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Internationalisierung

Nearshoring in Ostmitteleuropa

In Zeiten zunehmender geopolitischer Spannungen setzen Unternehmen vermehrt auf Standorte in Ostmitteleuropa für die Ansiedlung von Produktionen und Dienstleistungs­zentren. Gerade Polen sticht hier als wichtigster Standort für Shared Services und Business Process Outs­ourcing hervor.
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Wie verletzlich globalisierte Wertketten geworden sind, war in den letzten Jahren deutlich zu beobachten: Lieferausfälle und Rohmaterialengpässe, Extremwettersituationen, Pandemie, aber auch geopolitische Spannungen und Kriege haben gezeigt, dass die Auslagerung von Produktionen in ferne Gegenden mit grossen Risiken verbunden ist. In der Folge spielen zahlreiche Unternehmen mit dem ­Gedanken, ihre Standorte wieder zurückzuholen. Oftmals setzen sie dabei auf ­Nearshoring-Lösungen, wählen also Lokalitäten im benachbarten oder zumindest näheren Ausland. 

Motive zur Auslagerung

Die Abkehr vom klassischen Offshoring hat weitere zahlreiche Gründe. Zu of­fensichtlich waren die neu auftretenden Qualitäts- und Reputationsprobleme, aber auch wachsende Bedenken in Bezug auf die Nachhaltigkeit beim Transport über grosse Distanzen oder bei den Arbeitsbedingungen in kaum kontrollierten Produktionsbetrieben. Schliesslich stellten sich auch praktische Herausforde­rungen wie etwa unterschiedliche Zeit­zonen oder lange Anreisen für persönliche Treffen. Und nicht zuletzt kamen rechtliche Probleme hinzu, etwa beim Schutz von geistigem Eigentum oder im Umgang mit schützenswerten Daten. Ging es bei früheren Entscheidungen zur Auslagerung der Produktion insbesondere um Kostenvorteile in fernöstlichen Ländern, so verschieben sich die Motive beim Nearshoring. Unternehmen setzen etwa auf Standorte in Ostmitteleuropa, die zwar auch weiterhin tiefere Lohn­kosten bieten. Diese rechtfertigen aber den Aufbau neuer Organisationen kaum mehr. Vielmehr spricht für Länder wie ­Polen oder Tschechien die weiterhin hohe Verfügbarkeit von hervorragend ausgebildeten, jungen und motivierten Arbeitskräften. Unternehmen können damit den Fachkräftemangel im eigenen Land zumindest ein Stück weit kompensieren. 

Standortvorteile 

Mit der Verlagerung nach Ostmitteleuropa geht aber auch eine Neudefinition der Unternehmensorganisation einher. Im Zentrum stehen nun nicht mehr nur Produktionsschritte, sondern insbesondere die internen wie auch externen Dienstleistungsprozesse. Handelte es sich zu Beginn noch um reine Routine-Tätigkeiten im Backoffice wie etwa die Lohnabrechnungen oder Datenerfassung, sind es heute oftmals hoch spezialisierte Ak­tivitäten in der Informatik, der Strategieentwicklung oder gar der Forschung und Entwicklung. Diese Aufgaben setzen vertieftes Wissen und eine entsprechende Ausbildung voraus, was gerade in Polen mit einer hervorragenden Bildungslandschaft in zahlreichen Städten gut gewährleistet ist: Alleine in Warschau studiert fast eine Viertelmillion Menschen, im ganzen Land schliessen jährlich rund 80 000 junge Menschen ein Studium in ­einer technischen Disziplin ab (und von diesen wiederum sind fast die Hälfte Frauen, was europäische Spitze ist). 

Überhaupt spricht vieles für die Standorte in Polen und weiteren Ländern Ostmitteleuropas. Die EU-Mitgliedschaft ­garantiert eine Rechtssicherheit, was in ­Zeiten von erratischer transatlantischer Politik noch mehr an Bedeutung gewinnen wird. Zudem profitieren die Unternehmen von einem hohen Mass an Digitalisierung und weiterhin frei verfüg­baren Büroflächen in den städtischen Zentren. Die Lohnkosten sind inzwischen fast am Ende der Faktoren, die die At­traktivität solcher Länder ausmacht. 

Insbesondere Polen hat sich in den letzten Jahren zu einem wahren Nearshoring-Hub in Europa entwickelt: Rund 2000 ­solcher Dienstleistungszentren wurden geschaffen, in denen inzwischen eine halbe Million Menschen arbeitet. Diese verfügen typischerweise über hervor­ragende Fremdsprachenkenntnisse, was die Kommunikation mit westeuropäischen Unternehmen erleichtert. Nicht umsonst rangiert das Land bei Umfragen zur Sprachkompetenz in Englisch verlässlich auf den vordersten Rängen, zumeist deutlich vor der Schweiz. Und obwohl Near­shoring auch über eine gewisse Distanz hinweg organisiert ist, profitieren die Mitarbeitenden von einer grossen kul­turellen Nähe und mentalitätsbedingten Anpassungsfähigkeit.

Damit hat sich Polen aber auch zum eigentlichen Wachstumsmotor der EU gemausert: Nur gerade während des Pan­demiejahres 2020 liess das Bruttoin­landprodukt etwas nach, allerdings am zweitwenigsten in Europa. Über die letzten drei Jahrzehnte hinweg hat die inzwischen sechstgrösste Volkswirtschaft der EU jedoch das zweitgrösste Wachstum aufgewiesen – weltweit, wohlgemerkt. Und auch für 2025 sieht der Internationale Währungsfonds Polen mit über drei Prozent deutlich über dem EU-Schnitt. 

Chancen für Schweizer KMU

Von diesen Entwicklungen profitieren inzwischen zahlreiche Schweizer Unter­nehmen. Alleine in Polen haben diese in den letzten Jahren rund 90 000 Jobs geschaffen, was schon fast dem ganzen inländischen Bankensektor entspricht. An der Spitze finden sich zwar auch weiterhin noch Produktionsbetriebe. Diese haben aber vor allem ihre internen Dienstleistungen in Shared Services Center verlagert, wo Tausende von jungen, hoch qualifi­zierten Menschen Prozesse auf Stufe der ­Unternehmensführung abwickeln. Damit hat Polen auch in Bezug auf das Handels­vo­lumen traditionelle Partner der Schweiz wie Indien oder Südkorea überholt. 

Für KMU bieten sich mit Nearshoring zahlreiche Chancen, die allerdings tiefgreifende Veränderungen in der Unternehmensorganisation mit sich bringen. Sind die meisten Unternehmen zu klein, um eigene Shared Services Center in Polen aufzubauen, müssen sie sich mit klassischem Business Process Outsourcing auseinandersetzen. Hierbei definieren sie ganze Prozessgruppen, die als Pakete an externe Dienstleister übergeben werden können. Anders als früher müssen dies aber nicht mehr zwingend jene Aktivi­täten sein, die in hohem Volumen und mit geringen Anforderungen an die Mitarbeitenden abgewickelt werden. 

Immer öfters bietet sich für die KMU die Möglichkeit, mit dem BPO auch Zugang zu spezialisiertem Wissen zu erhalten. Gerade im Umfeld technologischer Entwicklungen, wie etwa aktuell bei der Nutzung künstlicher Intelligenz für das eigene Geschäftsmodell, ergeben sich hier weitreichende Möglichkeiten aus der Zusammenarbeit mit führenden Anbietern in Ostmitteleuropa. 

Prozesse neu gestalten

Die Schwierigkeit besteht dabei nicht nur in der Ausgestaltung der Schnittstelle zwischen den Mitarbeitenden in der Schweiz und ihren ausländischen Par­tnerunternehmen. Vielmehr geht es darum, das komplette Geschäftsmodell neu zu denken und die Aktivitäten zu iden­tifizieren, die sich für ein Nearshoring überhaupt eignen. Dies wiederum setzt voraus, dass die Unternehmensführung ein Verständnis entwickelt für die Möglichkeiten von BPO und KI. Daraus ent­stehen zuweilen komplett neue Prozesse, die parallel in der Schweiz wie auch in ­Polen abgewickelt werden und nicht mehr – wie in früheren Ansätzen – sequenziell. Die Ausgestaltung solcher Prozesslandkarten gelingt meistens mit externer Unterstützung durch Beratungsunternehmen am besten. 

Dabei muss auch der kulturellen He­rausforderung genügend Beachtung geschenkt werden: So nahe die Länder Ostmitteleuropas im geografischen Sinne sind, so unterschiedlich sind die Arbeitskulturen. Ist dies im Falle eines Offshorings offensichtlich, wird dies gerade beim Nearshoring oftmals vernachlässigt. Eine erfolgreiche Umsetzung hängt aber ganz wesentlich auch davon ab, dass rechtzeitig Massnahmen umgesetzt werden, die sich der interkulturellen Zusammenarbeit annehmen. Gerade in KMU, die stärker durch einzelne Personen und ihre Mentalität geprägt sind, scheint dies von zentraler Bedeutung. 

Vom Near- zum Friendshoring

Die anhaltende Verschärfung der To­nalität in der amerikanischen Zollpolitik, die kritische Situation der Menschenrechte in China, aber auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine haben schliesslich die Unternehmen bewogen, nicht mehr nur nach nah und fern zu unterscheiden, sondern sich zunehmend die Frage zu stellen, welchen Ländern überhaupt noch zu trauen sein wird.

Daraus entsteht aktuell die Weiterentwicklung des Nearshorings hin zu einem Friendshoring: Dienstleistungen werden da erbracht und Produkte dort erzeugt, wo gemeinsame Werte geteilt werden. Gerade für die Länder Ostmitteleuropas ist dies eine riesige Chance. Für Schweizer Unternehmen wiederum ergibt sich die Möglichkeit, mit verlässlichen Partnern zu weiterhin attraktiven Bedingungen zusammenzuarbeiten.

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