Alleine die fortschreitende Digitalisierung von Prozessen und Produkten in nahezu allen Branchen vermag für viele von uns schon disruptiv sein. Doch stimmt das wirklich? Ist die Digitalisierung per se disruptiv? Bei genauer Betrachtung wird die Mogelpackung schnell entlarvt. Digitalisierung bedeutet nämlich zunächst einmal, das bestehende Geschäft einfach digital abzuwickeln. Im Klartext: «Wir machen das, was wir schon immer machen – nur eben digital.» Nicht überall, wo digital draufsteht, ist also auch Disruption drin. Um das zu begreifen, müssen wir eine kurze Schleife um das Konzept hinter dem Begriff Disruption drehen.
Das «Konzept» Disruption
Disruption leitet sich von dem englischen Wort «to disrupt» ab und bedeutet etwas «zerstören» oder «unterbrechen». Zerstörung oder, vielleicht etwas milder, Unterbrechung oder Veränderung wirken erstmal unbequem, machen Schluss mit Gewohnheiten und können gar Angst einflössen. Bestehendes wird von innovativer Erneuerung abgelöst und teilweise sogar vollständig verdrängt. Ganz anders der Begriff Digitalisierung. Damit verbinden wir im besten Sinne des Wortes Innovation, Fortschritt und Aufbruch in goldene Zeiten. Und was ist dann digitale Disruption?
Als ein oft strapaziertes Beispiel für die digitale Disruption wird gerne der Niedergang der Traditionsmarke Kodak aus dem Hut gezaubert. Vom bedeutenden Produzenten fotografischer Ausrüstung auf direktem Weg in die Pleite. Möglich machte das der Siegeszug der Digitalkamera, denn selbst orthodoxe Anhänger der analogen Fotografie konnten die Vorteile der Digitalfotografie nicht dauerhaft ignorieren. Die zunehmende Verbreitung der Smartphones mit integrierter Digitalkamera besorgte den Rest. Alle Versuche des amerikanischen Unternehmens, den Anschluss erneut zu bekommen, scheiterten und endeten schliesslich 2012 mit der Insolvenz und dem Verkauf der Fotosparte. Heute hat Kodak im Geschäft mit der Fotografie keine Bedeutung mehr. Das eigentlich Tragische an diesem Beispiel ist, dass Kodak die Digitalkamera selbst erfunden hat.
Vor diesem Schreckgespenst warnte schon der erst kürzlich verstorbene Harvard-Professor Clayton Christensen, der Urheber des Begriffs «disruptive Innovation». Clayton erkannte schon früh, dass sich die etablierten Marktakteure lieber im Schwarm bewegen und im bekannten Gewässer tummeln, als den weiten Ozean erkunden. Sprich: Sie setzen auf erhaltende Innovation für ihre Lieblingskunden. Das meint nichts anderes, als dass sich erfolgreiche Unternehmen auf ihre lukrativen Kunden und Geschäftsfelder konzentrieren und für diese bestehende Produkte immer weiter verbessern. Riskanten neuen Entwicklungen geht man dann lieber aus dem Weg.
Die Blue-Ocean-Strategie
Doch wer immer in einem Heringsstrom mitschwimmt, hat wenig Chancen, aus dem Schwarm auszuscheren und sichtbar zu werden. Clevere Heringe wagen es gerade in digitalen Zeiten, mit Chuzpe, frischen Ideen und kreativer Schaffenslust in sogenannte Blue Oceans (unbekannte Märkte) vorzustossen. Die gleichnamige Strategie beschreibt einen plausiblen und nachvollziehbaren Weg, wie Unternehmen mithilfe radikaler Innovationen selbst einen neuen Markt aus dem Boden stampfen, eine neue Nachfrage nach dessen digitalen Produkten generieren und damit Rentabilität und Wachstum schaffen.
Ihre Begründer, Chan Kim und Renée Mauborgne, erkannten, dass es weit prospektiver ist, sich von einem etablierten, engen und durch austauschbare Produkte gekennzeichneten Markt zu lösen, bei dem es im Grunde nur um die Aufteilung zwischen bis auf die Zähne bewaffneten Konkurrenten geht. Viel mehr Freiraum geniessen digitale Disruptoren, die ihr Wachstum in einem frischen, jungfräulichen und von Konkurrenten leeren Marktsegment mit neu angeregter Nachfrage suchen, wo keine Haie neben ihnen schwimmen.
Digitale Disruptoren orientieren sich nicht an existierenden Kundenanforderungen oder Märkten. Ihre Nutzenvorteile werden zu Beginn der disruptiven Entwicklung von den meisten Akteuren auch noch nicht als solche angesehen. Aber sie haben das ungeahnte Potenzial, einen neuen Markt zu erschliessen, und werden darüber hinaus von den etablierten Marktplayern radikal unterschätzt. Digitale Disruption bedeutet ausbrechen, umkrempeln, abnabeln oder ablösen. Und ja, manchmal eben auch zerstören. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Revolution und Umbruch ist die Devise. Ein Geschäft wird gänzlich neu gedacht – selbstverständlich digital und kundenorientiert.
Digital und disruptiv
Die heute fortschreitenden digitalen Technologien haben dem neuen Verständnis der Disruption den Weg geebnet und Möglichkeiten erschaffen, wie sie in der analogen Welt kaum denkbar waren. Dabei waren die Nerds in den IT-Abteilungen schon immer auch disruptiv unterwegs. Für sie gehört das Neue, das Andere quasi zur DNA. Die Nerds pflegen ihre eigene Kultur, kümmern sich nicht um die Konventionen und Regeln des Geschäftslebens und werden deshalb schon argwöhnisch betrachtet. Gepaart mit geschäftlichem Erfolg werden sie gar als Bedrohung wahrgenommen. Vor allem, wenn sie in konservative Geschäftsfelder wie beispielsweise die Finanzwelt vordringen und Geschäftsideen und Technologien entwickeln, die geeignet sind, die Bankenwelt auf den Kopf zu stellen, von etablierten Bankern aber kaum verstanden werden. Fintechs, was soll das sein? Das klappt nie! So verwundert es nicht, wenn inzwischen jede scheinbare digitale Innovation auch als digitale Disruption bezeichnet wird. Nicht selten ein Fehlurteil.
So werden beispielsweise der Fahrdienst Uber oder die Vermietungsplattform Airbnb als Leuchttürme disruptiver Digitalisierung betrachtet. Wendet man allerdings Claytons Definition einer disruptiven Innovation streng an, so muss man in beiden Fällen zu einem anderen Urteil kommen. Beide Unternehmen setzten konsequent auf digitale Prozesse und versuchen, etablierte Märkte zu verändern. Sicher, Uber hat im etablierten Taxigewerbe für viel Unruhe gesorgt und in etlichen Ländern neue gesetzliche Regelungen angestossen. Doch setzt Uber nur auf ein bestehendes Geschäftsmodell, erschliesst weder neue Märkte noch neue Kundengruppen. Uber wäre für Clayton eine erhaltende Innovation. Dennoch hat das amerikanische Start-up die Welt der Taxiunternehmen durcheinander und gegen sich aufgebracht. In den meist kleinen Taxiunternehmen herrschte anfangs regelrechte Panik angesichts des milliardenschweren Start-ups aus dem Silicon Valley.