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Internationalisierung

Niedrige Produktionskosten: China bleibt kompetitiv

Der gewaltige Anstieg von Chinas Mittelschicht macht das Land zwar als Absatzmarkt zunehmend interessant, gleichzeitig spricht die rasante Erhöhung der Löhne scheinbar gegen China als Produktionsstandort. Dem Land daher eine sinkende Konkurrenzfähigkeit zu prophezeien, wäre jedoch ein Fehler.
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Auf dem Kongress der Kommunistischen Partei versprachen die neuen Führer Chinas kürzlich, die Durchschnittsgehälter bis 2020 zu verdoppeln. Anlass genug, sich mit drei gängigen, aber falschen Wahrnehmungen auseinanderzusetzen: Erstens meinen viele Beobachter, dass das verlangsamte Wachstum China im Vergleich zu anderen Entwicklungsländern weniger attraktiv werden lässt. Zweitens, dass die stark steigenden Löhne mit dem Ende der Billigproduktion einhergehen. Und drittens, dass sich China nicht zur wissenschaftlichen und technologischen Macht entwickelt.

Die Explosion der Mittelschicht, die von 2010 bis 2020 um das Zehn- bis Fünfzehnfache wachsen soll, die Erhöhung der Mindestlöhne um das Drei- bis Vierfache im laufenden Jahrzehnt und die Ein-Kind-Politik, durch die künftig im Vergleich weniger junge Arbeitskräfte zur Verfügung stehen werden – das sind für viele Beobachter die Hauptgründe dafür, dass China künftig kein konkurrenzfähiges Niedriglohnland mehr sein wird. Diese Einschätzung geht Hand in Hand mit Slogans vom «Ende der niedrigen Produktionskosten» und vom «Austrocknen des unendlichen Arbeiterpools».

Gerade für Produzenten aus dem Westen erscheint China also vor allem als stark wachsender Absatzmarkt mit steigender Kaufkraft interessant. Als kommende Konkurrenz werden die in China angesiedelten Hersteller weniger gesehen. Aber: Entgegen anderer Analysen wird der Höhepunkt von Chinas Leistungsfähigkeit als Produzent erst in vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, erreicht sein.

Die Fälle von ausländischen Firmen, die ihre Produktion aus China abziehen, sind zu vernachlässigen. Nur in denjenigen Branchen, in denen die Automation die wenig qualifizierte Arbeit nicht ersetzen kann, wird die Produktion vermehrt in andere Länder verlagert. Ein Beispiel ist die Herstellung von Kleidung oder von Plüschtieren, wo die Näharbeiten von Hand gemacht werden. Ebenso kommt es in Umwelt verschmutzenden Industrien zur Abwanderung aus China, weil das Reich der Mitte damit beginnt, internationale Standards durchzusetzen, während andere Entwicklungsländer noch keine nachhaltigen Rahmen geschaffen haben.

Natürlich sind die steigenden Lohnkosten und die Trends, die damit zusammenhängen, Fakten. Aber viele Analysten nehmen einige für China spezifische Faktoren nicht in Betracht, wenn sie dem Land eine sinkende Konkurrenzfähigkeit bescheinigen.

Der China-Faktor

Der wichtigste und auch am meisten besprochene «China-Faktor» in Bezug auf die Lohn- und Produktionskosten ist die riesige Bevölkerung. Als China kürzlich zur zweitgrössten Volkswirtschaft (BIP) der Welt aufstieg, ging das vielerorts mit der Auffassung einher, dass China mittlerweile ein entwickeltes Land sei. Es stimmt, dass Teile Chinas sehr weit entwickelt sind und das Land den eigenen Fortschritt selbst finanzieren kann. Aber viele vergessen, dass im Jahr 2010 immer noch 38 Prozent der chinesischen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft tätig und mehr als 50 Prozent der Bevölkerung ländlich waren.

Bis zum Jahr 2020 soll der Landwirtschaftsanteil in der chinesischen Arbeiterschaft auf 24 Prozent sinken. 142 Millionen Menschen werden bis dahin vom Land in die Städte ziehen. Das ist ein riesiger Pool von Job suchenden, wenig qualifizierten Arbeitern – 1,6mal so gross wie die Bevölkerung Vietnams. Bis 2030 werden geschätzte 235 Millionen Menschen – das ist fast die heutige Bevölkerung Indonesiens – auf der Suche nach besseren Chancen in die urbanen Zentren migrieren.

Ein weiterer Faktor, den man nicht ausser Acht lassen darf, ist die im Top-down-Prinzip gemanagte chinesische Wirtschaft. Die Lohn-Erhöhungen kamen nicht zustande, weil die Arbeiterschaft schrumpfte, sondern weil die Regierung sie so beschlossen hat: 13 Prozent pro Jahr bis 2015, das macht insgesamt 84 Prozent in fünf Jahren. Die traditionelle Überlegung mit Angebot und Nachfrage lässt sich so nicht auf China übertragen.

Was aus westlicher Sicht als Arbeitskräftemangel eingestuft werden könnte, ist in Wirklichkeit ein von der Regierung vorangetriebenes Phänomen.

Die Anhebung der Mindestgehälter im ganzen Land ist ein kraftvolles Werkzeug, mit dem die Regierung «vier Vögel mit einem Stein erschlägt»: Aufrechterhaltung der Urbanisierung, Stärkung des Inlandsverbrauchs durch höhere Einkommen, Reduzierung von sozialen Ungleichheiten durch die Entwicklung des Binnenlandes und die Weiterentwicklung der Wirtschaft und Technologie.

Unternehmen, die auf kostengünstige Fliessbandarbeiter angewiesen sind, können ihre Produktion also ins chinesische Binnenland verlagern, wo die Mindestlöhne halb so hoch sind wie in den Küstenregionen, in andere Niedriglohnländer abwandern oder auf Automation setzen. Die meisten Produzenten setzen schnellstmöglich auf Automation. Durch die sehr kostengünstigen Arbeitskräfte war es in China bislang nicht nötig, die Produktivität durch Kostensenkungen und Optimierungen der Lieferkette zu steigern. Deswegen ist Chinas Fertigungswirtschaft heute auch weit davon entfernt, optimal zu funktionieren.

Das Verbesserungspotenzial für eine gestärkte Produktivität durch besseres Management und neue Technologien ist gewaltig. Daher ist es nur logisch, dass die Industrie für Automationstechnik boomt. Es wird erwartet, dass China sowohl Südkorea als auch Japan überholt und schon 2013 der grösste Robotertechnik-Markt der Welt wird.

Auch wenn der Verbraucherpreisindex, ein Indikator für die Inflation, kontinuierlich steigt, nimmt der Erzeugerpreisindex durch Automation und Verbesserungen in der Produktion sogar ab. So haben die chinesischen Produzenten ihre Erzeugnisse im Oktober 2012 um 2,8 Prozent günstiger verkauft als im Vorjahr. Es wird zwar viel über steigende Produktionskosten in China gesprochen, die Statistik zeigt aber ganz klar: Die Kosten sind nur um 0,8 Prozent höher als im November 2010. Im Vergleich zu 1996 sind die Kosten um 22,3 Prozent angestiegen, während sich die Gehälter im selben Zeitraum um 400 Prozent gesteigert haben.

Der Übergang von einer arbeitsintensiven zu einer intelligenten, automatisierten Produktion hat gerade erst begonnen. Die Kombination von Chinas massiver Urbanisierung und der zunehmenden Automatisierung führt auch zu einem grossen Pool an wenig qualifizierten Arbeitskräften, die zur Verfügung stehen. Deswegen wird es noch in vielen Jahren möglich sein, zu konkurrenzfähigen Preisen produzieren zu können.

Dazu kommt, dass Chinas Inflation weit niedriger ist als die von anderen Niedriglohnländern. Seit 2010 wuchsen die Verbraucherpreise in Vietnam zwei- bis dreimal schneller als in China, die indonesischen um 1,5 bis zweimal schneller. In den kommenden ein bis zwei Dekaden könnte nur Indien mit seinen riesigen Bevölkerungen zu einem Gegner auf Augenhöhe werden, wenn es um Billigproduktion geht. Allerdings nur, wenn die Produktionskosten zum Grossteil von Lohnkosten abhängen. Und das ist, wie die Geschichte gezeigt hat, nur bedingt wahr. Fortschritte bei Materialien, Forschung und Entwicklung sind nicht zu unterschätzen.

Chinas langfristige Wettbewerbsfähigkeit wird nicht von den Lohnkosten abhängen, sondern von Chinas Fähigkeit, schneller auf moderne Produktionstechniken und Automation umzustellen, als der Lebensstandard der Bevölkerung steigt. Genau deswegen setzt die Regierung alles daran, Wissenschaft, Technologie und Bildung zu forcieren. Der Erfolg dieser Programme wird darüber entscheiden, ob China das starke Wachstum aufrechterhalten und Lebensstandards wie in der westlichen Welt erreichen kann. «

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