Branchen & Märkte

Wirtschaftskriminalität

«Unternehmen wiegen sich in einer falschen Sicherheit»

Prof. Dr. Christian Hauser, Schweizerisches Institut für Entrepreneurship (SIFE), Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Chur, über Entwicklung und Ursachen der Wirtschafts­kriminalität in der Schweiz und die Fehleinschätzung in Unternehmen bezüglich der Wirksamkeit ihrer Präventionsmassnahmen.
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Gemäss der Staatsanwaltschaft in Zürich ist in den vergangenen Jahren eine deutliche Steigerung der Wirtschaftskriminalität festgestellt worden. Was sind Hauptursachen dieser Entwicklung?

Ein Grund für den beobachteten Anstieg liegt sicher darin, dass in den letzten Jahren das Bewusstsein für das Thema Wirtschaftskriminalität deutlich gestiegen ist. Gewisse Tatbestände, die heute als wirtschaftskriminell eingestuft werden, waren bis vor einigen Jahren noch gar nicht als solche deklariert. Denken sie zum Beispiel an Auslandskorruption. Diese war bis vor 15 Jahren in der Schweiz nicht strafbewehrt. Kaum jemand hat sich daran gestört und Bestechung galt vielfach sogar als notwendig, wenn man in bestimmten Ländern Geschäfte machen wollte. Dies zeigt sich auch in anderen Bereichen. Dass beispielsweise Banken ausländischen Personen bei der Steuerhinterziehung helfen, galt offensichtlich bis vor wenigen Jahren auch als akzeptables Geschäftsgebaren. So gibt es unterschiedliche Delikte oder Handlungsweisen, die heute als inakzeptabel gelten, die aber vor ein paar Jahren noch durchaus üblich waren. Dies sind Beispiele, bei denen man sagen könnte, das Thema ist stärker in den Fokus gerückt, man beschäftigt sich stärker damit und dadurch werden die Fallzahlen erst mal höher. Das muss aber nicht unbedingt bedeuten, dass sich die Leute heute schlechter verhalten als früher. Die Taten gelten aber heute als kriminell und werden strafrechtlich verfolgt.

Also alles halb so schlimm, oder gibt es weitere Gründe?

Ein weiterer Grund, für den es durchaus Indizien gibt, ist, dass in Krisenzeiten umgangssprachlich gesagt, «die Luft dünner wird». Also durch eine Verschärfung des wirtschaftlichen Umfeldes der Wettbewerbsdruck höher wird. Dadurch können sich einige Personen verleitet sehen, mal «Fünfe grad sein zu lassen», damit sie ein Geschäft doch noch machen, auch wenn das nur mithilfe unlauterer Mittel möglich ist. Ein Grund kann auch in den Anreizsystemen gesehen werden, die viele Unternehmen in den letzten Jahren ein­geführt haben. Hierzu zählen beispielsweise stark leistungsorientierte Vergütungs- und Bonussysteme. Um die ambi­tio­nierten Zielvorgaben zu erfüllen und damit den Bonus zu erhalten, können sich einige Personen dazu verleiten lassen, dies auch mit unlauteren Handlungen zu tun. Der erste Interpretationsansatz geht eher davon aus, dass eine stärkere Sensibilisierung stattgefunden hat und so mehr Fälle entdeckt werden, demgegenüber sprechen die beiden letztgenannten Ansätze eher dafür, dass es wirklich zu mehr wirtschaftskriminellen Handlungen kommt.

Wie erklären Sie sich diesen Bewusstseinswechsel?

Ein Grund dafür ist die Wirtschaftskrise ab 2008. Durch diese sind Verhaltensweisen stärker in den Fokus getreten, die bis dahin als akzeptabel galten oder geduldet wurden. Daraufhin hat eine Verschärfung der Wahrnehmung stattgefunden und heute gelten gewisse Verhaltensweisen als nicht mehr akzeptabel. Aber auch gros­se Skandale wie Enron oder WorldCom sowie im Korruptionsbereich Siemens führen häufig zu einem Para­dig­menwechsel. Das war schon in den 1970er-­Jahren so, als der Fall Lockheed in den USA eine erste Welle von staatlichen Massnahmen im Bereich der Bekämpfung der Auslandskorruption auslöste.

Laut einer Studie von KPMG zur Wirtschaftskriminalität 2013 in Deutschland, Österreich und der Schweiz bewerten 81 Prozent der befragten Unternehmen ihre Präventionsmassnahmen als ausreichend und sehen für ihr Unter­nehmen nur ein geringes Risiko, von der Wirtschaftskriminalität betroffen zu sein. Die Studie hat jedoch gezeigt, dass jedes zweite Grossunternehmen und auch jedes fünfte KMU in den letzten zwei Jahren von Wirtschaftskriminalität betroffen waren. Können Sie diesen Trend aus eigenen Untersuchungen bestätigen?

Wir haben 510 auslandsaktive Schweizer Unternehmen, überwiegend KMU, befragt, welche Massnahmen sie zur Korruptionsprävention einsetzen und wie sie die Wirksamkeit dieser Massnahmen bewerten. Dabei hat sich gezeigt, dass die Unternehmen die Wirksamkeit generell als sehr hoch einschätzen. Wir haben dann mithilfe von multivariaten statistischen Verfahren versucht, zu überprüfen, ob Unternehmen, die Präventionsmassnahmen einsetzen, weniger von Korruption betroffen oder weniger involviert sind. Wir haben also versucht, die Selbsteinschätzung der Unternehmen mithilfe eines objektiven Masses abzustützen. Zumindest mit den Daten, die uns vorliegen, ist uns dies jedoch nicht gelungen. Das heisst, auch hier finden wir etwas Widersprüchliches: Einerseits ist die Selbsteinschätzung bezüglich der Wirksamkeit der Präventionsmassnahmen sehr positiv, andererseits ist eine objektive Überprüfung, ob die Massnahmen tatsächlich auch wirksam sind, nicht gelungen. Die einzige Massnahme, bei der wir einen positiven Effekt feststellen konnten, ist der sogenannte «Tone from the Top», also dass sich die Unternehmensleitung ganz klar und deutlich gegen Korruption ausspricht.

Was sind die Auslöser dieser Fehleinschätzung der Unternehmen?

Diese Fehleinschätzung ist wahrscheinlich psychologischer Natur. Man glaubt ja häufig, dass eine schlimme Sache immer nur die anderen betrifft und nie einen selbst. Bis es einen dann doch selbst trifft. Diese vermeintliche Sicherheit ist zum Teil auch ein Mechanismus, um sich zu schützen und handlungsfähig zu bleiben. Wenn zum Beispiel eine Person immer nur an die möglichen Gefahren im Strassenverkehr denkt, würde sie sich, um sich zu schützen, zu Hause einschliessen und nicht mehr auf die Strasse gehen. Dabei ist es so, dass mehr tödliche Unfälle in den eigenen vier Wänden passieren als auf der Strasse. Aus diesem Grund wiegen sich auch Unternehmen in Punkto Wirtschaftskriminalität zum Teil in einer vermeintlichen Sicherheit. Da es vielfach so ist, dass objektiv eher unbedeutende Risiken überschätzt und dafür andere Risiken eher unterschätzt werden.

Gemäss der KPMG-Studie liegt der finanzielle Schaden bei den von Wirtschaftskriminalität betroffenen Unternehmen in der Schweiz bei durchschnittlich rund 300 000 Euro. Halten Sie diese Grössenordnung für realistisch?

Verifizieren kann ich diese Zahl nicht, da wir dazu keine eigenen Daten erhoben haben. Ich denke jedoch, dass sich die finanziellen Schäden durchaus in dieser Grössenordnung bewegen. Es kommt aber auch drauf an, was man da reinrechnet. Bei einem Korruptionsfall sieht man das zum Beispiel sehr schön. Da gibt es zum einen die Gelder, die für die Korruptionszahlungen ausgegeben wurden, das ist der erste Posten. Der nächste Posten sind die Gelder, die für Strafzahlungen aufgewendet werden müssen. Dazu kommen dann noch die Kosten für Anwälte, Wirtschaftsprüfer, usw. sowie den Arbeitsausfall, der dadurch entsteht, dass sich Geschäftsleitung und Mitarbeitende mit dem Korruptionsfall beschäftigen müssen und sich nicht um andere wichtige Geschäftsvorgänge kümmern können. Darüber hinaus erleidet das Un­ternehmen noch einen Imageverlust. Manche dieser Zahlen kann man eher erheben und quantifizieren und andere Aspekte sind eher immaterieller Natur und daher nur schwer zu beziffern. Wenn ein Unternehmen zum Beispiel aufgrund eines Korruptionsskandals im Beliebtheitsranking von Hochschulabsolventen zurückfällt, dann bewerben sich vielleicht nicht mehr die besten Ingenieurabsolventen bei diesem Unternehmen. Ein innovatives Unternehmen ist jedoch darauf angewiesen, für die besten Köpfe attraktiv zu sein. Kommen deshalb nur zwei oder drei Ingenieure nicht zu dem Unternehmen, die in ein paar Jahren die Innovation für ein Million-Dollar-Business entwickelt hätten, dann ist das ein Schaden, der dem Unternehmen entsteht. Diesen kann man jedoch kaum quantifizieren.

Die Studie zeigt zudem, dass von den befragten Unternehmen 64 Prozent der wirtschaftskriminellen Handlungen durch Hinweise von internen Mitarbeitern aufgedeckt wurden. Warum wird nicht mehr auf Whistleblowing-Systeme gesetzt?

Ich denke, das hat zum einen kulturelle Gründe. Whistleblowing, diesen Anglizismus verstehen zunächst zwar vielleicht die wenigsten. Übersetzt heisst das Wort ja schlicht «verpfeifen». Das Wort «verpfeifen» ist im deutschen Sprachgebrauch negativ konnotiert. Da schwingen direkt Assoziationen wie verraten, anschwärzen oder denunzieren mit. Aus historischen Gründen dürfte dies in Deutschland noch stärker ausgeprägt sein als in der Schweiz. Man kann aber auch für die Schweiz feststellen, dass der Begriff «verpfeifen» sehr negativ behaftet ist. Es gibt deshalb auch immer mehr Leute, die nicht von Whistleblowing sprechen, sondern von Speak up, also von einer Kultur, in der man Probleme und Missstände offen ansprechen kann. Wir haben mit Unternehmen gesprochen, die sagen, sie pflegten eine solche offene Unternehmenskultur, in der jeder Missstände offen ansprechen könne. Die befürchten, «wenn wir jetzt ein Whistle­blowing-System einführen, wo man anonym etwas melden kann, dann widerspricht und untergräbt das unsere Kultur der offenen Kommunikation». Die Begründung ist dann, dass man eigentlich nicht will, dass die Leute die Themen anonym ansprechen, sondern dass ein offener und vertrauensvoller Umgang ge­-pflegt wird. Ein weiterer Grund sind Ängste vor missbräuchlichen Anschwärzungen, in denen jemand grundlos anonym behauptet, jemand sei korrupt, besteche oder stecke sich etwas in die eigene Tasche. Die Angst ist, dass jemand aus niederen Beweggründen mit Schmutz wirft und irgendetwas immer hängen bleibt, selbst wenn sich die Anschuldigungen am Schluss als haltlos herausstellen.

Das Interview mit Prof. Dr. Christian Hauser wird in der nächsten Ausgabe 9 / 2014 zum Thema Whistleblowing fortgesetzt.

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