Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Das Wissen, das in der Luft liegt

Das Experiment Homeoffice kommt in seine entscheidende Runde. Werden Standortfragen künftig an Bedeutung verlieren oder gewinnen?
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Die Regionalökonomie fragt sich, warum bestimmte Unternehmen sich hier und nicht dort ansiedeln oder warum in gewissen Regionen Unternehmen einer bestimmten Branche gehäuft anzutreffen sind. Der Faktor Wissen spielt bei den Erklärungen für Ansiedelungsentscheide und die räumliche Entwicklung von Industrien eine zentrale Rolle. 

«Die Geheimnisse der Industrie liegen in der Luft»

Beim Konzept der Branchencluster, das der Harvard-Professor Michael E. Porter mit seinem sogenannten Diamant-Modell bekannt gemacht hat, sind lokal auftretende Wissensflüsse ein wesentlicher Erklärungsbaustein. Prominente Beispiele von Clustern hat die Schweiz rund um Pharma in Basel, Uhren im Jurabogen oder Finanzdienstleistungen in Zürich. Porter hat an zahlreichen derartigen Beispielen aufgezeigt, wie branchenverwandte Unternehmen von ihrer gegenseitigen, geografischen Nähe profitieren. In Porters Diamant-Modell aus dem Jahr 1990 geht es nicht zuletzt auch um den informellen, sich oft zufällig fügenden Wissensaustausch, der durch eine physische Nähe begünstigt wird. Alfred Marshall schrieb dazu bereits hundert Jahre vor Porter, also um 1890, Folgendes: «Wenn eine Industrie auf diese Weise einen Ort für sich gewählt hat, ist es wahrscheinlich, dass sie dort lange bleibt: So gross sind die Vorteile, die Menschen, die dem gleichen Handwerk nachgehen, aus der nahen Nachbarschaft zueinander erhalten. Die Geheimnisse des Gewerbes sind keine Geheimnisse; sondern sie liegen gleichsam in der Luft, und Kinder lernen viele dieser Geheimnisse unbewusst.»

Die Distanzen sind noch nicht tot

Die Bedeutung von Wissen, das an einem Ort scheinbar in der Luft zu liegen scheint, ist bis zuletzt nicht aus der regio­nalökonomischen Debatte verschwunden. Etwas pointiert ausgedrückt gibt es in dieser Debatte zwei Lager: Die eine Seite glaubt an einen schleichenden Tod der Distanz: Durch die digitale Kommunikation würde gemäss diesem ersten Lager die physische Nähe für den Wissensaustausch an Bedeutung verlieren. Ja, bald würde es bei der Suche nach Wissen völlig irrelevant, wo man sei, und damit wäre dann sozusagen die ganze Welt am gleichen Ort, solange es überall einen vernünftigen Internetanschluss habe.Das Lager mit der zweiten Meinung verneint nicht, dass die digitale Kommunikation immer bessere Möglichkeiten bietet. Lager Nummer zwei sieht aber im direkten, persönlichen Wissensaustausch eine Qualität, die irgendwie nicht so recht durch den digitalen Äther hindurchschlüpfen will. Dabei bleibt es sprichwörtlich schwer zu fassen, was diese Qualität ausmacht. Die Forschenden sprechen von implizitem Wissen oder von nicht kodifizierbaren Informationen, auf Englisch auch von «Tacit Knowledge» oder vom «Local Buzz». Das Wissen, das eben in der Luft zu liegen scheint, sei in der Wissensökonomie von heute noch viel wichtiger geworden als früher zu Marshalls Zeiten oder zum Ende des letzten Jahrhunderts, als Porter die Treiber von Clustern umschrieb. Daher schrumpfe die Welt nicht zu einem einzigen, uniformen Ort, sondern es würden sich ganz im Gegenteil die Orte mit viel entscheidendem Wissen «in der Luft» von anderen abheben.

In Zug etwa entsteht rund um verschiedene Blockchain-Dienstleistungen ein neues Cluster namens Crypto-Valley. Wer in der Blockchain-Branche arbeitet,  dürfte zum digitalen Informationsaustausch gewiss eine hohe Affinität mitbringen. Und trotzdem scheinen die Unternehmen aus dieser Branche die gegenseitige geografische Nähe zu suchen. Sei es in Zug und Zürich, in New York City oder im Silicon Valley. Solche und andere Beispiele legen nahe, dass die Distanzen noch nicht tot sind und der «Local Buzz» einer Branche im Umkreis einer Pendlerdistanz gesucht wird, dies selbst bei di­gitalaffinen Leuten. Was selbstverständlich nicht ausschliesst, dass erfolgreiche Tech-Unternehmen unabhängig vom Standort weltweit nach Wissen Ausschau halten (müssen), und dies massgebend (auch) über die digitalen Kanäle.

Der Faktor Corona

Wir können es zwar kaum mehr hören – und doch kommt nun der Faktor Corona ins Spiel. Potenziell Corona-verseuchtes Aerosol in der Luft hat viele Büros leer gefegt. Kommunikationen fanden plötzlich völlig digital und ortsunabhängig statt. Während vor Kurzem teilweise noch viel Skepsis gegenüber dem Arbeiten ausserhalb der Büroumgebung geherrscht hatte, tönt manch ein Zwischenfazit viel versöhnlicher. Das unfreiwillige Experiment zeigt: Homeoffice funktioniert. Die neue Frage lautet nun, wie es mit dem Homeoffice als Alternative zum Büro  weitergehen mag. Nachdem die Vorteile des örtlich und zunehmend auch zeitlich flexiblen Arbeitens erlebt wurden, scheint die Rückkehr zum alten Zustand unwahrscheinlich. Wenn dann auch noch digitale Kommunikationstools und ihre Anwenderinnen und Anwender zunehmend clever werden, könnte die These wieder Aufwind gewinnen, dass Distanzen und damit der Ort der Arbeit eben doch unwichtiger werden. (Siehe dazu den Beitrag von Ingo Stolz in der Ausgabe 3/2021: Das Internationale wird virtuell.) Was für Weitstreckenpendler vielleicht verlockend klingt, sollte für Angestellte im Hochlohnland Schweiz allerdings auch mit Sorge beobachtet werden. Was auf Dauer im Homeoffice machbar ist, könnte ja vielleicht auch in Österreich, Polen oder Indien erledigt werden.

Aber frei nach Marshall: In der Büroluft schwebt eben nicht nur eine Ansteckungsgefahr, sondern auch Wissen. Das Wissen überträgt sich unsichtbar in der Kaffeepause, im Treppenhaus, über den guten alten Latrinenweg. Hocheffizient, ungefiltert, irgendwie nicht kodifiziert. Das physische Aufeinandertreffen hat nicht nur in Clustern, sondern auch am Arbeitsplatz eine besondere, allerdings schwer zu erklärende Qualität. Auch dies soll das neunormale Arbeiten beeinflussen. Gut, wenn also auch wieder Büroluft geschnuppert wird, wenn an Apéros Smalltalk ertönt oder auf den Golf-, Tennis- oder Fussballplätzen in diesem Land bei zufälligen Begegnungen zufällige und damit kreative Gespräche stattfinden. Nicht nur Kinder, auch Erwachsene lernen unbewusst voneinander. Das kann in der Wissensökonomie matchentscheidend sein. 

Es braucht eine Raumkompetenz

Während der informelle Austausch vor Ort also seine Vorteile hat, haben im Lockdown viele auch die Chancen des Vir­tuellen schätzen gelernt. Elektronisch  lässt es sich manchmal agiler oder gezielter austauschen. Rückläufiger Berufsverkehr hilft dem Klima und bricht die teuren Pendlerspitzen. Es sollte daher zur abgewogenen Mischung kommen, wann wo wie gearbeitet wird. Die mobilen Arbeitskräfte von morgen müssen abwägen können, wann sie die Büroluft brauchen und wann sie bewusst zu Hause, in einem Coworking oder sonst wo arbeiten. Es braucht die sogenannte Raumkompetenz, also die Entscheidungsfähigkeit, wo was am besten zu erreichen ist. Dass die Mehrheit diese reifen Entscheide verantwortungsvoll selbst treffen kann, ist eine wichtige Lehre aus der Pandemie. Digitale Kanäle ja, aber auch das Wissen in der Luft: Beides in der ausgewogenen Mischung dürfte in die Zukunft weisen. Wie sich dies einpendelt, wird damit zu einer Nagelprobe bei der Frage, wie relevant Standorte noch sind.