Herr Professor Hauser, eine Stuzur Wirtschaftskriminalität 2013 in Deutschland, Österreich und der Schweiz besagt, dass gut zwei Drittel der wirtschaftskriminellen Handlungen durch interne Hinweise aus dem Umfeld der eigenen Unternehmung aufgedeckt wurden. Welche Rolle spielen Whistle-blowing-Systeme in Schweizer Unternehmungen?
Was das Thema Whistleblowing anbelangt, befinden wir uns im internationalen Vergleich noch am Anfang, besonders gegenüber den USA. Auch die meisten grossen Unternehmen hierzulande beginnen jetzt erst, Hinweisgebersysteme in nennenswertem Ausmass zu implementieren. Laut unserer eigenen Untersuchung verfügt weniger als ein Fünftel der international aktiven Schweizer Unternehmen über ein solches System.
Die Haltung der Bevölkerung zum Whistleblowing scheint gespalten. Während die einen einen Whistleblower als eine Art Helden definieren, sehen andere in ihm einen Nestbeschmutzer. Wie erklären Sie die Haltung der Skeptiker?
Whistleblowern werden häufig negative Motive unterstellt: Jemand wurde nicht befördert, hat nicht das geforderte Gehalt bekommen oder wurde entlassen. Aus Rache wird das Unternehmen dann «verpfiffen». Bei uns in Mitteleuropa wird jedoch erwartet, dass jemand, der Missstände publik macht, dies aufgrund hehrer Motive tut. Kommt es beispielsweise zu einer Umweltverschmutzung und jemand macht dies öffentlich, weil er ein Herz für die Umwelt und die betroffenen Menschen hat, dann wird das eher goutiert. Wenn die Person damit jedoch scheinbar in erster Linie eigene Interessen verfolgt, wird dies negativ bewertet. Eigennutz oder Vergeltung sind bei uns wenig akzeptierte Motive, um auf Missstände aufmerksam zu machen. In den Vereinigten Staaten ist die Situation anders. Dort sieht das Gesetz vor, dass ein Whistleblower als Belohnung einen Anteil der Strafzahlung erhält, zu der ein Unternehmen – aufgrund der von ihm gelieferten Informationen – verurteilt wird.
Unter einem Whistleblowing-System wird ein Frühwarnsystem verstanden, welches das Unternehmensrisiko durch die frühzeitige Erkennung von Missständen reduziert. Welche Arten von Missständen sollen durch ein funktionierendes Whistleblowing-System abgedeckt werden?
Zum einen sind das Missstände, die gegen gesetzliche oder regulatorische Regelungen verstossen. Zum anderen geht es dann aber natürlich auch um Verstösse gegen die internen Richtlinien, die nicht unbedingt strafrechtlich relevant sein müssen. Ausserdem kann es Verhaltensweisen abdecken, die aus ethischen oder moralischen Gesichtspunkten anstössig sind.
Bei der Ausgestaltung des Whistleblowing-Systems muss sich das Unternehmen an keine gesetzlichen Vorschriften halten. Welche Elemente charakterisieren ein typisches Whistleblowing-System?
Zunächst sollte ein Whistleblowing-System unabhängig sein. Das heisst, es sollte möglichst selbstständig agieren und reagieren können. Dann sollte es die Meldungen vertraulich behandeln, und die Mitarbeitenden sollten sich anonym daran wenden können. Ausserdem sollte es die Kompetenz haben, die Stichhaltigkeit der eingegangenen Meldungen zu überprüfen. Wie das System dann schlussendlich ausgestaltet ist, da gibt es viel Ansätze: Über ein Internetportal, einen Briefkasten, eine Telefon-Hotline, eine mobile App oder eine Ombudsstelle, bei einer Anwaltskanzlei. Diese Vielfältigkeit ist wichtig, weil ein Unternehmen mit 40 oder 50 Mitarbeitenden natürlich etwas ganz anderes braucht als ein Unternehmen mit 100 000 Mitarbeitenden.
Wie stellt sich die Situation für KMU dar?
Das lässt sich nicht pauschal sagen. Wir haben z. B. mit einem Unternehmen gesprochen, das zwölf Mitarbeitende hat, in 60 Ländern aktiv ist, in seinem Segment Weltmarktführer ist und bei dem es zu Unregelmässigkeit kam. Für nur zwölf Mitarbeitende muss keine Hotline eingerichtet werden. Da müssen andere Wege gefunden werden, die die Mitarbeitenden dazu ermutigen, im Sinne von «Speak-up» Missstände offen anzusprechen, wenn sie auf solche stossen. Und dann geht es darum, gemeinsam mit der Unternehmensleitung eine Lösung zu finden, wie die Missstände erfolgreich beseitigt werden können. Problematisch wird es natürlich dann, wenn die Unternehmensleitung in die Unregelmässigkeiten verwickelt ist. Und das ist in einem kleinen Unternehmen vielleicht schnell mal der Fall. Dann ist es natürlich schwieriger, das Thema unternehmensintern zu lösen. Wenn sie etwa einen Patron haben, der das Unternehmen führt und der selbst derjenige ist, der an wirtschaftskriminellen Machenschaften wie etwa Preisabsprachen oder Bestechungszahlungen beteiligt ist. Für solche Fälle sieht das Schweizer Whistleblowing-Gesetz, das derzeit überarbeitet wird, eine Eskalationskaskade vor. Wenn ein Mitarbeitender keine unternehmensinterne Meldung machen kann oder auf eine interne Meldung hin nichts unternommen wird, dann dürfen die Mitarbeitenden den Fall an die Behörden melden. Und wenn die Behörden den Fall nicht richtig bearbeiten, dann dürfen die Mitarbeitenden es an die Presse melden.