Editorial

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Die «neue Normalität»

Wer die aktuelle Krisensituation als «neue Normalität» betrachtet, hat offenbar grobe Verständnislücken. Dabei würde schon ein kurzer Blick auf einige Wirtschaftsdaten genügen, um den Gap zwischen politischer Rhetorik und der Realität zu schliessen.

Der österreichische Kanzler und der deutsche Vize legten den unseligen Begriff vor. Simonetta Sommaruga reihte sich ein in das Orchester politischer Rhetorik. Als die Bundespräsidentin Anfang Juni weitgehende Locke­rungen der Corona-Massnahmen verkündete, kennzeichnete sie die nun redu­zierten Einschränkungen als «neue Normalität», auf die man sich einstellen müsse. «Normalität», so klärt uns Wikipedia auf, «bezeichnet in der Soziologie das Selbstverständ­liche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen.» 

Selbstverständlich ist es allerdings nicht, dass einer der schnellsten und tiefsten Einbrüche der Weltwirtschaft zu verzeichnen ist. Der von einer Expertengruppe des Bundes für dieses Jahr prognostizierte Rückgang des Bruttoinlandsproduktes von 6,2 Prozent liegt sicher auch jenseits der Normalität, ebenso wie die für das Jahr 2021 erwartete Arbeitslosenquote von 4,1 Prozent. Und wie die Wirtschaftsprüfer von Deloitte mitteilen, mussten bisher 18 Prozent der Selbständigerwerbenden ihren Betrieb schliessen. Bislang, so die Wirtschaftsprüfer, habe die Corona-Krise für 77 Prozent aller Selbständigerwerbenden negative wirtschaftliche Folgen. Vor diesem Hintergrund ist der Hinweis auf eine «neue Normalität» mehr als nur unangebracht. Denn es führt in eine falsche Richtung, eine Krisensituation zur Normalität zu erheben. 

Stellen wir also besser fest, dass die aktuelle Lage eine ausserordentliche ist und somit keineswegs als normal zu bezeichnen ist. Für einen Unternehmer spielt es gleichwohl kaum eine Rolle, welche Begrifflichkeit einer Realität anhaftet. Veränderte Rahmenbedingungen, Strategiewechsel, das Anwenden neuer Methoden und Instrumente wie auch das Anpassen von Prozessabläufen gehören zu ihrem Geschäft der Unternehmensführung. Dennoch: Nachdem die digitale Transformation bereits eine Zäsur schuf, scheinen eine vermeintliche Planbarkeit und Sicherheit für viele Unternehmen, so viel lernen wir aus der improvisierten Reaktion auf die Pandemie, endgültig zu erodieren. Unternehmen werden ihren Sensus noch ziel­genauer auf Agilität und Resilienz schärfen müssen. Das wäre dann im besten Fall eine «neue Normalität».

PS: Mehr zum Thema Unternehmensführung in Krisenzeiten lesen Sie in der Ausgabe 07-08/2020.

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