Digitalisierung & Transformation

Online-Coaching

Nicht besser oder schlechter, aber anders

Die Interventionsmöglichkeiten von Coaches haben sich durch die höhere Akzeptanz des Online-Coachings auch seitens ihrer Klienten erhöht; zudem wuchs ihr Markt. Hierfür mussten aber auch die Coaches Lernprozesse durchlaufen.
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«Coaching setzt ein persönliches Treffen zwischen dem Coach und dem Coachee, also der zu coachenden Person, voraus.» Dieser Glaubenssatz prägte lange Zeit das Denken der meisten Coaching-Anbieter in der DACH-Region. Und dies ­obwohl in weiten Teilen der Welt schon vor dem Ausbruch der Corona-Pande­-mie das Coachen auf Distanz – also zum ­Beispiel per Telefon oder Video-Call – geübte Praxis war.

Spätzünder DACH-Region 

So zum Beispiel in den USA, in Kanada und Australien, wo die grossen Entfernungen ein Präsenz-Coaching oft erschweren. Ähnliches gilt für Schweden, Grossbritannien und die Niederlande. Auch dort genossen das Telefon- und das Online-Coaching schon vor Ausbruch der Pandemie eine deutlich höhere Akzeptanz und hatten eine grössere Verbreitung als im deutschsprachigen Raum. 

So nutzten denn auch laut einer von der International Coaching Federation (ICF) erstellten Studie, für die über 15 000 Coaches weltweit befragt wurden, 2016 bereits zwei Drittel der Coaches auch eine Audio-/Video-Plattform zum Erbringen ihrer Leistung. Und dem Coaching-Bericht 2017 der Sherpa Coaching LLC, Ohio (USA), zufolge wurden zu diesem Zeitpunkt bereits 21 Prozent aller Coaching-Leistungen virtuell erbracht.

Diese Aussage gilt es zwar mit Vorsicht zu geniessen, weil die Sherpa Coaching LLC ein weltweit agierender Online-Coaching-Anbieter ist. Zweifellos stiess das Coachen auf Distanz aber in anderen ­Teilen der Welt auf deutlich geringere Vorbehalte seitens der Anbieter als in der DACH-Region. 

Begründet wurden die Vorbehalte meist damit, dass ein effektives Coaching eine persönliche, von Vertrauen geprägte Beziehung zwischen den am Coaching-Prozess beteiligten Personen voraussetze – unter anderem damit der Coachee offen über seine Schwächen und Probleme, Ängste und Befürchtungen spricht. Der Aufbau einer solchen Beziehung setze jedoch, so das allgemeine Credo, eine ganzheitliche Wahrnehmung des jeweiligen Gegenübers voraus, und diese sei bei ­einem Telefon- oder Online-Coaching nicht möglich. 

Meist keine Digital Natives

Hinter dieser Annahme verbirgt sich ein Coachingverständnis, das grundsätzlich von einem in der Person beziehungsweise Persönlichkeit des Coachees verankerten Defizit ausgeht, das es sozu­sagen the­rapeutisch zu bearbeiten gilt, damit sich zum Beispiel Blockaden lösen. Bei diesem Coachingverständnis wird Coaching primär als ein Reparatur- und nicht als ein Entwicklungsinstrument gesehen. 

Ein solches Coachingverständnis mag zwar im B2C-Bereich, wenn es um das ­Lösen manifester persönlicher Probleme geht, zumindest partiell berechtigt sein, inwieweit dies aber im B2B-Bereich der Fall ist, das war auch schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie fraglich – unter anderem, weil es beim Business-Coaching oft schlicht darum geht, andere Menschen beim Lösen für sie neuer Aufgaben oder Herausforderungen im Beruf zu unterstützen und zu begleiten.

Dass der Glaubenssatz «Coaching setzt ein persönliches Treffen zwischen Coach und Coachee voraus» in der DACH-Region so lange kaum hinterfragt wurde, lag auch daran, dass ausser den meisten Coach-Ausbildern auch das Gros der etablierten Coaches keine Digital Natives waren. Entsprechend gering war neben ihrer Digitalkompetenz oft ihre Affinität zur modernen Informations- und Kommunikationstechnik. Auch deshalb präferierten sie das Präsenz-Coaching sogar noch in Zeiten, als

  • das Smartphone bereits ein alltäglicher Wegbegleiter nicht nur der jungen Menschen war und
  • zumindest im B2B-Bereich die meisten Coachees bereits Digital Natives waren und diese zunehmend auch Entscheider-Positionen in den Unternehmen ­innehatten.

Das war etwa ab 2010 der Fall. Dies führte nicht selten zur anachronistischen Situation, dass die Coachees privat zwar schon ganz selbstverständlich sogenannte Coaching-Apps beispielsweise zum Sprachen-lernen, Joggen oder Entspannen nutzten, im Business-Bereich das Credo aber weiterhin lautete: «Ein Coaching setzt ein persönliches Treffen von Coach und Coachee voraus.»

Geplatztes Businessmodell

Nicht wenige etablierte Coaches und Coach-Ausbilder tappten aufgrund ihrer persönlichen Biographie und Prägung in eine Falle, die der US-amerikanische Wissenschaftler Clayton M. Christensen das Innovator’s Dilemma nennt: Sie wussten zwar, dass sich auch ihr Markt unter anderem aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung mittel- bis langfristig grundlegend verändern würde, doch sie wollten ihre gewohnten und noch lukrativen Geschäftsmodelle nicht selbst zerstören. 

Also präsentierten sie im Kundenkontakt weiterhin das Präsenz-Coaching als das Nonplusultra, obwohl das Online-Coachen bzw. Nutzen der modernen In­formations- und Kommunikationstechnik für das Gestalten von Coaching-Prozessen für ihre Klienten auch zahlreiche ­Vorzüge hat (siehe Box).

Die meisten Coaches hinterfragten ihre tradierten Geschäftsmodelle erst, als nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie Präsenz-Coachings nicht mehr oder nur noch bedingt möglich waren. Das Wegbrechen ihrer bisherigen Einnahmequellen ver­anlasste viele dazu, sich sozusagen über Nacht das erforderliche technische Equipment zuzulegen, um künftig auch Online-Coachings anzubieten. Dabei wurde das Online-Coachen von ihnen jedoch häufig noch als Notlösung für das nicht mögliche Präsenz-Coaching gesehen.

Erst allmählich dämmerte ihnen, dass das Coachen auf Distanz eine längst über­fällige Bereicherung ihres Werkzeug-­Koffers ­darstellt – auch aufgrund der ­positiven ­Resonanz ihrer Kunden. Diese meldeten ihnen nicht selten zurück, dass Online-Coachings leichter in ihren Alltag integrierbar seien; ausserdem, dass diese eine ebenso hohe Wirkung wie Präsenz-Coachings beziehungsweise Face-to-face-Coachings hätten. 

Viele Lernprozesse durchlaufen

Inzwischen haben viele Coaches, die bis zum Pandemie-Ausbruch ausschliesslich Präsenz-Coachings durchführten, eine gewisse Routine im Online-Coachen entwickelt. Das heisst, sie eigneten sich nicht selten im Trial-and-Error-Verfahren die hierfür nötige Digitalkompetenz an und die nötige Erfahrung in der Nutzung der erforderlichen Informations- und Kommunikationstechnik. Dabei sammelten sie in einem oft ernüchternden Lernprozess auch die Erfahrung, dass beim Online-Coachen aufgrund der anderen Rahmenbedingungen auch ein teils anderes Vorgehen als beim Präsenz-­Coaching nötig ist. So mussten nicht wenige zum Beispiel bezogen auf den Aufbau und die Gestaltung der Coach-Klienten-Beziehung beim Online-Coachen erst einen Lernprozess durchlaufen, bevor sie unter anderem zu folgenden Einsichten kamen. 

  • Vertrauen braucht Sichtbarkeit: Als Coach muss man sich über die möglichen Auswirkungen der eigenen begrenzten Sichtbarkeit für die Klienten bewusst sein und diese gegebenenfalls ansprechen. Ausserdem sollte man ihr durch eine entsprechende Positionierung vor der Kamera und körpersprachliche Signale – wie die Hände zeigen – entgegenwirken.
  • Präsenz ist nicht gleich Telepräsenz: Als Coach erscheint man auf dem Bildschirm des beziehungsweise der Coachees klein. Ausserdem hat man beschränkte Bewegungsmöglichkeiten und kann vom Gegenüber jederzeit «ausgeblendet» werden. Deshalb sollte man als Coach bewusst medienadäquate Wege suchen, um die eigene Präsenz für den Klienten spür- und erfahrbar zu machen.

Vielen Coaches wurde zudem erst mit der Zeit bewusst, dass

  • man beim Online-Coachen gleich wie beim Präsenz-Coaching geeignete Tools braucht, um mit den Coachees zum ­Beispiel komplexe Sachverhalte zu ­analysieren, ihnen (Wirk-)Zusammenhänge aufzuzeigen oder ihr Feedback ein­zuholen und 
  • deren professioneller Einsatz einer ­gewissen Übung und Routine bedarf.

Auch diesbezüglich durchliefen viele Coaches einen Lernprozess.

Sowohl-als-auch-Kategorien

Die wichtigste Erkenntnis vieler Coaches in den zurückliegenden zwei Jahren war jedoch: Beim Thema künftige Gestaltung von Coaching-Prozessen geht es – anders als anfangs oft befürchtet – nicht um ein «Entweder-oder», sondern ein «Sowohl-als-auch». Das heisst, die verschiedenen Coachingformen vom Präsenz-Coaching über das Online- und das Telefon-Coaching bis hin zum E-Mail-Coaching und sogar mittels Coaching-Apps werden ­themen- und teilnehmerabhängig sowie ­situations- und bedarfsabhängig so kombiniert, dass sie 

  • aus Klientensicht die beste Input-Output-Relation erzielen sowie 
  • den Bedürfnisses des Coachees ent­sprechen. 

Solche hybriden Coaching-Formate boomen aktuell insbesondere im B2B-Bereich, da sie dem Bedarf der Kunden ­entsprechen. So finden zum Beispiel bei komplexen Coachingthemen, die auch eine Einstellungs- und Verhaltensänderung der Coachees erfordern, die ersten Treffen oft als Präsenzcoaching statt, um eine von Vertrauen geprägte persönliche Beziehung aufzubauen. Steht diese jedoch, finden die Coachings zunehmend virtuell statt, um Zeit und Geld zu sparen und diese leichter in den Arbeitsalltag ­integrieren zu können.

Dies muss jedoch nicht so sein. Nicht ­selten stellen Telefon- und Online-Coachings auch den Auftakt zu längerfristigen Coaching-Prozessen dar. Die Praxis zeigt nämlich: Insbesondere wenn Per­sonen ein akutes Problem haben, für das sie aus ihrer Warte rasch zumindest eine vorläufige Lösung brauchen, präferieren sie es oft, zunächst online mit einem Coach zu konferieren statt unmittelbar ein persönliches Treffen zu vereinbaren. 

Ähnliches gilt für schambesetzte Themen. Bei ihnen fällt es Menschen oft leichter, sich zunächst per Telefon oder online einem Coach zu öffnen als bei einem per­sönlichen Treffen – auch weil das Coaching dann in einer für sie gewohnten Umgebung stattfindet, in der sie sich sicher fühlen. ­Zudem haben sie dann die «Freiheit», das Coaching jederzeit abzubrechen.

Online-Coaching als Auftakt 

Untersuchungen an der Universität Bern zeigen denn auch, dass zum Beispiel drei von zehn Personen, die wegen psychischer Probleme einen Therapeuten kontaktieren, dies nicht täten, wenn ihnen nicht zunächst die Möglichkeit geboten würde, diese zunächst online um Rat zu fragen. Bei fast einem Drittel von ihnen stellt somit die Online-Beratung den Einstieg in eine «klassische Therapie» dar. 

Dasselbe Phänomen lässt sich im Coaching-Bereich konstatieren. Gelingt es Coaches, online potenziellen Coachees das Gefühl zu vermitteln: «Diese Person kann mir vermutlich helfen», lassen sie sich oft auf umfangreichere Coachingprozesse ein. Wie diese dann gestaltet sind und welche Rolle in ihnen das Präsenz-Coaching und das Coachen auf ­Distanz spielen, ist eine nachgeordnete Frage. Das heisst, dadurch dass die Coaches mehr Kanäle für ihre Coachings nutzen, erhöht sich ihr Interventions-Re­pertoire und können sie beim Gestalten der Coachings gezielter auf die Bedürfnisse ihrer Klienten eingehen. Zudem ­vergrössert sich ihr Markt – unter anderem, weil das Coaching häufiger ein in­tegraler Bestandteil der Personal- und ­Organisationsentwicklungsmassnahmen in den Unternehmen wird.

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