Im Unterschied zu anderen Branchen hat es die Konsumgüterindustrie jetzt mit zwei wesentlichen Herausforderungen gleichzeitig zu tun. Zum einen brechen ganze Geschäftsbereiche (zum Beispiel der Foodservice oder der Export) ein, zum anderen steigen aufgrund von Hamsterkäufen die Absätze mit bestimmten Sortimenten (zum Beispiel Konserven, Nudeln oder Hygienepapieren) oder in bestimmten Vertriebsschienen wie dem Lebensmitteleinzelhandel (LEH) oder auch dem E-Commerce deutlich an.
Das nachfolgende Sofortprogramm zeigt, welche Massnahmen das Supply Chain Management (SCM) in dieser herausfordernden Situation unmittelbar prüfen und durchführen sollte:
Prozesse hinterfragen
Sollten Sales & Operations Planning (S&OP)-Prozesse und S&OP-Meeting noch nicht etabliert sein, bietet eine Krisensituation einen Anlass dies gemeinsam mit den Key-Stakeholdern kurzfristig nachzuholen, da alle Beteiligte unmittelbare Profiteure der Einführung von S&OP sein werden. In diesem Fall können über eine zielgerichtete und pragmatische Aufbereitung bestehender Daten und Reports mit relativ kleinem Aufwand bereits ein erheblicher Effekt auf die Flexibilität und Kommunikation im Unternehmen erzielt und Optimierungspotentiale gehoben werden.
Sind der S&OP-Prozess und das S&OP-Meeting bereits etabliert und fester Bestandteil im operativen Ablauf, sollten als Reaktion auf eine Krisensituation die bestehenden Strukturen und Zeitabläufe des S&OP-Prozesses sowie die Inhalte des S&OP Meetings auf das Wesentliche fokussiert werden. In Bezug auf den S&OP-Prozess sollten in jedem Prozessschritt die zeitlichen Intervalle sowie die Aufwandstreiber hinterfragt werden. Hierbei kann beispielweise zur Erhöhung der Agilität der Supply Chain ein monatlicher S&OP-Rhythmus auf einen temporär wöchentlichen Zyklus umgestellt werden, um auf besonders dynamische Entwicklungen kurzfristig zu reagieren.
In Bezug auf das S&OP-Meeting sollte die Standard-Agenda kritisch gewürdigt und auf die aktuelle Situation massgeschneidert angepasst werden. In diesem Zusammenhang kann es sinnvoll sein, ein sonst durchaus sinnvolles Review von Planungsqualitäten in verschiedenen Prozessstufen und Dimensionen zu verkürzen oder gar zu streichen und andererseits das Initiieren, Umsetzen und Nachhalten von Sofortmassnahmen als Reaktion auf die Krisensituation mit in das Programm aufzunehmen.
Das S&OP Meeting sollte insbesondere in Zeiten von grosser Unsicherheit als SCM-Plattform genutzt werden, um kurzfristige Sofortmassnahmen am Tisch zu beschliessen und über die Meeting-Struktur in kurzen Intervallen nachzuhalten und voranzutreiben. Ein Auszug möglicher Sofortmassnahmen, welche auch im S&OP-Meeting Berücksichtigung finden können, sind in den nächsten Punkten beschrieben.
Ergebnisse mathematischer Absatzprognosen infrage stellen
Viele Unternehmen der Konsumgüterindustrie setzen IT-gestützte mathematische Prognoseverfahren ein. Die Tools erkennen Muster, die in den Absatzverläufen einzelner Artikel oder Artikelgruppen in der Vergangenheit aufgetreten sind, zum Beispiel einen Trend, einen Lebenszyklus oder eine Saisonalität, und schreiben diese Muster in die Zukunft fort. In Umbruchzeiten wie diesen sorgen allerdings sogenannte Strukturbrüche dafür, dass die Vergangenheit nicht mehr einfach fortgeschrieben werden kann. Mit modernen Algorithmen ist eine gute Prognosesoftware zwar in der Lage, auch mit Strukturbrüchen umzugehen, allerdings müssen diese von der Software auch als solche erkannt werden.
In der Konsequenz sollten Unternehmen daher die Ergebnisse mathematischer Prognosen in der aktuellen Situation kritisch hinterfragen und versuchen herauszufinden, ob Strukturbrüche als solche erkannt und verarbeitet wurden. Sollte dies nicht der Fall ein, ist in den meisten Fällen eine temporär händische Absatzplanung durch den Vertrieb vorzuziehen.
Bestandsmanagement bei Roh- Hilfs- und Betriebsstoffen überprüfen
Das Bestandsmanagement von Roh- Hilfs- und Betriebsstoffen (RHB) sollte hinsichtlich der Krisensituation unmittelbar überprüft und adaptiert werden. In diesem Zusammenhang gilt es vormals vorgenommene Klassifizierungslogiken zu überarbeiten und insbesondere hieraus abgeleitete Massnahmen und Sicherheitsbestände kurzfristig auf den Prüfstand zu stellen.
Die klassische ABC-Analyse sollte nach der Verbrauchsemenge überarbeitet werden und um eine zusätzliche sinnvolle Dimension erweitert werden. Bei der vielfach angewandten Dimension der Vergangenheitsverbräuche sollte eine Überprüfung stattfinden, ob vergangene Verbrauchsmengen noch zuverlässig herangezogen werden können oder ob die Klassifizierung besser auf Planverbrauchsmengen umgestellt wird. Dies ist notwendig, wenn sich die Nachfrage nicht nur prozentual, sondern auch ungleichmässig über das Sortiment verändert.
Eine zweite XYZ-Dimension kann beispielsweise nach Lieferfähigkeit der Materialien und entsprechenden Lieferanten geclustert werden, wobei ein X-Artikel sich durch eine hohe Lieferfähigkeit und ein Z-Artikel sich andererseits durch eine niedrige Lieferfähigkeit auszeichnet. Die Lieferfähigkeit sollte hierbei einmal die Termintreue sowie die Mengentreue berücksichtigen. Im Ergebnis der zweidimensionalen Bestandsklassifizierung ergeben sich neun Kategorien, für welche sich auf die Krisensituation angepasste, unterschiedliche Bestandsstrategien und Massnahmen sowie entsprechende Sicherheitsbestände ableiten lassen. Im Folgenden sind beispielhaft für drei der neun Kategorien Massnahmen beschrieben: