Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Disruptive Innovation – nicht ohne Kulturwandel

Disruption kann nicht verordnet, sondern nur (vor)gelebt werden. Notwendige Voraus­setzung dafür ist eine unternehmenskulturelle Evolution, vielleicht sogar Revolution.
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Der Kolumnist Milosz Matuschek, auch bekannt als Blogger «Dr. Strangelove», fragt: «Soll man sich an das Rad des Fortschritts hängen oder am Bewährten festhalten?» Der Blogger beschreibt das Entscheidungsdilemma, einerseits im gegenwärtigen Zustand verweilen, keine Risiken eingehen zu wollen und andererseits der Gier nach Neuem, den Chancen der Zukunft nachzugehen zu wollen. Als KMU-Entscheider werden Sie sich sagen, dass das gelebter Alltag, Normalität schlechthin sei. Innovation – das Neue – ist das entscheidende Elixier, das das Überleben der KMU in einem immer intensiveren Wettbewerb sicherstellt. Immer wieder muss man entscheiden, welcher Wandel notwendig, aber auch verkraftbar ist, um das langfristige Überleben der Unternehmung sicherstellen zu können. Da mutet das Thema «Disruption» – die Zerschlagung eines bestehenden Geschäftsmodells durch eine revolutionäre Innovation – nicht allzu neu an, oder doch?

Die Notwendigkeit der schöpferischen Zerstörung

Neu ist die explizit propagierte Notwendigkeit zur «aktiven Zerstörung»: Wer sich nicht «disrupted», wer nicht alles infrage stellt, scheint schon verloren zu haben. Kurz: «Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.» Ein halbes Jahrhundert zuvor nannte Schumpeter die disruptive, kreative Zerstörung noch «schöpferische Zerstörung». Wie auch heutzutage so verstanden, meinte Schumpeter damit die Notwendigkeit, dass überkommene Geschäftsmodelle den neuen weichen müssen und dies ein natürlicher, ein notwendiger Bereinigungsprozess sei. Was ist also neu an der disruptiven Innovation? Warum sollte sich ein KMU-Entscheider in die Rolle eines «Chief Disruption Officer» begeben? Klar scheint nur, das «Karussell» dreht sich schneller als früher. Das Überleben eines KMU ist schwerer denn je sicherzustellen. Und es stellt sich die Frage: Kann das Phänomen, das Gedankengut der Disruption einem KMU helfen?

Disruptive Innovation wird gemeinhin verstanden als Innovation, die es – oft auf Basis einer neuen Technologie – einer neuen Verbrauchergruppe erlaubt, eine Ware oder Dienstleistung zu nutzen, die vorher nur einer kleinen Konsumentengruppe vorbehalten war. Ob Innovation oder Disruption, am Anfang steht die Demokratisierung eines Kundennutzens.

Innovation beruht auf der Idee, durch Veränderung und Neuentwicklung eines Produkts, einer Dienstleistung oder im Optimalfall eines ganzen Geschäftsmodells den Kundennutzen zu steigern. Das Problem dabei ist, dass der Kunde, insbesondere bei den grossen Innovationssprüngen, den Kundenwunsch gar nicht formulieren kann. Denn Kunden stehen technologischen Änderungen sehr oft kritisch gegenüber.

Das bekannte Bonmot von Henry Ford beschreibt das Dilemma: Hätte man die potenziellen Ford-Kunden bezüglich ihrer Wünsche zur zukünftigen Fortbewegung gefragt, hätten diese sich schnellere Pferde gewünscht. Es bleibt also dem Unternehmen überlassen, das disruptive Potenzial zu erkennen und zu entscheiden, ob eine Innovation das Potenzial eines «Game Changer» hat. Als Beispiel sei hier die viel zitierte Kodakgeschichte zitiert. Kodak hat – gestützt auf Kundenfeed­backs – das Potenzial der Digitalphotografie nicht genutzt und ist untergegangen. Oft wird behauptet, Kodak habe das Potenzial nicht einmal erahnt und sei blind in den Untergang getaumelt. So einfach ist es aber nicht. Bereits 1975 hat Kodak einen ersten Prototyp für eine Digitalkamera vorgestellt, diesen dann aber in der Asservatenkammer verschwinden lassen.

KMU im Vorteil

Ein bestehendes Geschäftsmodell aufzugeben, das Tausenden von Mitarbeitern Lohn und Brot offeriert, ist schwer zu bewerkstelligen. Kodak hat nicht nur auf seine treuen Kunden gehört, sondern auch viele Menschen beschäftigt, die die analoge Fotographie immer und immer wieder evolutionär innoviert haben. Die digitale Bildverarbeitung stellte Anforderungen an Know-how und Kompetenzen, die nicht von Kodaks Analog-Experten zu erfüllen gewesen wären.

Vor einem ähnlichen Problem stehen die Automobilbauer. Ein Ingenieur, der die Technik der Verbrennungsmotoren beherrscht, ist selten zugleich Experte für Elektrodynamik. Ob der Newcomer Tesla langfristig das Rennen machen wird oder die «alten Platzhirsche», wird sich daran entscheiden, ob die etablierten Autobauer erkennen, dass ihr Geschäftsmodell in einem zerstörerischen Wandel begriffen ist. Die Vorherrschaft in der Automobilbranche ist noch nicht entschieden. Das liegt auch daran, dass Tesla im Rahmen der Elektromobilität seinen Beitrag zur Steigerung und Demokratisierung des Kundennutzens noch nicht klarmachen konnte, es fehlt also das mit dem Produkt verknüpfte, revolutionär neue Geschäftsmodell.

Grossunternehmen – vielleicht aufgeschreckt von Kodaks oder auch Nokias Schicksal – beschäftigen sich seit Jahren mit den Chancen und Herausforderungen der disruptiven Folgen der Digitalisierung, während KMU der Entwicklung hinterherhinken. Dabei haben gerade Grossunternehmen, die einst ihrerseits mit einer radikal neuen Innovation ins Geschäft eingestiegen und durch die Jahre des Erfolgs zu beachtlicher Grösse angewachsen sind, grosse Probleme, ihr Geschäftsmodell radikal infrage zu stellen. Das hängt – wie schon beschrieben – auch mit deren Verantwortung für die bestehenden Arbeitsplätze zusammen.

KMU haben hier weniger zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Sie können durch die geringere Anzahl an Mitarbeitenden diese leichter auf dem Weg des Wandels mitnehmen. Die Vorbildfunktion der KMU-Entscheider hat in kleinen Unternehmen eine höhere Durchschlagskraft. Der direkte Kontakt zwischen den KMU-Führungskräften und Mitarbeitenden eröffnet die Chance, das Unternehmen als Ganzes auf die disruptive Reise zu nehmen. Zudem zeichnet sich ab, dass viele technologische Fortschritte besonders für KMU nützlich sein könnten. Hier sei beispielweise der 3-D-Drucker erwähnt. Diese Technologie wird es kleineren Unternehmen ermöglichen, hochspezifische Produktbedürfnisse im Hochlohnland Schweiz in kleinen Mengen selbst zu produzieren und zeitnah auszuliefern. Was bei diesem Beispiel natürlich fehlt, ist das korrespondierende Geschäftsmodell. Doch klar ist, Schweizer KMU sind in einer guten Ausgangsposition, um disruptiv innovativ zu sein.

Am Anfang steht ein Kulturwandel

Disruption kann nicht verordnet, nicht einfach per Mail an Tausende Mitarbeitende kommuniziert, sondern nur (vor)gelebt werden. Dazu gehört das Ausprobieren, Lernen, aber auch Scheitern und dass sich KMU-Führer und Mitarbeiter zweite und dritte Chancen geben. Disruption bedeutet, sich noch mehr als bisher aus der Komfortzone zu bewegen. Disruptive Innovation zu leben, beinhaltet eine kulturelle Evolution, vielleicht sogar Revolution. Was könnte ein erster Schritt sein?

Neugierigen Naturen offeriert die lehr- und lernbare Methode des «Design Thinking» eine Möglichkeit, sich mit der disruptiven Innovation zu beschäftigen, und lässt diese durchaus wahrscheinlicher werden. Letztlich liegt die Chance in der Disruption auch darin, sich bewusst zu machen, dass jedes noch so erfolgreiche Unternehmen eines Tages einer disruptiven, existenzbedrohenden Re­volution gegenüberstehen wird. Periodisch die Dinge – vorrangig das KMU-Geschäftsmodell – kreativ infrage zu stellen, scheint eine gute Vorbereitung auf diesen Tag.

Prof. Dr. Claus Schreier ist Dozent für Interkulturelles Management an der Mahidol University in Bangkok / Thailand und an der Hochschule Luzern – Wirtschaft. Als Consultant berät und unterstützt er KMU bei deren Internationalisierung.

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