Forschung & Entwicklung

Whistleblowing (Teil 1 von 2)

Ein Frühwarnsystem mit zweifelhaftem Image

Prof. Dr. Christian Hauser, Schweizerisches Institut für Entrepreneurship (SIFE), Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Chur, über Whistleblowing als Mittel gegen Wirtschafts­kriminalität und die Gestaltung einer dafür notwendigen Unternehmenskultur.
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Herr Professor Hauser, eine Stuzur Wirtschaftskriminalität 2013 in Deutschland, Österreich und der Schweiz besagt, dass gut zwei Drittel der wirtschaftskriminellen Handlungen durch interne Hinweise aus dem Umfeld der eigenen Unternehmung auf­gedeckt wurden. Welche Rolle spielen Whistle-blow­ing-Sys­teme in Schweizer Unternehmungen?

Was das Thema Whistleblowing anbelangt, befinden wir uns im internationalen Vergleich noch am Anfang, besonders gegenüber den USA. Auch die meisten gros­sen Unternehmen hierzulande beginnen jetzt erst, Hinweisgebersysteme in nennenswertem Ausmass zu implementieren. Laut unserer eigenen Untersuchung verfügt weniger als ein Fünftel der international aktiven Schweizer Unternehmen über ein solches System.

Die Haltung der Bevölkerung zum Whistleblowing scheint gespalten. Während die einen einen Whistleblower als eine Art Helden definieren, sehen andere in ihm einen Nestbeschmutzer. Wie erklären Sie die Haltung der Skeptiker?

Whistleblowern werden häufig negative Motive unterstellt: Jemand wurde nicht befördert, hat nicht das geforderte Gehalt bekommen oder wurde entlassen. Aus Rache wird das Unternehmen dann «verpfiffen». Bei uns in Mitteleuropa wird jedoch erwartet, dass jemand, der Missstände publik macht, dies aufgrund hehrer Motive tut. Kommt es beispielsweise zu einer Umweltverschmutzung und jemand macht dies öffentlich, weil er ein Herz für die Umwelt und die betroffenen Menschen hat, dann wird das eher goutiert. Wenn die Person damit jedoch scheinbar in erster Linie eigene Interessen verfolgt, wird dies negativ bewertet. Eigennutz oder Vergeltung sind bei uns wenig akzeptierte Motive, um auf Missstände aufmerksam zu machen. In den Vereinigten Staaten ist die Situation anders. Dort sieht das Gesetz vor, dass ein Whistleblower als Belohnung einen Anteil der Strafzahlung erhält, zu der ein Unternehmen – aufgrund der von ihm gelieferten Informa­tionen – verurteilt wird.

Unter einem Whistleblowing-System wird ein Frühwarnsystem verstanden, welches das Unternehmensrisiko durch die frühzeitige Erkennung von Missständen re­duziert. Welche Arten von Missständen sollen durch ein funktionierendes Whistleblowing-System abgedeckt werden?

Zum einen sind das Missstände, die gegen gesetzliche oder regulatorische Regelungen verstossen. Zum anderen geht es dann aber natürlich auch um Verstösse gegen die internen Richtlinien, die nicht unbedingt strafrechtlich relevant sein müssen. Ausserdem kann es Verhaltensweisen abdecken, die aus ethischen oder moralischen Gesichtspunkten anstössig sind.

Bei der Ausgestaltung des Whistleblowing-Systems muss sich das Unternehmen an keine gesetzlichen Vorschriften halten. Welche Elemente charakterisieren ein typisches Whistleblowing-System?

Zunächst sollte ein Whistleblowing-System unabhängig sein. Das heisst, es sollte möglichst selbstständig agieren und reagieren können. Dann sollte es die Meldungen vertraulich behandeln, und die Mitarbeitenden sollten sich anonym daran wenden können. Ausserdem sollte es die Kompetenz haben, die Stichhaltigkeit der eingegangenen Meldungen zu überprüfen. Wie das System dann schluss­endlich ausgestaltet ist, da gibt es viel Ansätze: Über ein Internetportal, einen Briefkasten, eine Telefon-Hotline, eine mobile App oder eine Ombudsstelle, bei einer Anwaltskanzlei. Diese Vielfältigkeit ist wichtig, weil ein Unternehmen mit 40 oder 50 Mitarbeitenden natürlich etwas ganz anderes braucht als ein Unternehmen mit 100 000 Mitarbeitenden.

Wie stellt sich die Situation für KMU dar?

Das lässt sich nicht pauschal sagen. Wir haben z. B. mit einem Unter­nehmen gesprochen, das zwölf Mitarbeitende hat, in 60 Ländern aktiv ist, in seinem Segment Weltmarktführer ist und bei dem es zu Unregelmässigkeit kam. Für nur zwölf Mitarbeitende muss keine Hotline eingerichtet werden. Da müssen andere Wege gefunden werden, die die Mitarbeitenden dazu ermutigen, im Sinne von «Speak-up» Missstände offen anzusprechen, wenn sie auf solche stossen. Und dann geht es darum, gemeinsam mit der Unternehmensleitung eine Lösung zu finden, wie die Missstände erfolgreich beseitigt werden können. Problematisch wird es natürlich dann, wenn die Unternehmensleitung in die Unregelmässigkeiten verwickelt ist. Und das ist in einem kleinen Unternehmen vielleicht schnell mal der Fall. Dann ist es natürlich schwieriger, das Thema unterneh­mens­intern zu lösen. Wenn sie etwa einen Patron haben, der das Unternehmen führt und der selbst derjenige ist, der an wirtschaftskriminellen Machenschaften wie etwa Preisabsprachen oder Bestechungszahlungen beteiligt ist. Für solche Fälle sieht das Schweizer Whistleblowing-Gesetz, das derzeit überarbeitet wird, eine Eskalationskaskade vor. Wenn ein Mit­arbeitender keine unternehmensinterne Meldung machen kann oder auf eine interne Meldung hin nichts unternommen wird, dann dürfen die Mitarbeitenden den Fall an die Behörden melden. Und wenn die Behörden den Fall nicht richtig bearbeiten, dann dürfen die Mitarbeitenden es an die Presse melden.

Gibt es in der Praxis neben den erwähnten Kommunika­tionskanälen wie einer internen Stelle, einer Anwaltskanzlei, einer Hotline, einer Internet-Plattform oder einem Ombudsmann noch weitere Variationen von Kommunikationskanälen oder Meldestellen?

Ich denke, das sind so die typischen internen Kanäle. Es gibt aber auch andere Meldestellen, wie die der Zeitschrift «Beobachter»: «sichermelden.ch». Oder auch die Sendung «Kassensturz», in der vor Kurzem zum Beispiel über die Arbeitszeiten bei Coop berichtet wurde. Ein Mitarbeitender hat als Whistleblower öffentlich gemacht, dass es bei Coop zu Unregelmäs­sigkeiten beim Umgang mit Überzeiten gekommen war.

Sehen Sie in der Praxis einen Kommunikationskanal, der sich besonders bewährt hat bzw. auffallend viele Schwierigkeiten auslöste?

Die Problemfälle, die mir bekannt sind, beziehen sich vor allem auf Einzelbeispiele von externen Meldestellen, im Sinne von unternehmensexternen Stellen. Transparency International Schweiz hat beispielsweise einmal eine Hotline betrieben, die dann aber wieder eingestellt wurde, weil sie nicht den gewünschten Nutzen erbrachte und sehr viele Ressourcen beanspruchte. Da wurden auch Sachen gemeldet, die nicht substanziiert waren. Eine wichtige Frage bei externen Meldestellen ist, wie viel Beweismaterial mitgeliefert werden muss, damit ein Verdachtsmoment erhärtet werden kann. Das sind Schwierigkeiten, mit denen externe Meldestellen besonders zu kämpfen haben. Ins­­gesamt ist es schwierig abzuschätzen, wie gut Meldesysteme funktionieren bzw. wie viel sie aufdecken, da die Bezugsgrösse der nicht aufgedeckten Missstände naturgemäss nicht bekannt ist. Bei den Unternehmen, in die ich Einblick gewinnen durfte, wurde gesagt und auch belegt, dass es durchaus eine nennenswerte Anzahl von Meldungen gibt, bei denen sich die Verdachtsmomente erhärten liessen.

Wie wichtig ist die Unternehmenskultur im Zusammenhang mit dem Whistleblowing-System?

Ich denke, die Unternehmenskultur ist zentral. Wenn ein Unternehmen keine entsprechende Kultur hat, die von der Unternehmensleitung bis ins mittlere Management hinein die Haltung vorlebt, bei Unregelmässigkeiten nicht wegzuschauen, sondern die Missstände offen anzusprechen und eine Lösung zu suchen, dann werden die Mitarbeitenden so lange den Mund halten, bis es einen Punkt gibt, an dem sie sozusagen «platzen». Das sind dann meistens die bereits erwähnten Situationen, in denen man ihnen, unlautere Motive unterstellt: weil sie zum Beispiel nicht befördert wurden, einen Bonus nicht bekommen haben oder sonst irgendetwas passiert ist. Erst dann sprechen sie den Missstand an. Aber solange sie «etwas zu verlieren haben», halten sie sich bedeckt, obwohl sie den Missstand vielleicht schon lange ansprechen wollten, die Unternehmenskultur es aber nicht zugelassen hat.

Welche Anreizmechanismen können bei der Entscheidung eines potenziellen Whistleblowers für beziehungsweise gegen eine Meldung von Bedeutung sein?

Ein Unternehmen kann sowohl positive als auch negative Anreize für Whistleblowing schaffen. Negative Anreize werden z. B. dadurch erzeugt, dass Mitarbeitende, die Missstände ansprechen, nicht befördert, auf die Seite wegbefördert oder anderweitig kaltgestellt werden. Wenn ein Unternehmen so auf die internen Meldungen über Probleme re­­agiert, wird es nie funktionieren. Positive Anreize hingegen können so weit gehen, dass die Hinweisgeber eine Belohnung erhalten, wenn durch ihre Meldung ein Missstand aufgedeckt wird. Hier muss man natürlich darauf achten, dass nur Sachverhalte gemeldet werden, die auch substanziiert sind, bei denen die Missstände also wirklich durch Belege untermauert werden, damit keine Misstrauenskultur entsteht und alle sich gegenseitig anschwärzen.

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