Ein Beispiel
Ein KMU aus dem Bereich Gebäudetechnik mit regionalem Fokus im Mittelland wirkt auf den ersten Blick kaum international verwoben – die Kunden sindlokal, die Materialien stammen mehrheitlich aus dem Inland. Doch durch geopolitisch bedingte Lieferengpässe beispielsweise bei elektronischen Steuerungseinheiten, die in Asien produziert werden, können selbst Standardprojekte ins Stocken geraten. Verzögerungen bei Bauvorhaben, steigende Preise für bestimmte Komponenten und unsichere Liefertermine zeigen: Auch ein lokal verankertes Unternehmen ist Teil globaler Wertschöpfungsketten – oft indirekt über Vorlieferanten, die wiederum global einkaufen.
Gleichzeitig wird es angesichts des Fachkräftemangels in der Schweiz immer schwieriger, offene Stellen zu besetzen. Das Unternehmen entscheidet sich, einige geflüchtete Personen aus der Ukraine und Syrien einzustellen, die in ihrem Heimatland zwar bereits ausgebildet wurden, aber in der schweizerischen Branche neu sind – und erkennt darin nicht nur eine soziale Verantwortung, sondern auch eine betriebliche Chance. Die geopolitischen Verwerfungen wirken damit doppelt: Sie bringen Herausforderungen, aber auch neue Perspektiven – wenn man bereit ist, sie aktiv zu gestalten.
Veränderte Spielregeln, auch für KMU
Noch vor wenigen Jahren reichte es für viele Schweizer KMU mehrheitlich aus, sich auf betriebswirtschaftliche Grundlagen zu konzentrieren: stabile Lieferanten, treue Kundschaft, solide Produkte und etwas konjunkturelle Vorsicht. Doch diese Gewissheiten bröckeln – unter dem Druck geopolitischer Verwerfungen, die schneller und direkter auf KMU durchschlagen als je zuvor. Geopolitik – also das Zusammenspiel von internationaler Machtpolitik, wirtschaftlichen Interessen und territorialen Spannungen – betrifft inzwischen auch KMU, die scheinbar nur lokal agieren.
Der Ukrainekrieg, die Taiwan-Spannung, Cyberangriffe, Sanktionen, ein zunehmend geopolitisch fragmentiertes Internet (Splinternet) oder die aggressive Tarifpolitik der US-Administration: Sie alle verändern die Spielregeln. Und das trifft den Maschinenbauer im Aargau über verzögerte Zulieferungen, das Logistikunternehmen im Jura über höhere Transportkosten und unsichere Routen und den spezialisierten Medizintechniker in Graubünden über den Zugang zu Auslandsmärkten ganz konkret.
Geopolitik als unternehmerische Kompetenz – das klingt zunächst nach einem Widerspruch. Doch genau das ist es, was KMU in Zukunft verstärkt brauchen: die Fähigkeit, Entwicklungen auf der geopolitischen Weltbühne zu beobachten, einzuordnen und ihre potenziellen Auswirkungen auf das eigene Geschäftsmodell einzuschätzen. Dafür braucht es kein Analystenteam im Haus, sondern vielmehr einen systematischen Zugang zu relevanten Informationen und ein strukturiertes Denken in möglichen Zukunftsszenarien.
Wichtig ist, dass Unternehmen im Voraus klären, wer im Fall bestimmter Entwicklungen welche Entscheidungen trifft und wie Chancen erkannt und genutzt werden können. Denn geopolitische Umbrüche bedrohen nicht nur Bestehendes – sie eröffnen auch neue Spielräume für diejenigen, die vorbereitet sind. Wie können solche Kompetenzen nun konkret aussehen?
Geopolitische Kompetenzfelder
Erstens: Beobachtung und Informationskompetenz. KMU müssen lernen, gezielt relevante geopolitische Entwicklungen zu verfolgen. Dies beginnt bei der Auswahl geeigneter Quellen: Nachrichtenagenturen, wirtschaftsnahe Thinktanks, Handelskammern, branchenspezifische Newsletter und jährlich erscheinende Berichte wie der Aussenpolitische Bericht des EDA, der Global Risks Report des WEF oder die Risk Maps von Control Risks können wichtige Hinweise liefern. Wichtiger als die tägliche Nachrichtenflut ist dabei die regelmässige, strukturierte Einordnung: Welche Entwicklungen sind relevant für unser Geschäftsmodell? Was ist kurzfristig, was strukturell?
Zweitens: Szenarien und Impact-Analyse. Was passiert, wenn ein wichtiger Rohstoff plötzlich nicht mehr verfügbar ist – oder nur noch zu doppelten Preisen? Was, wenn ein Absatzmarkt durch politische Instabilität wegfällt? Was, wenn Cyberrisiken durch geopolitische Spannungen zunehmen? Solche Fragen lassen sich in Form von einfachen, aber robusten Szenarien denken – bestenfalls in einem kleinen crossfunktionalen Team innerhalb des Unternehmens. Wer sich regelmässig mit «Was-wäre-wenn»-Szenarien auseinandersetzt, wird im Ernstfall schneller handlungsfähig sein.
Drittens: Entscheidungsroutinen etablieren. KMU sind oft und verständlicherweise mit dem operativen Alltag absorbiert. Wie aber dann systematisch auf externe Schocks reagieren? Es braucht einfache Entscheidungsroutinen: Wer ist verantwortlich für die Beobachtung geopolitischer Entwicklungen? Welche Schwellenwerte oder Signale lösen welche Handlungen aus? Wie wird mit Unsicherheit umgegangen? Wer hat welche Befugnisse, etwa bei der raschen Verlagerung von Lieferketten?
Viertens – und besonders wichtig: Netzwerke und Kooperation. Kaum ein KMU kann sich leisten, eine eigene geopolitische Analystin zu beschäftigen oder bei jeder Unsicherheit ein externes Gutachten einzuholen. Doch im Verbund mit anderen KMU, in Clusterorganisationen, Branchenverbänden oder regionalen Wirtschaftskreisen können Wissen und Ressourcen gebündelt werden. So lassen sich Trends früher erkennen, Best Practices austauschen und gegebenenfalls auch politisch Einfluss nehmen. In der Schweiz existieren dafür entsprechende Strukturen – sie werden aber bisher wenig für geopolitische Fragestellungen genutzt.
Eine Frühwarnkultur etablieren
Ein konkretes Beispiel zeigt, wie solche Kompetenzen auch mit begrenzten Mitteln, aber etwas Mut zur Veränderung aufgebaut werden können: Ein Schweizer KMU aus dem Bereich technischer Textilien hat 2023 begonnen, geopolitische Entwicklungen mindestens monatlich in seine Teamsitzungen zu integrieren. Jeweils ein Mitarbeitender bereitet eine aktuelle Meldung mit potenzieller Relevanz fürs Unternehmen auf – etwa zu Handelsbarrieren, Unruhen in Zulieferregionen oder globalen Rohstoffmärkten – und diskutiert die möglichen Implikationen im Team.
Ergänzt wurde dies durch eine intern entwickelte «Signalampel», in der monatlich einige wenige, aber relevante Indikatoren erfasst und gemeinsam bewertet werden. Rot bedeutet: Handlungsbedarf prüfen. Gelb: beobachten. Grün: keine Massnahme nötig. Zusätzlich wurde eine lose Kooperation mit einer Fachhochschule aufgebaut, um bei Bedarf Szenarien gemeinsam weiterzuentwickeln. So entstand aus dem operativen Alltag heraus ein einfaches Frühwarnsystem, das nicht nur Risiken sichtbar machte, sondern auch neue Ideen für alternative Vorgehensweisen anstiess.
Natürlich lässt sich nicht jeder Sturm vermeiden. Aber wer eine solide geopolitische Frühwarnkultur etabliert, kann Wellen besser reiten. Es geht nicht um das Erraten der Zukunft, sondern um das aktive Gestalten von Handlungsfähigkeit – gerade unter Unsicherheit. Der zusätzliche Aufwand hierfür ist vergleichbar mit einer Versicherung, die hoffentlich nie benötigt wird, aber im Fall der Fälle sehr wichtig wird.
Denn der Ausblick ist klar: Die Welt wird nicht ruhiger. Die Fähigkeit, geopolitisch zu denken und entsprechend zu handeln, wird künftig ebenso wichtig sein wie Buchhaltung oder Produktentwicklung. Wer jetzt beginnt, diese Kompetenz zu entwickeln, hat morgen einen entscheidenden Vorsprung.