Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Das Homeoffice: ein Gefangenendilemma?

Als Modell aus der Spieltheorie zeigt das «Gefangenendilemma» den Kern von zahlreichen sozialen Problemen. Ein solches Dilemma zeigt sich in der Handhabung des Homeoffice.
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Das Gefangenendilemma hat seinen Namen von der Geschichte, mit der es bereits in den 1950er Jahren illustriert wurde. Zwei Ganoven stehen unter schwerem Verdacht und werden vom Sheriff in zwei getrennten Gefängniszellen vernommen. Jeder der beiden Ga­noven steht vor der Wahl, ob er ein Geständnis für die tatsächlich begangene Tat abliefern soll oder nicht. Zu schweigen wäre für die beiden Ganoven je die bessere Wahl. Sie kämen in diesem Fall nämlich nur wegen kleinerer Straftaten für ledigflich ein Jahr ins Gefängnis. Wenn sie sich jedoch gegenseitig beschuldigen und so den Verdacht bestä­tigen, kommen die beiden zwei Jahre ins Gefängnis. Sie sollten daher eigentlich im gegenseitigen Interesse besser schweigen. Allerdings ist das Zugeben der Tat mit einer speziellen Kronzeugenregelung verbunden: Wenn der eine Ganove den anderen verpfeift, dann kommt der Verräter ohne Strafe davon, während der Verpfiffene ganze drei Jahre ins
Gefängnis kommt. Damit geraten die beiden sehr in Versuchung, denn es ist für jeden jeweils besser, den anderen zu verpfeifen, unabhängig davon, was der andere tut. Die Kronzeugenregelung wirkt, wenn sich die beiden nicht absprechen können und sie nur auf sich schauen. Dann werden sie sich gegenseitig beschuldigen und kommen für je zwei Jahre ins Gefängnis, obwohl sie mit einem Jahr davongekommen wären, wenn sie doch nur den Mund gehalten hätten.

Das Gefangenendilemma ist als Matrix zu verstehen, in der die Optionen des Gefangenen A in den beiden Spalten und die Optionen von B in den beiden Zeilen stehen. Es ergeben sich die vier Szenarien mit den entsprechenden Strafen respektive «Auszahlungen» in der Sprache der Spieltheorie.

Weit verbreitetes Anreizmuster

Das Gefangenendilemma ist in der Spieltheorie nur eine von vielen möglichen Ausgangslagen. Aber keine andere wurde in den Sozialwissenschaften seit Jahrzehnten derart häufig zitiert. Ein Anwendungsbeispiel sind etwa zwei Länder, die sich misstrauen und sich in einem Wettrüsten befinden. Das Anreizmuster des Gefangendilemmas gibt es auch bei mehr als zwei Akteuren, zum Beispiel bei Umweltproblemen. Am liebsten wäre es jedem Land, wenn alle anderen Länder möglichst wenig Treibhausgase ausstos­sen, ohne aber sich selbst einschränken zu müssen. Das individuell schlechteste Ergebnis entsteht, wenn man sich einschränkt, aber der Rest der Welt wie gewohnt Treibhausgase emittiert. Aber es wäre trotzdem für alle besser, wenn sich alle einschränken und die Klimakrise ­eindämmen würden.

Ebenfalls in einem Gefangenendilemma können zwei konkurrenzierende Firmen stecken. Wenn Firma A die Werbeausgaben erhöht, um auf Kosten von B Marktanteile zu gewinnen, kann B die Werbeausgaben ebenfalls erhöhen, womit am Ende die Marktanteile gleich bleiben. Es wäre allerdings für beide besser, keine zusätzlichen Werbekosten tragen zu müssen. Doch aus Angst vor dem Verlust der Marktanteile wird das optimale Szenario verfehlt.

Ein innerbetriebliches Anwendungsbeispiel ist das Homeoffice. Angenommen, ein Team bestünde nur aus den zwei Mitarbeitenden A und B (die Logik des Dilemmas bleibt bei mehr Teammitgliedern dieselbe). A und B schätzen es grund­sätzlich sehr, wenn sie sich zusammen vor Ort treffen und eine direkte, spontane und persönliche Kommunikation im Büro pflegen können. Dies erlaubt den Ideenaustausch auch in der Kaffeepause oder beim Mittagessen. A und B möchten sich also normalerweise werktags im Büro treffen. Allerdings haben A und B auch verschiedene praktische Gründe, warum sie ihre Arbeitstage manchmal zu Hause verbringen möchten. Die beste Welt für A ist jene, in der sie nach Belieben zu Hause arbeiten kann, aber auch tageweise im Büro erscheinen kann und dann dort jeweils den Austausch mit B geniesst. Das Schlechteste für A ist umgekehrt, wenn sie den Weg ins Büro auf sich nimmt und dann dort alleine ist, weil B aus irgendeinem Grunde zu Hause blieb. Für B ist es gleich, einfach umgekehrt. Die Anreizstruktur ist analog zu den beiden Ganoven im ursprünglichen Gefangenendilemma. Das heisst, egal was der oder die andere tut, es gibt Gründe, sich den Arbeitsweg zu sparen. Die «Kosten» für das Fernbleiben werden aber vor allem vom anderen getragen. Im Endeffekt kann es dazu kommen, dass sich A und B kaum im Büro treffen, obschon sie sich dies eigentlich wünschen würden.

Die direkteste Lösung für Gefangenendilemmata liegt darin, dass A und B direkt kommunizieren und sich verbindlich auf die kooperative Option einigen. Im Beispiel hier wären dies etwa Absprachen über bestimmte Wochentage oder Ähnliches. Sowohl die Kommunikation als auch die Verbindlichkeit sind aber nicht immer einfach herzustellen, insbesondere wenn es zahlreiche Akteure gibt. Eine andere Lösung besteht im Aufstellen von Regeln. So kann die Pflicht für eine Büropräsenz womöglich von A und B sogar begrüsst werden, weil sie das schlechtere Ergebnis, dass man sich gar nicht mehr trifft, verhindert. Vorausgesetzt natürlich, die tatsächlichen Präferenzen entsprechen der Struktur des Gefangenendilemmas.

Viele Gesetze und Regeln können grundsätzlich so interpretiert werden, dass sie eine Kooperation unter allen Akteuren ermöglichen, auch wenn einzelne im Einzelfall gerne davon abweichen würden. Die Kooperation aller ist aber normalerweise auch für Einzelne besser als das gleichzeitig unkooperative Verhalten aller. Ein weiterer Lösungsansatz für Gefangenendilemmata ist die Veränderung der Ergebnisse bei den verschiedenen Wahlmöglichkeiten. Im Beispiel mit dem Homeoffice würde dies etwa bedeuten, dass die Anwesenheit im Büro mit zusätzlichen Anreizen attraktiver wird. Wenn das Arbeiten im Büro auch ohne den anderen Spass macht, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich dennoch beide vor Ort begegnen werden.

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