicklungsprogramme von der Eintrittsselektion bis hin zur Beförderung unterstützt.
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Über welche Kompetenzen müssen Menschen verfügen, die im Sicherheitsbereich tätig sind? Diese Frage hat das Institut für Angewandte Psychologie IAP der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW schon lange beschäftigt, denn es ist täglich mit der Herausforderung konfrontiert, Eignung und Eignungsvoraussetzungen für eine Vielzahl von Berufen im Sicherheitsbereich festzustellen.

Diese Berufe verlangen unterschiedliche Profile und Fähigkeiten von Personen, die in ausführender oder leitender Stellung sowie in Stäben direkt im Bereich Sicherheit arbeiten (zum Beispiel Sicherheitspersonal, Strahlenschutzspezialisten), von Mitarbeitenden von Leitstellen (zum Beispiel Zugverkehrsleitung, Kernkraftwerke, Energieverteiler) sowie von Fachkräften, die im Verkehr tätig sind (zum Beispiel Lokomotivführer, Schiff-Kapitäne, Piloten, Verkehrsexperten).

Der übergreifende Kontext in Bezug auf die Art von Organisationen, in denen diese Personen arbeiten, stellt das Konzept der Hochzuverlässigkeitsorganisationen (HZO, engl. High Reliability Organisations, HRO) dar. In den HZO wird durch gezielte Massnahmen in der Gestaltung der Organisation, der Prozesse und der Anforderungen an die Mitarbeitenden sichergestellt, dass weniger Fehler auftreten, als aufgrund der vor­han­denen Risiken oder der auftretenden Ge-
fahren angenommen werden müsste.

Vom Gleichen sprechen

Zurück zur Fragestellung: Müsste es nicht möglich sein, ein umfassendes Kompetenzmodell festzulegen, das für alle Funktionen im Kontext Sicherheit gültig ist? Aktuell wird mit so vielen verschiedenen Anforderungsprofilen gearbeitet, wie es unterschiedliche Funktionen gibt. Aus psychologischer Perspektive wäre jedoch zusätzlich eine übergreifende Betrachtung von Kompetenzen durchaus sinnvoll, weil über die verschiedenen Anforderungsprofile hinweg grosse Überlappungen bestehen. Die Vorteile eines solchen Kompetenzmodells liegen auf der Hand:

  • Organisationen sind in der Lage, sämtliche Funktionen mit einem Sicherheitsbezug in einer einheitlichen und fachspezifischen Sprache zu systematisieren.
  • Die Durchlässigkeit der verschiedenen Personalmanagement-Prozesse wie HR-Marketing, Personalselektion, Personalentwicklung (Beförderungen, Job-Enlargement, usw.) ist gewährleistet.
  • Der Begriff Kompetenz wird auch über die verschiedenen Organisationen hinweg einheitlich definiert.

Das IAP hat diese Fragestellung in einem wissenschaftlichen Projekt bearbeitet und ein sicherheitspsychologisches Kompetenzmodell entwickelt. Dabei wurde die wissenschaftliche Literatur in der Schnittmenge Sicherheit, HZO, Führung und menschliches Verhalten (engl. Human Factors) gesichtet und in Kombination mit den vorhandenen Anforderungsprofilen analysiert. Eine Expertengruppe verdichtete den daraus resultierenden Kompetenzkatalog zu Clustern, die in bewusster Weise exklusiv für den Sicherheitskontext zugeschnitten wurden. Dadurch wird sichergestellt, dass naheliegende Konstrukte wie beispielsweise Gewissenhaftigkeit nicht im Vordergrund stehen, weil natürlich auch für viele Berufe, die keinen Sicherheitsbezug haben, Gewissenhaftigkeit absolut zentral ist.

Das Fünf-Kompetenzen-Modell

Während praktische Anwendungsbezüge des Modells weiter unten dargestellt sind, wird in diesem Abschnitt der Begriff Kompetenz geklärt sowie das Modell selbst vorgestellt. Unter Kompetenz versteht man die Fähigkeit, relevante Praxisprobleme erfolgreich bewältigen zu können. Dabei werden innere Bereitschaft, notwendige kognitive und soziale Fähigkeiten, vorhandenes Wissen, zielführende Methoden, technisches Können und eventuell breite Erfahrung vorausgesetzt und als integratives Ganzes – eben als Kompetenz – betrachtet. Basierend auf dieser Definition, sind auch die hier vorgestellten sicherheitspsychologischen Kompetenzen handlungsorientiert. Die «Safe Five», wie das Modell benannt wurde, umfassen fünf Kompetenzen: Situation Awareness, Regelkonformität, Kritische Grundhaltung, Expositionsbereitschaft und Notfalltauglichkeit:

  • Abgeleitet von den einflussreichen Arbeiten von Mica Endsley (1995), geht es bei Situation Awareness darum, jederzeit den Überblick zu haben und handlungsbereit zu sein. Dazu müssen die relevanten Objekte und Aspekte einer Situation bewusst und umfassend wahrgenommen werden. Auf Basis der ganzheitlich erfassten aktuellen Lage und einer Prognose des weiteren Situationsverlaufs wird die eigene Handlungsbereitschaft sichergestellt. Bei Situation Awareness stehen somit vor allem kognitive Prozesse wie Wahr­nehmung, Aufmerksamkeit, Konzentration, Gedächtnis und logisches Denken, aber auch Wissen und Erfahrung im Vordergrund.
     
  • Regelkonformität meint das Handeln nach Vorgabe (Regeln) beziehungswiese nach Plan, jedoch mit Rigidität der Ausführung nach Mass. Die persönliche Verpflichtung eines Menschen gegenüber vorgegebenen Regeln, Normen und Werten bildet zunächst die entscheidende Basis dafür, diese auch konsequent anwenden und befolgen zu können. Stupider Kadavergehorsam ist damit jedoch nicht gemeint, denn mit der Regelkonformität muss auch ein Bewusstsein über vorhandenen Spielraum einhergehen, um im entscheidenden Moment nicht durch übergenaues Befolgen unangemessen zu handeln. Damit spielt bei Regelkonformität nebst innerer Motivation, aufgabenbezogener Selbstregulation und kognitiven Fähigkeiten auch Handlungsflexibilität eine wichtige Rolle.
     
  • Eine der wesentlichen Fähigkeiten von HZO ist es, keine Fehler zu übersehen. Die Gewährleistung dieser Fähigkeit verlangt allen Mitarbeitenden ein hohes Mass an Selbstreflexion ab. Dies entspricht der Kompetenz Kritische Grundhaltung. Situationen müssen aus eigenem Antrieb – und mit Fokus auf Details – durchdacht und organisatorische Gegebenheiten, Kontextfaktoren und Arbeitsabläufe regelmässig hinterfragt werden, um keine vereinfachenden Interpretationen vorzunehmen oder keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen. Dabei müssen auch die eigene Leistung und die eigene Haltung immer wieder hinterfragt werden, um Selbstüberschätzung (engl. Overconfidence) vorzubeugen. An dieser Stelle wird häufig der Begriff Achtsamkeit (vgl. Weick und Sutcliffe, 2003) verwendet, der beispielsweise auch dem Grundsatz «Fachwissen vor Hierarchie» verpflichtet ist. Damit ist klar, dass diese Kom­petenz nur umgesetzt sein kann, wenn dies von der oberen Führung auch unterstützt wird und in der Organisa­tionskultur verankert ist. Auf der in­dividuellen Ebene spielen Konzepte wie Gefahrenkognition, die erwähnte Selbstüberschätzung und aufmerksamkeitsbezogene Selbstregulation eine wichtige Rolle.
     
  • Ziel der Expositionsbereitschaft (vgl. Badke-Schaub et al., 2012) ist ein ak­tives Einbringen, um auf gefährliche Systemzustände aufmerksam zu machen. Dabei müssen die persönlichen Hemmnisse und organisationalen Hürden durch klare und selbstbewusste Kommunikation überwunden werden, um der am besten geeigneten Lösung Gehör zu verschaffen. In dieser Hinsicht müssen neben Kommunikationsfähigkeit sowie aktiver persönlicher Verantwortungsübernahme auch soziale Phänomene wie Führungsstruktur oder Kommunikationskultur mitberücksichtigt werden.
     
  • Notfalltauglichkeit bezeichnet das zielorientierte Handeln ausserhalb des gewohnten Kontextes. Es geht also darum, in sehr anforderungsreichen oder Unsicherheit erzeugenden Situationen mit grossem Zeit- und/oder Handlungsdruck zu entscheiden und zu handeln und dabei innert nützlicher Frist auf einen sicheren und stabilen Systemzustand hinzuwirken. An dieser Stelle werden Fähigkeiten wie die Entscheidungsfähigkeit, die Handlungsflexibilität, die Improvisationsfähigkeit und der Lösungsfokus verbunden mit stressbezogener Selbstregulation, als Voraussetzungen für die Notfalltauglichkeit unmittelbar erkennbar.

Der Einsatz in der Praxis

Für den Einsatz des Kompetenzmodells in der betrieblichen Praxis wurden vier Kompetenzstufen definiert, die mit Beginner, Senior, Professional und Expert bezeichnet sind. Anhand dieser lässt sich die Expertise von Funktionsträgern zuordnen und beschreiben. So sehen sich Beginner mit der simplen Ausführung von reglementarisch vorgegebenen Tätigkeiten in gut überschaubaren Situationen konfrontiert. Seniors kommt die Aufgabenverantwortung mit selbstständiger Ausführung im bekannten Kontext zu und Professionals übernehmen die Systemverantwortung in einer Leitungs­funktion in einem neuen oder ausseror­dentlichen Kontext. Für Konzept- und Vorgehensentwicklungen und die Gesamtleitung in Extremsituationen sind die Experts zuständig. Für diese Personengruppe ist es zudem charakteristisch, dass sie ihre sicherheitsrelevante Aufgabe erst in einem Störfall aufnehmen.

Bei Selektionsentscheidungen oder im Rahmen von Entwicklungsmassnahmen des Personals bringen die «Safe Five» den grössten Nutzen. Anhand des Kompetenzmodells lassen sich die sicherheitsrelevanten Anforderungen der zu beset­zenden Stellen einstufen. Es hilft, im Selektionsprozess den Fokus auf die entsprechenden Persönlichkeitseigenschaften der zukünftigen Funktionsträger zu richten. Nehmen wir als Beispiel den Nachtwächter und den Sicherheitsbeauftragten (Abbildung 1):

Unser Nachtwächter hat die Aufgabe, mittels Patrouillengängen selbstständig Kontrolltätigkeiten auszuführen und erkannte Unregelmässigkeiten zu beheben (zum Beispiel Türe abschliessen), respektive zu melden (zum Beispiel Einbruch). Hierbei ist es entscheidend, dass er sich strikt an Anweisungen und Regeln hält (Regelkonformität) und ein gewisses Mass an Situation Awareness zeigt. Auf diesen zwei Dimensionen stufen wir die Anforderungen auf der Senior-Stufe ein. Aufgabenbedingt, müssen die Kompetenzausprägungen bei der kritischen Grundhaltung, der Expositionsbereitschaft und der Notfalltauglichkeit nur gering ausgeprägt sein, was der Beginner-Stufe entspricht. In der Abbildung ist das entsprechende Anforderungsprofil blau eingezeichnet.

Dem Sicherheitsbeauftragten (grüne Linie) kommen die Aufgaben zu, Arbeitsabläufe und Vorschriften regelmässig kritisch zu hinterfragen, die Einhaltung von Regeln durchzusetzen und sich in der Geschäftsleitung Gehör für seine Anliegen verschaffen zu können. Somit müssen seine Kompetenzen in den Bereichen Regelkonformität, Kritische Grundhaltung und Expositionsbereitschaft auf der Professional-Stufe ausgeprägt sein. Da der hier skizzierte Sicherheitsbeauftragte im Störfall nur eine beratende Funktion einnimmt, reichen bei ihm in der Situation Awareness und der Notfalltauglichkeit Kompetenzausprägungen auf Senior-Stufe.

Ergänzend ist in der Abbildung das Profil eines Krisenstableiters (rote Linie) eingezeichnet. Da dieser seine Funktion in aus­sergewöhnlichen Lagen und Störfällen ausübt, müssen seine Situation Awareness, seine Expositionsbereitschaft und seine Notfalltauglichkeit auf der höchsten Stufe (Expert) ausgeprägt sein. Typisch für Extremsituationen ist, dass situativ von für den Normalfall festgelegten Regeln abgewichen werden kann respektive muss, weshalb die Anforderungen an den Krisenstableiter in diesem Bereich nicht sehr hoch sind.

Ein vom IAP entwickelter Kurzfragebogen ermöglicht es, die Einstufung der sicherheitsrelevanten Anforderungen auf eine einfache Art vorzunehmen. Für jede Kompetenz der «Safe Five» lässt sich mit diesem Instrument die stellen- beziehungsweise die funktionsspezifisch erforderliche Ausprägung festlegen (Abbildung 2).

Unter «www.zhaw.ch/iap/sicherheitskompetenzen»  steht der Fragebogen zur Verfügung. Für die Erfassung der «Safe Five» in einem strukturierten Interview ist dort zusätzlich eine Sammlung von Interview-Fragen aufgeschaltet.

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